Literarische Schätze der Bayerischen Staatsbibliothek (4): Brief Kaspar Hausers an Magdalena von Schultes

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Johann Lorenz Kreul (1764-1840): Kaspar Hauser, Pastell ca. 1830

Im Wochenrhythmus stellt die Redaktion des Literaturportals Bayern literarische Schätze aus dem Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek vor: ausgewählte Höhepunkte, die in ihrer Entstehung, Überlieferung und Wirkung einen Bezug zu Bayern haben und in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Spannweite und Vielfalt dieser Literatur aus zwölf Jahrhunderten lassen sich aus digitalisierten Handschriften, Drucken, Manuskripten und Briefen exemplarisch ablesen, die in bavarikon versammelt sind. Wir präsentieren daraus eine Auswahl.

 

Aenigma sui temporis: Der rätselhafte Findling

Der Fall „Kaspar Hauser“ gab nicht nur dessen Zeitgenossen Rätsel auf, sondern beschäftigt die Forschung bis heute. Ob sich das Mischungsverhältnis von Wahrheit und mythischer Ausschmückung künftig vollständig wird klären lassen, ist ungewiss.

Kaspar Hauser tauchte am 26. Mai 1828 im Alter von etwa 16 Jahren in Nürnberg auf. Sowohl physisch als auch psychisch unterentwickelt, war sein Sprachvermögen nur gering ausgebildet. Hauser trug einen an den Rittmeister der 4. Eskadron des 6. Chevauxlegers-Regiments in Nürnberg gerichteten Geleitbrief bei sich, der jedoch keine konkreten Informationen zu seiner Herkunft enthielt. Der unbekannte Verfasser des Briefs, der angibt, aus ärmlichen Verhältnissen zu stammen, skizziert darin die Geschichte des Jungen, der ihm im Oktober 1812 als Findelkind vor die Tür gelegt worden sei. Das Kind habe er im christlichen Glauben erzogen, es schreiben und lesen gelehrt, jedoch stets im Haus verborgen, damit niemand es zu Gesicht bekomme. Auch kenne der Knabe weder Identität noch Adresse seines Ziehvaters. Dem Brief war ein weiterer Brief beigelegt, der angeblich von der Mutter des Jungen stammte und als „Mägdeleinzettel“ bekannt wurde. Er gibt den Namen des Jungen mit Kasper an und nennt den 30. April 1812 als dessen Geburtsdatum. Neben Fürsorge für das Kind bittet die Mutter, den Jungen, sobald er 17 Jahre alt werde, zum 6. Chevauxlegers-Regiments in Nürnberg zu schicken, bei dem auch sein Vater gedient habe.

Anhand von Schriftvergleichen, die den Befund liefern, dass es sich höchstwahrscheinlich um denselben Verfasser handelt, kamen rasch erste Zweifel an der Lebensgeschichte Hausers auf. Dessen ungeachtet erregten seine geistige Verfassung und seine mangelnde Sprachentwicklung das Interesse unterschiedlicher Gelehrtengruppen. Hauser avancierte in der Folge zu einer öffentlichen Attraktion und zur Projektionsfläche für unterschiedlichste Gerüchte und Theorien, deren populärstes Hauser mit dem am 29. September 1812 geborenen badischen Erbprinzen identifiziert, der angeblich mit einem sterbenden Kind vertauscht worden und dann versteckt gehalten worden sei.

Die Version der Lebensgeschichte Hausers, nach der dieser, soweit seine Erinnerung reiche, stets in halbliegender Position in einem nahezu lichtlosen Raum gehalten und mutmaßlich unter Opium-Einfluss gesetzt worden war, um ihn ruhig zu halten, geht auf Gespräche des Bürgermeisters mit Hauser zurück, der diese Version später unter Ausschmückung einiger Aspekte schriftlich bestätigte. Wiederholt kam es in den nächsten Jahren zu schweren Verwundungen Hausers, die dieser in zwei Fällen mit Attentaten auf seine Person durch einen Unbekannten erklärte. Der Stichverletzung, die Hauser am 14. Dezember 1833 erlitt, erlag er schließlich drei Tage später. Weder konnte ein Täter ermittelt werden, noch konnte zweifelsfrei nachgewiesen werden, ob es sich überhaupt um Fremdeinwirkung handelte.

Die vorgeblichen Anschläge auf Kaspar Hauser fachten das öffentliche Interesse an seiner Person immer wieder von Neuem an. Unter anderem wurde auch Lord Philip Henry Earl Stanhope auf Hauser aufmerksam und suchte seine Nähe. Er nahm sich Hausers an und beantragte schließlich die Pflegschaft für den Jungen. In seinem Brief an Magdalena von Schultes spricht Hauser von ihm als von seinem Pflegevater. Stanhope brachte Hauser schließlich nach Ansbach, wo er ihn in die Obhut des Lehrers Johann Georg Meyer übergab. Stanhope selbst verließ Ansbach zu Beginn des Jahres 1832. Zwar kam Stanhope weiterhin für den Unterhalt seines Pflegesohnes auf und hielt auf postalischem Wege Kontakt zu ihm. Hauser sollte ihn bis zu seinem Tod im Dezember 1833 jedoch nicht wiedersehen – die von Stanhope in Aussicht gestellte Übersiedlung Kaspars zu ihm nach England, auf die Hauser ebenfalls in seinem Brief an Frau von Schultes Bezug nimmt, kam nicht zustande. Vermutlich hatte Stanhopes Interesse, das maßgeblich durch das Mysterium um Hausers Person genährt wurde, bereits zu diesem Zeitpunkt nachgelassen. Nach Hausers Tod distanzierte sich der Lord endgültig von seinem Schützling, von dem er sich getäuscht sah. 1835 publizierte Stanhope seine Materialien zur Geschichte Kaspar Hausers, die sich als eine Art Abrechnung ausnehmen und belastende Informationen gegen den einstigen Pflegesohn ins Feld führen.

Die ersten beiden Blätter des Briefes Hauser an Magdalena von Schultes

Ansbach bildet die letzte Lebensstation Hausers. Dass Hauser dort in den höheren Kreisen der Gesellschaft verkehrte, in die er bestens integriert war, davon legt der Schriftverkehr mit Magdalena von Schultes, einer geborenen Freiin von Ickstadt, ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Aus ihm geht hervor, dass Hauser offenkundig ein beliebter Gesprächs- und Tanzpartner für die Ansbacher Damenwelt war. Die Eloquenz, die der Brief an Magdalena von Schultes vom 8. Januar 1833 offenbart, würde nicht vermuten lassen, dass man Hauser kaum fünf Jahre zuvor ein völlig verkümmertes Sprachvermögen und geistige Unterentwicklung attestiert hatte. Der Zwiespalt und die Ratlosigkeit, mit denen Kaspar Hauser seine Zeitgenossen zurückließ, schlugen sich schließlich auch auf die Wahl eines Grabspruchs nieder: „HIC JACET CASPARUS HAUSER AENIGMA SUI TEMPORIS IGNOTA NATIVITAS OCCULTA MORS MDCCCXXXII“. [Hier ruht Kaspar Hauser, ein Rätsel seiner Zeit, die Herkunft unbekannt, geheimnisvoll der Tod 1833.]

Der Brief Hausers verbindet sich auf besondere Weise mit der Geschichte der Bayerischen Staatsbibliothek: Das Autograph Hausers war ein Geschenk Magdalenas von Kobell, der Gemahlin des Sebastian von Kobell und zugleich Nichte der Adressatin des Briefes. Diese war dem Aufruf der Direktion der damaligen königlichen Hof- und Staatsbibliothek, der Vorläuferinstitution der Bayerischen Staatsbibliothek, vom November 1858 bezüglich der Anlegung einer Autographensammlung gefolgt und stiftete den Brief. Ihr Schreiben wurde gemeinsam mit dem Hauser-Autograph überliefert, da es unter anderem explizit für dessen Echtheit bürgt.

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Janine Katins-Riha M.A. & Dr. Peter Czoik

Sekundärliteratur:

Merker, Johann Friedrich Karl (1830): Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger. Dargestellt von dem Polizeirath Merker. Bei August Rücker, Berlin.

Sänger, Oliver (2013): Kaspar Hauser – eine badische Frage? Zur Entstehung der Legende vom vertauschten Erbprinzen. In: Hauß, Heinrich; Weinacht, Paul-Ludwig (Hg.): Wegmarken badischer Geschichte. Vorträge anlässlich der Landesausstellung „Baden! 900 Jahre“ im Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Schriftenreihe des Landesvereins Badische Heimat 5). Freiburg, S. 95-111.

Schiener, Anna (2010): Der Fall Kaspar Hauser. Regensburg.

Graf Stanhope [Philip Henry] (2004, Nachdr. 1835): Materialien zur Geschichte Kaspar Hausers. Schutterwald/Baden.

Externe Links:

Sammlungsbeschreibung in bavarikon

Zimelien-Autographen in bavarikon

Brief Kaspar Hauser an Magdalena von Schultes

Kleines Gedicht von Kaspar Hauser

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