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14.04.2016, 18:26 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte

Wie alt ist Isar-Athen?

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München, Glyptothek, 2009

Um 1810 wird es Mode in ambitionierten deutschen Städten, sich mit griechischen Federn zu schmücken und das heimische Gewässer nach Athen zu tragen: Berlin wird Spree-Athen, Göttingen Leine-Athen, Leipzig Pleisse-Athen, und Weimar Ilm-Athen. Sehr originell war das nicht, denn schon 1664 wird die Universitätsstadt Wittenberg als Elb-Athen bezeichnet, und der Bischof von Grasse, Antoine Godeau (1605-1872) spricht in seiner 1698 gedruckten und 1782 ins Deutsche übersetzten Histoire de l'Eglise vom „baierischen Athen“. Doch bevor die Brust der Isar-Athener allzu lokalpatriotisch schwillt – gemeint war damit nicht München, sondern die Universitätsstadt Ingolstadt.

Kurz bevor das Kompositum „Isar-Athen“ gebräuchlich wurde, hatte Heinrich Heine König Ludwigs neues bayerisches Athen süffisant mit einer anderen Art Gewässer liiert: In einem Brief an den Verleger Cotta vom 14. März 1828 spricht er von „unserem aufblühenden Bier-Athen“. Eine sachkundige Quelle aus dem Jahr 1873 verrät, wie nahe sich das Münchner Bier und die Isar doch waren: „Die Münchener Brauereien wenden Isarwasser an“.

Klaus Lehmbruck vermutet in seinem Aufsatz „ISAR-ATHEN. Zur Geschichte und Bedeutung eines Epitheton ornans“ von 2008, dass das schmückende Beiwort erstmals 1869 in Johann Nepomuk Sepps Biographie über Ludwig I. dokumentiert ist. Doch ganz so lange hat es nicht gedauert, bis das prestigeträchtige Wortbildungsmuster die reißende Isar erreichte.

So findet es sich schon 1837 in Ludwig Bechsteins Wanderungen durch Thüringen in der Schar der Konkurrenten:

„Es würde euch für Ignoranten erklären heissen,“ sprach er weiter fort: „wollte ich euch eine Nomenclatur der grossen Geister vorführen, die einst Weimar den schmeichelnden Namen des Ilm-Athens durch ihre Anwesenheit erwarben, jenes wohlfeile Epitheton, mit welchem die guten Deutschen äusserst freigebig sind, da sie ein Spree-Athen, ein Elb-Athen, ein Isar-Athen, ein Pleisse-Athen und so weiter haben, wo aber leider unter wenigen Atheniensern stets viele Abderiten umherwandeln.“

Im gleichen Jahr lässt sich das Kompositum in Band 4 von Johann Andreas Schmellers Bayerischem Wörterbuch entdecken, allerdings in Kombination mit einem weiteren, ziemlich verblüffenden Epitheton, das die Münchner nicht unbedingt als „ornans“ klassifiziert haben dürften:

Auch das löbliche Isar-Athen muß sich mitunter den Titel Groß-Weilheim gefallen lassen.

Nichts gegen Weilheim, aber Ammer-Athen wäre nun doch etwas hochtrabend für die heimliche Hauptstadt des Pfaffenwinkels. Der anonyme Verfasser der Ansichten aus der Cavalierperspektive im Jahr 1835 macht unmissverständlich klar, wessen Verdienst die grandiose „Umschaffung“ Münchens war:

Schon die Ludwigsstraße, die schönste Straße, welche Deutschland, vielleicht Europa, wenigstens nach meinem Geschmack aufzuweisen hat, zeigt, daß der jetzige König von Baiern einst den Ruf eines Cosmus von Medici erhalten wird, denn er hat die flache Bierstadt München in ein Florenz, in ein Athen an der Isar umgeschaffen.

Isar-Athen, Jugendstil-Zeichnung von Max Hagen. Aus: Die Jugend, Jg. 8 (1903), Heft 31, S. 569 © Universitätsbibliothek Heidelberg

Kein Wunder also, dass sich auch Philosophen dort einfinden: Der Theologe Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) lässt uns in seinen Entdeckungen über die Entdeckungen unserer neuesten Philosophen 1835 wissen:

Hegel ward Souverain im Reiche der Uebervernünftigen und der arme Schelling, ein heruntergekommener, mediatisierter Philosoph, wandelte trübselig umher unter andern Mediatisierten im Isarathen zu München. Da sah ich ihn einst und hätte schier Thränen vergießen können über den jammervollen Anblick.

Ein Auszug aus einem Brief vom Dezember 1829 in der Januar-Februar-März-Nummer 1830 der Damen-Zeitung: ein Morgenblatt für die elegante Welt, der sich mit dem Ballettmeister Friedrich Horschelt (1793-1876) und seiner Gattin befasst, ist bis dato der früheste Beleg für den Namen Isar-Athen:

Da mich meine Reise im nächsten Frühjahr nach Ihrem Isar-Athen, oder besser Florenz führen wird, so freu ich mich, die Leistungen des berühmten Ballettmeisters und die Kunst seiner reizenden Gattin mit mehrerer Muße bewundern zu können.

Man könnte geradezu von Vorschusslorbeeren für Isar-Athen sprechen, wenn man bedenkt, dass 1829 erst die Grundsteinlegung der Ludwigskirche stattfand und 1830 die Glyptothek eröffnet wurde. Neben Isar-Athen hat Isar-Florenz immer nur das Dasein eines Mauerblümchens gefristet. Die ersten Isar-Athener aber bevölkern schon 1834 die Zeitung für die elegante Welt Berlin:

Vor nicht langer Zeit hat sich eine seltsame Historie zugetragen; ich will sie Ihnen erzählen, damit Sie eine Probe erhalten, einerseits von dem Geiste des einzigen Münchner gelehrten Blattes; andererseits aber von dem Scharfsinne und schnellen Geiste der Isar-Athener.

Und 14 Jahre später schreibt die Deutsche Allgemeine Zeitung in Berlin:

[...] so hat König Ludwig nach einer glorreichen Regierung von 23 Jahren sein Land hinterlassen, und wie vortheilhaft und veredelnd der Anblick classischer griechischer Formen auf den Geist der Isar-Athener gewirkt, das beweist das „Octoberfest“ des plündernden und zerstörenden Münchner Pöbels von Civil und Militair [...]

Der Sarkasmus der Spree-Athener ist nicht zu überhören, so laut die Isar auch rauschen mag. Bleibt noch anzumerken, dass Isar-Athen es schon 1869 zu einem eigenen Adjektiv gebracht hat: Die Dramaturgische Wochenschrift. Reformorgan und Archiv für das gesammte deutsche Bühnenwesen spricht in Vorwegnahme heutiger Verkehrsverhältnisse vom „Isar-Athenischen Ameisenhaufen“. Und es kribbelt und wibbelt weiter.