Pia-Elisabeth Leuschner über ein Gedicht von Richard Dove

Die 138. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmete sich dem Schwerpunktthema Ankommen. Pia-Elisabeth Leuschner, Mitarbeiterin des Lyrik Kabinetts in München, schreibt darin über ein Gedicht von Richard Dove.

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Strand bei Neapel, Ahnung des Ursprungs
 
 
The sun is warm, the sky is clear,
The  waves are dancing fast and bright ...
(Percy Bysshe Shelley, „Naples - December 1818“)
 
 
 
Jäh von den Fischerbooten blitzt's, Azur.
Der Winter, lang und streng, die Folie nur
Für diese Wiederkunft bei den Sirenen.
Als goldene Motten zeigt sich die Natur.
Süß wie das Ischtar-Tor den Dürstenden,
Blauer als jedes Blau, nach der Tortur.
Wie den Nomaden die mitwandernden Sterne,
Des Umherirrens stete Grundstruktur.
Der finsterste Asket in feuchter Höhle
Erwacht, erkennt den innren Epikur.
Frühlingsgefühle bei den Unterdrückten,
Denn nicht mehr lange währt die Diktatur.
Die morschen Satzungen, Gesetze, Sätze,
Gesetzt doch nicht gelebt, Makulatur.
Die Zeit erweist sich als geräumiger Kreislauf.
Durch so viel Wiederholung strahlt das Ur.
 

Aus: Richard Dove, Die zwei Jahreszeiten, Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag 2016, S. 35.

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Die deutsche Sprache darf so dankbar sein, dass Richard Dove in ihr angekommen ist, dass sie dem gebürtigen Briten hier durchaus einige - verkürzende - Superlative zollen darf: Er ist nicht nur einer der breitest belesenen, form-versiertesten und (auch in seiner Essayistik) wortmächtigsten deutschen Gegenwartslyriker, sondern zudem einer, der mit einer ethischen Grundhaltung und Reflexion des eigenen Schreibens am schonungslosesten ernst macht.

So kennt Doves jüngster Gedichtband, der Stefan Georges Jahr der Seele in die »condition postmoderne« weiterdenkt, vor allem zwei Jahreszeiten: Den Winter unerschöpflich vielfältigen Leidens, das Dove bei Mensch und Tier, in Religion, Kunst und Mythologie und vor allem in globalen Zusammenhängen von Krieg und wirtschaftlicher Ausbeutung tiefensensibel wahrnimmt; und den Frühling als Inbegriff neuen Hoffens - nicht zuletzt auf eine Selbsttranszendenz des Subjekts in höhere Zusammenhänge, für die Dove Vorbilder in der östlichen Philosophie des Zen findet.

Auch das obige Gedicht weiß noch tief um das Leid: Der englische Romantiker Percy Bysshe Shelley - mit seiner Dove geistesverwandten, protosozialistischen Ethik - ertrank als 29-Jähriger im Tyrrhenischen Meer, und das Motto zitiert ihn mit einem Text depressivster Todessehnsucht. Zugleich birst und leuchtet aus Doves Versen die überwältigende, alle inneren Fesseln und Vereisungen lösende Schöne eines südlichen Frühlingstages. Dass sie allerdings eine Wiederholung ist, also die Winter-Qual voraussetzt, verwandelt das Gedicht in seine Form hinein: das (ursprünglich arabische) Ghasel, bei dem jeder zweite Vers reimt.

In dem hier eingesetzten Reim - und vor allem in »Die morschen Satzungen, Gesetze, Sätze / [...] Makulatur« - klingt zudem eine berühmte romantische Utopie nach: »Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / sind Schlüssel aller Kreaturen«, fliege vor einem geheimen Wort alles leidvolle Verfehlen fort (Novalis). Dove freilich misstraut jeder solchen Teleo- als Eschatologie; für ihn bleibt rast- und heilloses Irren die Grundstruktur des Seins. Doch auch darin klingt etwas Linderndes: die Zyklik eines immer neu erahnbaren Anfangs. Fassbar freilich ist er nie - wie auch seine hier gewählte Chiffre als eigenständiges deutsches Wort in dieser Bedeutung nicht existiert, sondern lediglich als Vor-Silbe: das »Ur-«, in dem lautlich auch die »Uhr«, die Zeit, mit-tickt, die uns von jedem Ursprung immer schon trennt ...

Illusionslosigkeit und unbändiges Hoffnungskeimen, Metronom-Bewusstsein und momentanes Vertrauen auf eine höhere Kreisläufigkeit - lichter und schwereloser als hier verschwistern sie sich wohl nirgends in der deutschen Gegenwartslyrik.

Richard Dove, geboren 1954 in Bath, seit 1987 in München, ist Autor von sechs Gedichtbänden, Herausgeber, Übersetzer (von Friederike Mayröcker, Reiner Kunze und viele andere ins Englische) und literarischer Essayist.