Nachruf auf Eugen Gomringer. Eine persönliche Würdigung
Am 21. August verstarb im hohen Alter von 100 Jahren Eugen Gomringer, der Begründer der
Konkreten Poesie, in seiner Wahlheimat Bamberg. Der schweizerisch-bolivianische Lyriker konnte in fünf Sprachen schreiben und begriff Dichtung, in kritischer Abgrenzung zur Nationalliteratur, stets als Vielsprachigkeit, als ein internationales Sprachgewebe. Gomringer wirkte insbesondere in Deutschland; der Region Oberfranken blieb er in besonderer Weise verbunden. Die Lyrikerin Andrea Heuser erinnert sich in dieser persönlichen Würdigung an die inspirierende Wirkung, die seine Gedichte bis heute entfalten können.
*
„unsere zeit spricht, wie jede zeit, ihre eigene sprache“
So leitet Eugen Gomringer – ganz bewusst in Kleinschreibung – sein Manifest
vom vers zur konstellation ein. Wie eigen- bzw. wie vielsprachig seine persönliche Lebenszeit war, lässt sich an seinem biographischen Werdegang ablesen; hier nur noch einmal die wichtigsten Eckpunkte:
Eugen Gomringer wurde im Januar 1925 als Sohn einer Bolivianerin und eines Schweizers in Cachuela Esperanza (Bolivien) geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern in Herrliberg (Schweiz) auf und arbeitete später als Werbetexter in Zürich sowie als Vortragsreisender, Berater der documenta, als Dozent für Theorie der Ästhetik und als Kurator. Im Jahr 2000 gründete er das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie (IKKP) im oberfränkischen Rehau. Für sein künstlerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Dem Literaturland Bayern, insbesondere der Region Oberfranken, blieb Gomringer dabei stets in besonderer Weise verbunden: 1986 übernahm er als erster Inhaber die Bamberger Poetikprofessur. Der renommierte Dichter begründete damit eine Tradition, die seither namhafte Autorinnen und Autoren jeden Sommer nach Bamberg führt, um über ihr literarisches Schaffen in der städtischen Öffentlichkeit zu reflektieren und zu diskutieren.
Konzentration, Sparsamkeit, Schweigen...
Bevor ich nun gleich auf jenes Gedicht Eugen Gomringers zu sprechen komme, das mir unvergesslich bleiben wird, möchte ich kurz, im Sinne des Dichters, einen Blick auf jene „Sprache der Zeit“ werfen, in der es entstand:
1953. Wir befinden uns im Nachkriegsdeutschland – der Zeit des Wiederaufbaus, des sich eher langsam als rasant bemerkbarmachenden „Wirtschaftswunders“ und literaturästhetisch geschaut in einer hochambivalenten Zeit der Innerlichkeit, der proklamierten „Stunde Null“, des „Kahlschlags“ einerseits sowie der schmerzhaften Reflektion der so genannten „jüngsten Vergangenheit“ seitens einzelner Autorinnen und Autoren – u.a. innerhalb der Gruppe 47 – andererseits.
Auf das aktive Beschweigen des Nationalsozialismus innerhalb der Mehrheitsgesellschaft der Fünfziger Jahre, insbesondere der eigenen Rolle darin, und der damit verbundenen Frage nach Schuld und Verantwortung, gibt es in der Literaturgeschichte die unterschiedlichsten ästhetischen Reaktionen zu verzeichnen. Die Antwort von Eugen Gomringer ist eben jene konkrete Poesie, die er zusammen mit Franz Mon, Gerhard Rühm u.a. in kritischer Abgrenzung zu der rein subjektiven Innerlichkeit, der blumigen Metaphorik der zeitgenössischen Lyrik, wie zumindest er sie wahrnahm, entwickelte.
Gegründet auf einem tiefen Unbehagen gegenüber der metaphernlastigen, lyrisch-ausschweifenden Sprache – nicht zuletzt noch mit der „Blut-und-Boden-Dichtung“ des Nationalsozialismus im Ohr – sollte nun die Verknappung von Sprache, die Konzentration und Sparsamkeit im Fokus stehen; die Fixierung auf einzelne, in sich gleichwertige Worte (daher die konsequente Kleinschreibung) sollte es der Poesie ermöglichen, neue Räume schaffen. Eine Poesie, in der es nicht länger um problematische, weil missbräuchliche, semantische Mehrdeutigkeiten ginge. Den Worten selbst sollte in ihrer Präzision, in ihrer Einfachheit und konkreten Materialität mehr Eigengewicht zukommen.
Im Resonanzraum von Theodor W. Adornos hochkontrovers diskutiertem Lyrikverdikt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, begannen einige Lyrikerinnen und Lyriker, den Prozess des Verstummens nun im Gedicht selbst nachzuzeichnen. Dies hat meiner Ansicht nach im Übrigen niemand so nachhaltig bewegend, achtsam und zugleich kunstvoll vermocht wie Paul Celan; insbesondere mit seiner Engführung und dem Gedichtband Sprachgitter. Adorno revidierte seinen Satz später, wie wir wissen, indem er einräumte, dass das perennierende Leid so viel Recht auf Ausdruck habe wie der Gemarterte zu brüllen.
„unsere zeit spricht, wie jede zeit, ihre eigene sprache“ – 1953 also verfasst Eugen Gomringer, im Sprachraum jener Zeit, sein Gedicht schweigen.
Eugen Gomringer, «schweigen», 1954. © ZVG / Eugen Gomringer
Die Lücken in der Sprache
1993. Vierzig Jahre, und damit genau eine Generation später, begegnet mir dieses Gedicht.
Ich, einundzwanzigjährig, befinde mich in einem gänzlich unpoetischen Kontext: als Studentin auf einer politikwissenschaftlichen Tagung. Ich gestehe es gleich: Von dieser Tagung weiß ich so gut wie gar nichts mehr inzwischen. Weder wo sie stattfand – ich glaube in Gummersbach – noch wer sie leitete und was genau dort meine Rolle war. Das Thema hatte im weitesten Sinne etwas mit Fragen der Adenauerpolitik zu tun (Westbindung etc.). Geredet wurde, wie es auf solchen Tagungen üblich ist, viel. Bestimmt schielte ich alle Nase lang sehnsüchtig auf die Uhr, in der Hoffnung auf eine baldige Redepause. Und dann, kurz bevor es soweit war, teilte der Referent der Stunde an uns Teilnehmende das Gedicht schweigen von Eugen Gomringer aus.
Warum er es tat, ob als kreative „Erfrischung“ oder weil es geschickt auf einen zuvor besprochenen Aspekt abzielte – auch das habe ich vergessen und vom Autor Gomringer hatte ich bis dato einen ebenso vagen wie schubladentauglichen Begriff. Nächstes Geständnis: Ich bin kein Freund von konkreter Poesie. Sie ist mir persönlich zu überschaubar, zu ordentlich-kalkuliert, zu eindimensional, zu wenig suggestiv oder leuchtend, zu sehr „gemacht“: quadratisch-praktisch-gut, unterstelle ich ihr.
Aber dieses Gedicht, mit einem Vers von Bertolt Brecht gesprochen, „das weiß ich noch und werd‘ ich immer wissen“. Denn um unser aller Jetzt-endlich-mal-Schweigen-Wollen war es beim Blick auf Gomringers Gedicht geschehen. Wir vergaßen tatsächlich die Mittagspause und hechteten kurz vor Essensschluss noch zu Tisch – wer je in langen Tagungen saß, weiß, was das bedeutet. Stattdessen redeten wir über schweigen. Und über Lyrik. Warum die so etwas auslösen kann: dass man sich auf einer tieferen Ebene einbringt, zeigt, engagiert.
Diverse Analysen dieses Gomringer-Gedichts lassen sich überall im weltweiten Netz finden. Und natürlich leuchtete uns allen das Gedicht schweigen auch unmittelbar ein, das ist ja auch Sinn und Zweck dieser Poesie, sie ist konkret: Mauer des Schweigens, beredtes Schweigen, das Schweigen in Worten nicht hörbar, sondern sichtbar machen, Prozess des Verstummens und die Möglichkeiten, es aufzubrechen…
Aber der fehlende Wortmauerstein genau in der Mitte des Schweigens, die Lücke, die einen „durch die Steinmauer blicken lässt“, wie man im Englischen sagt, dieser Prozess der Leerstellenbefüllung: das taten in diesem Moment ganz konkret wir. Das war möglich, da wir, anders als bei komplexen, semantisch vieldeutigen Gedichten, alle sofort auf einem gemeinsamen Verstehenslevel waren und das Gedicht in der Gruppe sicherlich nicht exakt gleich, so aber doch ähnlich genug begriffen.
Wir begannen also diesen Freiraum im Zentrum des Gedichts zu füllen und, mit Gomringer gesprochen, in der „Sprache unserer eigenen Zeit“ darüber zu reden, wie wir selbst das Schweigen in all seinen aktiven Facetten des Beschweigens, Verschweigens, aber auch des „Ruhen- und Raumlassens“ erleben; sowohl gesellschaftlich und natürlich, wir saßen da ja als Politikwissenschaftler zusammen, zeitgeschichtlich im Umgang mit dem Nationalsozialismus, dem Zusammenbruch der DDR, und schließlich auch familiengeschichtlich, also privat. Denn Geschichte, zumal Zeitgeschichte, ist ja in erster Linie immer auch Familiengeschichte.
Jemand kam dann auch auf Mitscherlichs Analyse der „Unfähigkeit [der Deutschen] zu trauern“ zu sprechen. Und hätten wir dort fleißig analytisch nur die Gründe des innerfamiliären und öffentlichen Beschweigens der Verbrechen des Nationalsozialismus in der deutschen Nachkriegsgesellschaft aneinandergereiht, vielleicht hätten wir die auf diese Weise zusammengetragenen Thesen inzwischen längst zugunsten „neuerer, frischerer Erkenntnisse“ vergessen.
Warum Gedichte kein Verfallsdatum haben
Eugen Gomringers 40 Jahre altes Gedicht aber gab uns ein Bild, das zeitübergreifend passte. Es stand und steht ganz im präzisen Eigensinn seines Wortes da. Weil es nicht von selbst aus mit Inhalten aufgeladen ist, konnten wir sie mit den unseren befüllen. DAS kann das Gedicht. Es kann einen zum Denken und Reden auf einer tieferen Ebene bringen, die nachhallt; die einen eine Mahlzeit (fast) vergessen lässt, weil man gerade seelisch oder zumindest geistig gemeinsam so gut gespeist hat.
Es scheint also zu stimmen, was Charles Baudelaire einst so prägnant sagte: „Jeder gesunde Mensch kann leicht zwei Tage ohne Nahrung leben; ohne Poesie – niemals!“ Und hiermit entschuldige ich mich daher posthum bei Eugen Gomringer für meine grandiose Unterschätzung des „quadratisch-praktisch-Guten“.
Denn Poesie – anders als Pamphlete und Manifeste – hat kein Verfallsdatum. Dass uns dies so konkret bewusstwerden konnte, verdankten wir Jungstudentinnen und -studenten der Politikwissenschaft damals also gerade diesem Dichter und seiner – im besten Sinne des Wortes – konkreten Poesie. Danke, Eugen Gomringer!
Ja, und dann 2017: Von einer Hausfassade, mitten im urbanen Alltagsleben, in dem sich auch der Werbetexter Gomringer ständig reflektierend bewegt hat, prangt sein Gedicht avenidas – und löst eine geradezu erbitterte intermediale Debatte über die mögliche Frauenfeindlichkeit in dem Gedicht aus.
Wieder inspiriert, positiv gelesen, ein Gomringer-Gedicht für Menschen der unterschiedlichen Professionen, sich mit der eigenen Sprache ihrer Zeit kritisch-reflektierend auseinanderzusetzen. Man könnte auch sagen: Es fordert heraus. Und gerade er, der die Mehrdeutigkeit der Lyrik so kritisch sah, fällt ihr nun sozusagen zum Opfer; denn avenidas provozierte so viel unterschiedlich nuancierte Lesarten wie es Lesende zu geben scheint.
Nur geht es dieses Mal weniger darum, was ein Gedicht kann, als, ideologischer, darum, was ein Gedicht darf. Und damit um das Wesen der Kunst und die Rolle der Kunstschaffenden zwischen gesellschaftlich-moralischer Verantwortung und essentieller Freiheit. Auch ich stellte mir ausgehend von Gomringers avenidas-Gedicht damals die offene Frage: Wie viel politische Korrektheit ist korrekt?
Inzwischen hat sich die Sprache, oder mit Gomringer, haben sich die Sprachen unserer Zeit erneut verändert. Was der Poesie und ihren Künstlerinnen und Künstlern jeder Zeit bleibt, ist ihr ergründendes, wahrnehmungssensibles, anarchisch-freies wie achtsames Unterwegssein auf unsicherem Gebiet. Gomringer hat die Poeten nicht umsonst zu „den Abenteurern“ gezählt.
Wir zählen weiterhin auf die zeitübergreifende, inspirierende Kraft seiner Poesie!
Nachruf auf Eugen Gomringer. Eine persönliche Würdigung>
Am 21. August verstarb im hohen Alter von 100 Jahren Eugen Gomringer, der Begründer der
Konkreten Poesie, in seiner Wahlheimat Bamberg. Der schweizerisch-bolivianische Lyriker konnte in fünf Sprachen schreiben und begriff Dichtung, in kritischer Abgrenzung zur Nationalliteratur, stets als Vielsprachigkeit, als ein internationales Sprachgewebe. Gomringer wirkte insbesondere in Deutschland; der Region Oberfranken blieb er in besonderer Weise verbunden. Die Lyrikerin Andrea Heuser erinnert sich in dieser persönlichen Würdigung an die inspirierende Wirkung, die seine Gedichte bis heute entfalten können.
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„unsere zeit spricht, wie jede zeit, ihre eigene sprache“
So leitet Eugen Gomringer – ganz bewusst in Kleinschreibung – sein Manifest
vom vers zur konstellation ein. Wie eigen- bzw. wie vielsprachig seine persönliche Lebenszeit war, lässt sich an seinem biographischen Werdegang ablesen; hier nur noch einmal die wichtigsten Eckpunkte:
Eugen Gomringer wurde im Januar 1925 als Sohn einer Bolivianerin und eines Schweizers in Cachuela Esperanza (Bolivien) geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern in Herrliberg (Schweiz) auf und arbeitete später als Werbetexter in Zürich sowie als Vortragsreisender, Berater der documenta, als Dozent für Theorie der Ästhetik und als Kurator. Im Jahr 2000 gründete er das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie (IKKP) im oberfränkischen Rehau. Für sein künstlerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Dem Literaturland Bayern, insbesondere der Region Oberfranken, blieb Gomringer dabei stets in besonderer Weise verbunden: 1986 übernahm er als erster Inhaber die Bamberger Poetikprofessur. Der renommierte Dichter begründete damit eine Tradition, die seither namhafte Autorinnen und Autoren jeden Sommer nach Bamberg führt, um über ihr literarisches Schaffen in der städtischen Öffentlichkeit zu reflektieren und zu diskutieren.
Konzentration, Sparsamkeit, Schweigen...
Bevor ich nun gleich auf jenes Gedicht Eugen Gomringers zu sprechen komme, das mir unvergesslich bleiben wird, möchte ich kurz, im Sinne des Dichters, einen Blick auf jene „Sprache der Zeit“ werfen, in der es entstand:
1953. Wir befinden uns im Nachkriegsdeutschland – der Zeit des Wiederaufbaus, des sich eher langsam als rasant bemerkbarmachenden „Wirtschaftswunders“ und literaturästhetisch geschaut in einer hochambivalenten Zeit der Innerlichkeit, der proklamierten „Stunde Null“, des „Kahlschlags“ einerseits sowie der schmerzhaften Reflektion der so genannten „jüngsten Vergangenheit“ seitens einzelner Autorinnen und Autoren – u.a. innerhalb der Gruppe 47 – andererseits.
Auf das aktive Beschweigen des Nationalsozialismus innerhalb der Mehrheitsgesellschaft der Fünfziger Jahre, insbesondere der eigenen Rolle darin, und der damit verbundenen Frage nach Schuld und Verantwortung, gibt es in der Literaturgeschichte die unterschiedlichsten ästhetischen Reaktionen zu verzeichnen. Die Antwort von Eugen Gomringer ist eben jene konkrete Poesie, die er zusammen mit Franz Mon, Gerhard Rühm u.a. in kritischer Abgrenzung zu der rein subjektiven Innerlichkeit, der blumigen Metaphorik der zeitgenössischen Lyrik, wie zumindest er sie wahrnahm, entwickelte.
Gegründet auf einem tiefen Unbehagen gegenüber der metaphernlastigen, lyrisch-ausschweifenden Sprache – nicht zuletzt noch mit der „Blut-und-Boden-Dichtung“ des Nationalsozialismus im Ohr – sollte nun die Verknappung von Sprache, die Konzentration und Sparsamkeit im Fokus stehen; die Fixierung auf einzelne, in sich gleichwertige Worte (daher die konsequente Kleinschreibung) sollte es der Poesie ermöglichen, neue Räume schaffen. Eine Poesie, in der es nicht länger um problematische, weil missbräuchliche, semantische Mehrdeutigkeiten ginge. Den Worten selbst sollte in ihrer Präzision, in ihrer Einfachheit und konkreten Materialität mehr Eigengewicht zukommen.
Im Resonanzraum von Theodor W. Adornos hochkontrovers diskutiertem Lyrikverdikt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, begannen einige Lyrikerinnen und Lyriker, den Prozess des Verstummens nun im Gedicht selbst nachzuzeichnen. Dies hat meiner Ansicht nach im Übrigen niemand so nachhaltig bewegend, achtsam und zugleich kunstvoll vermocht wie Paul Celan; insbesondere mit seiner Engführung und dem Gedichtband Sprachgitter. Adorno revidierte seinen Satz später, wie wir wissen, indem er einräumte, dass das perennierende Leid so viel Recht auf Ausdruck habe wie der Gemarterte zu brüllen.
„unsere zeit spricht, wie jede zeit, ihre eigene sprache“ – 1953 also verfasst Eugen Gomringer, im Sprachraum jener Zeit, sein Gedicht schweigen.
Eugen Gomringer, «schweigen», 1954. © ZVG / Eugen Gomringer
Die Lücken in der Sprache
1993. Vierzig Jahre, und damit genau eine Generation später, begegnet mir dieses Gedicht.
Ich, einundzwanzigjährig, befinde mich in einem gänzlich unpoetischen Kontext: als Studentin auf einer politikwissenschaftlichen Tagung. Ich gestehe es gleich: Von dieser Tagung weiß ich so gut wie gar nichts mehr inzwischen. Weder wo sie stattfand – ich glaube in Gummersbach – noch wer sie leitete und was genau dort meine Rolle war. Das Thema hatte im weitesten Sinne etwas mit Fragen der Adenauerpolitik zu tun (Westbindung etc.). Geredet wurde, wie es auf solchen Tagungen üblich ist, viel. Bestimmt schielte ich alle Nase lang sehnsüchtig auf die Uhr, in der Hoffnung auf eine baldige Redepause. Und dann, kurz bevor es soweit war, teilte der Referent der Stunde an uns Teilnehmende das Gedicht schweigen von Eugen Gomringer aus.
Warum er es tat, ob als kreative „Erfrischung“ oder weil es geschickt auf einen zuvor besprochenen Aspekt abzielte – auch das habe ich vergessen und vom Autor Gomringer hatte ich bis dato einen ebenso vagen wie schubladentauglichen Begriff. Nächstes Geständnis: Ich bin kein Freund von konkreter Poesie. Sie ist mir persönlich zu überschaubar, zu ordentlich-kalkuliert, zu eindimensional, zu wenig suggestiv oder leuchtend, zu sehr „gemacht“: quadratisch-praktisch-gut, unterstelle ich ihr.
Aber dieses Gedicht, mit einem Vers von Bertolt Brecht gesprochen, „das weiß ich noch und werd‘ ich immer wissen“. Denn um unser aller Jetzt-endlich-mal-Schweigen-Wollen war es beim Blick auf Gomringers Gedicht geschehen. Wir vergaßen tatsächlich die Mittagspause und hechteten kurz vor Essensschluss noch zu Tisch – wer je in langen Tagungen saß, weiß, was das bedeutet. Stattdessen redeten wir über schweigen. Und über Lyrik. Warum die so etwas auslösen kann: dass man sich auf einer tieferen Ebene einbringt, zeigt, engagiert.
Diverse Analysen dieses Gomringer-Gedichts lassen sich überall im weltweiten Netz finden. Und natürlich leuchtete uns allen das Gedicht schweigen auch unmittelbar ein, das ist ja auch Sinn und Zweck dieser Poesie, sie ist konkret: Mauer des Schweigens, beredtes Schweigen, das Schweigen in Worten nicht hörbar, sondern sichtbar machen, Prozess des Verstummens und die Möglichkeiten, es aufzubrechen…
Aber der fehlende Wortmauerstein genau in der Mitte des Schweigens, die Lücke, die einen „durch die Steinmauer blicken lässt“, wie man im Englischen sagt, dieser Prozess der Leerstellenbefüllung: das taten in diesem Moment ganz konkret wir. Das war möglich, da wir, anders als bei komplexen, semantisch vieldeutigen Gedichten, alle sofort auf einem gemeinsamen Verstehenslevel waren und das Gedicht in der Gruppe sicherlich nicht exakt gleich, so aber doch ähnlich genug begriffen.
Wir begannen also diesen Freiraum im Zentrum des Gedichts zu füllen und, mit Gomringer gesprochen, in der „Sprache unserer eigenen Zeit“ darüber zu reden, wie wir selbst das Schweigen in all seinen aktiven Facetten des Beschweigens, Verschweigens, aber auch des „Ruhen- und Raumlassens“ erleben; sowohl gesellschaftlich und natürlich, wir saßen da ja als Politikwissenschaftler zusammen, zeitgeschichtlich im Umgang mit dem Nationalsozialismus, dem Zusammenbruch der DDR, und schließlich auch familiengeschichtlich, also privat. Denn Geschichte, zumal Zeitgeschichte, ist ja in erster Linie immer auch Familiengeschichte.
Jemand kam dann auch auf Mitscherlichs Analyse der „Unfähigkeit [der Deutschen] zu trauern“ zu sprechen. Und hätten wir dort fleißig analytisch nur die Gründe des innerfamiliären und öffentlichen Beschweigens der Verbrechen des Nationalsozialismus in der deutschen Nachkriegsgesellschaft aneinandergereiht, vielleicht hätten wir die auf diese Weise zusammengetragenen Thesen inzwischen längst zugunsten „neuerer, frischerer Erkenntnisse“ vergessen.
Warum Gedichte kein Verfallsdatum haben
Eugen Gomringers 40 Jahre altes Gedicht aber gab uns ein Bild, das zeitübergreifend passte. Es stand und steht ganz im präzisen Eigensinn seines Wortes da. Weil es nicht von selbst aus mit Inhalten aufgeladen ist, konnten wir sie mit den unseren befüllen. DAS kann das Gedicht. Es kann einen zum Denken und Reden auf einer tieferen Ebene bringen, die nachhallt; die einen eine Mahlzeit (fast) vergessen lässt, weil man gerade seelisch oder zumindest geistig gemeinsam so gut gespeist hat.
Es scheint also zu stimmen, was Charles Baudelaire einst so prägnant sagte: „Jeder gesunde Mensch kann leicht zwei Tage ohne Nahrung leben; ohne Poesie – niemals!“ Und hiermit entschuldige ich mich daher posthum bei Eugen Gomringer für meine grandiose Unterschätzung des „quadratisch-praktisch-Guten“.
Denn Poesie – anders als Pamphlete und Manifeste – hat kein Verfallsdatum. Dass uns dies so konkret bewusstwerden konnte, verdankten wir Jungstudentinnen und -studenten der Politikwissenschaft damals also gerade diesem Dichter und seiner – im besten Sinne des Wortes – konkreten Poesie. Danke, Eugen Gomringer!
Ja, und dann 2017: Von einer Hausfassade, mitten im urbanen Alltagsleben, in dem sich auch der Werbetexter Gomringer ständig reflektierend bewegt hat, prangt sein Gedicht avenidas – und löst eine geradezu erbitterte intermediale Debatte über die mögliche Frauenfeindlichkeit in dem Gedicht aus.
Wieder inspiriert, positiv gelesen, ein Gomringer-Gedicht für Menschen der unterschiedlichen Professionen, sich mit der eigenen Sprache ihrer Zeit kritisch-reflektierend auseinanderzusetzen. Man könnte auch sagen: Es fordert heraus. Und gerade er, der die Mehrdeutigkeit der Lyrik so kritisch sah, fällt ihr nun sozusagen zum Opfer; denn avenidas provozierte so viel unterschiedlich nuancierte Lesarten wie es Lesende zu geben scheint.
Nur geht es dieses Mal weniger darum, was ein Gedicht kann, als, ideologischer, darum, was ein Gedicht darf. Und damit um das Wesen der Kunst und die Rolle der Kunstschaffenden zwischen gesellschaftlich-moralischer Verantwortung und essentieller Freiheit. Auch ich stellte mir ausgehend von Gomringers avenidas-Gedicht damals die offene Frage: Wie viel politische Korrektheit ist korrekt?
Inzwischen hat sich die Sprache, oder mit Gomringer, haben sich die Sprachen unserer Zeit erneut verändert. Was der Poesie und ihren Künstlerinnen und Künstlern jeder Zeit bleibt, ist ihr ergründendes, wahrnehmungssensibles, anarchisch-freies wie achtsames Unterwegssein auf unsicherem Gebiet. Gomringer hat die Poeten nicht umsonst zu „den Abenteurern“ gezählt.
Wir zählen weiterhin auf die zeitübergreifende, inspirierende Kraft seiner Poesie!

