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10.12.2019, 16:01 Uhr
Gernot Eschrich
Krieg und Frieden 1939/1989
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Gernot Eschrich

Wiederzuentdecken: Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“

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Ernst Toller © United States Holocaust Memorial Museum

Die 137. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern beschäftigt sich mit dem Themenschwerpunkt Krieg und Frieden. Im nachfolgenden Text bespricht Gernot Eschrich die bewegende Autobiographie des Schriftstellers und Revolutionärs Ernst Toller.

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Schon die Fakten, im Internet gut dargeboten, sind spannend; erhellend ist, was eine wissenschaftlich fundierte Darstellung bietet, etwa die von Wolfgang Frühwald bei Reclam, und vollends bewegend ist Tollers Autobiographie in ihrer Authentizität sowie in ihrer sprachlichen Kraft. Angelegt ist das Spannungsvolle von Tollers Persönlichkeit und seinem Lebensschicksal sicher auch in seiner Herkunft.

Geboren ist er 1893 in Samotschin, Provinz Posen, als jüdischer Deutscher. Seine Kindheit schildert er in knappen, treffsicher skizzierten Szenen: Geringschätzung der „Polacken" durch die Deutschen wie auch durch die Juden – Ausgrenzung wiederum der Juden trotz ihrer stark nationalen Gesinnung und ihrer Liebe zur deutschen Kultur durch ihre deutschen Landsleute – Hass der Polen auf die Deutschen – soziale und religiöse Vorurteile schon bei den Kindern, wie „Arme sind schmutzig, Juden schlachten Christenkinder und haben den Heiland getötet". Der kleine Ernst „möchte kein Jude sein." Als Hauptmann einer Kinderbande zeigt er Führerqualitäten, neigt aber auch zur Depressivität und Nervosität.

Er verfasst rebellische Freiheitsgedichte und empört sich national, aber auch sozial in ersten journalistischen Versuchen. Als er ein Reh mit Schrot angeschossen hat, weiß er, „ich werde nie mehr ein Gewehr in die Hand nehmen." Zur Kanonenbootaffäre 1911 vermerkt er: „Wir Jungen wünschen uns den Krieg herbei."

Starke Emotionalität wird begleitet von hellsichtiger analytischer Selbstkritik. Dass er als Student in Grenoble in einer Nacht sein ganzes Geld verspielt hat, kommentiert er so: „Im nüchternen Tag begreife ich den Menschen nicht, der hemmungslos dem Chaotischen und Abgründigen der Nacht verfallen war. Es ist kein Fremder, ich bin es selbst, ich habe mit dieser neuen Gestalt, von deren Sein ich nichts ahnte, zu rechnen." Und er beginnt „an der Notwendigkeit einer Ordnung zu zweifeln, in der die einen sinnlos Geld verspielen und die anderen Not leiden."


Der Krieg

Nach dem Attentat von Sarajewo nach Deutschland zurückgekehrt, meldet er sich in München freiwillig: „... endlich bin ich Soldat, aufgenommen in die Reihen der Vaterlandsverteidiger" – und schildert eindrücklich „den Rausch des Gefühls" der Rekruten. Im März 1915 hält er das Warten im Ausbildungslager nicht mehr aus und setzt durch, dass er an die Front kommt.

Von anfänglicher Kriegsbegeisterung 1914 und der grausamen Ernüchterung durch die Realität hat man schon oft gehört und gelesen, aber kaum je so überzeugend wie bei Ernst Toller. Als er – eines seiner krassesten Erlebnisse – im Schützengraben auf die zerfetzten Überreste eines Toten stößt, weiß er „endlich, dass alle diese Toten, Franzosen und Deutsche, Brüder waren, und dass ich ihr Bruder bin."

Trotz der schauerlichen Fakten ist man als Leser von der Sprache gefesselt, die hier ihr eigenes Recht behauptet, ohne sich je durch „Kunst" aufzudrängen, auch nicht, wo sie poetisch wird, etwa in Bildern vom zerschossenen Wald, vom Einzelnen als Schraube einer Maschine oder vom Neben- und Ineinander der Gewehrsalven und des nächtlichen Friedens der Natur. Singulär ist die humorvolle Szene mit dem Berchtesgadener Bauernknecht Sebastian, der sich darüber aufregt, dass Toller sich nach Wochen im Schützengraben die Kleider herunterreißt und mit einem Eimer Wasser wäscht: „'Jetz woaß ma ja, warum der Krieg hat kemma müssn ... der Preiß wascht sich nackad.' Aus seinem Mundwinkel zischt ein Strahl Spucke. 'Saupreiß!' ruft er und geht in den Unterstand und haut sich aufs Stroh."


Das Umdenken

Wegen Krankheit „kriegsuntauglich" geworden, studiert Toller in München, erfährt von Thomas Mann freundliche literarische Beratung und begegnet Rilke. Beim Verleger Diederichs trifft er führende Intellektuelle, u. a. Max Weber, aber er findet sie nicht bereit, „den Zorn der Könige und Tyrannen furchtlos zu ertragen, [...] sie flüchten sich in das Gespinst lebensferner Staatsromantik."

Als „junger unreifer Mensch" wagt er es, die Geistesgrößen aufzurufen, endlich den Weg zu zeigen in die Welt des Friedens und der Brüderlichkeit, umsonst. „Abends tanzen die Tänzerinnen, baut sich aus großen Worten die neue Kirche, der mystische Tempel". Max Weber wagt zwar mutige Worte gegen den Kaiser, aber die Jungen wollen eine Änderung des ganzen Systems. Toller setzt seine Hoffnungen auf die „Frontjugend": „... wir müssen Rebellen werden!"

Mit Gleichgesinnten gründet er den Kampfbund Kulturpolitischer Bund der Jugend Deutschlands. Sie glauben, wäre keiner mehr arm, würden Gier und Imperialismus aufhören. Daraufhin hagelt es von rechts wütende Angriffe auf die „pazifistischen Verbrecher". Das Berliner Tageblatt druckt eine Antwort Tollers: „Schon immer wurde unbequemer Gesinnung der Vorwurf 'nicht vaterländisch' oder 'würdelos' gemacht. Ist der 'nicht vaterländisch', der den friedlichen Bund freier selbständiger Völker erstrebt? [...]" Da setzt Verfolgung ein, Kriegsuntaugliche werden wieder eingezogen.

Toller flieht nach Berlin. Eine Antwort auf einen Brief Gustav Landauers atmet idealistische Leidenschaft: „Ich will das Lebendige durchdringen [...] ich will es mit Liebe umpflügen, aber ich will auch das Erstarrte, wenn es sein muss, umstürzen, um des Geistes willen."

Kritische Schriften wie die des Fürsten Lichnowsky, des ehemaligen deutschen Botschafters in London, bestätigen seine Auffassung: „Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden, ich hatte erkannt, dass der Krieg das Verhängnis Europas, die Pest der Menschheit, die Schande unseres Jahrhunderts ist." Und: „... die deutschen Stahlmagnaten wollen die Erzgruben von Belgien [...] erobern, die Kriegsziele der alldeutschen Imperialisten verhindern den Friedensschluss. [...]"

Bei Toller mündet die Erkenntnis in Aktion: Als in Kiel die Munitionsarbeiter und in München die Krupparbeiter streiken, geht er in die Versammlungen Eisners und wird dort nolens volens zum Redner: „Die ersten Sätze stottere ich, verlegen und unbeholfen, dann spreche ich frei und gelöst und weiß selbst nicht, woher die Kraft meiner Rede rührt."

Wie Toller nach dem Zusammenbruch des Streiks als einer seiner Führer verhaftet, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und kurzfristig sogar in die Psychiatrie eingewiesen wird, welche tragende Rolle er in der Münchner Räterepublik spielt, kurz sogar als militärischer Befehlshaber der Roten bei Dachau, wofür er fünf Jahre eingesperrt wird, wie er danach weiterkämpft, als Redner gegen Imperialismus und Kolonialismus oder durch Sammeln von 50 Millionen Dollar für die im Spanischen Bürgerkrieg hungernde Bevölkerung, das ist spannender (und wichtiger) als jeder Roman.

Ernst Toller meinte es ernst, machte Ernst und hat alles so ernst genommen, dass er schließlich 1939 in New York verzweifelt sein Leben beendet hat.


Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, hrsg. u. komm. von W. Frühwald. Reclam, Stuttgart 2013, 416 S., 9,80 Euro
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