Literarische Schätze der Bayerischen Staatsbibliothek (3): Die Kunst Ciromantia

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Titelblatt: gedruckter Papierumschlag vorne

Im Wochenrhythmus stellt die Redaktion des Literaturportals Bayern literarische Schätze aus dem Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek vor: ausgewählte Höhepunkte, die in ihrer Entstehung, Überlieferung und Wirkung einen Bezug zu Bayern haben und in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Spannweite und Vielfalt dieser Literatur aus zwölf Jahrhunderten lassen sich aus digitalisierten Handschriften, Drucken, Manuskripten und Briefen exemplarisch ablesen, die in bavarikon versammelt sind. Wir präsentieren daraus eine Auswahl.

 

Handbuch in doppeltem Sinne

Ein Handbuch bezeichnet heute allgemeinhin ein Nachschlagewerk, ein Buch, das man bei Fragen rasch zur Hand nehmen kann und von dem man sich kompetente Auskunft erhofft.

Das folgende Handbuch jedoch wartet mit einer Überraschung auf: Die Chiromantie, die den originären Titel Die Kunst Ciromantia trägt, ist nämlich gleich in doppeltem Sinne als Handbuch zu verstehen. Handelt es sich doch um ein Nachschlagewerk, das sich mit der Kunst des Handlesens, der Chiromantie, befasst.

Die Chiromantie versucht, aus der Physiognomie der Hand, genauer aus deren Form und Linien, Erkenntnisse und Rückschlüsse über das Wesen einer Person und deren Schicksal abzuleiten. Dementsprechend präsentiert das hier vorgestellte ‚Handbuch‘ eine Einführung in die Lesekunst mit 44 Holzschnitttafeln. Diese zeigen einander paarweise zugeordnete Frauen- und Männerhände mit groben Linien und Markierungen, denen entsprechende kurze Erklärungen und Interpretationen beigegeben sind. Die linke Hand bildet die Frauen-, die rechte die Männerhand ab.

Abbildung einer Frauenhand mit Einzeichnung der Linien und deren Interpretation

Die 1448 verfasste Chiromantie präsentiert sich als das erste derartige Werk in deutscher Sprache und mutmaßlich ebenso als das erste Werk solcher Thematik, das in den Druck überführt wurde. Überliefert ist es in einer Handschrift (München UB, 8° cod.ms339) und einem Blockbuch. Bei dem zugrundeliegenden Druckverfahren wurde zunächst jeweils eine ganze Seite, bestehend aus Bild, Text oder einer Kombination beider Elemente, aus einer Holztafel seitenverkehrt herausgeschnitten. Die auf diese Weise angefertigten Tafeln wurden in einem zweiten Schritt eingefärbt und schließlich auf feuchtes Papier gepresst, so dass Druckseiten entstanden.

Der Autor

Verfasst wurde die Kunst Ciromantia von dem Mediziner Johannes Hartlieb, der autograph stets als „johannes hartliepp“ unterschrieb. Das Leben Hartliebs lässt sich in zwei große Abschnitte gliedern. Während über die erste Lebensphase Hartliebs nur wenige gesicherte Informationen existieren, ist die ab 1440 einsetzende zweite Lebenshälfte durchgehend urkundlich belegt. Mutmaßlich entstammte Hartlieb der Dienerschaft Herzog Ludwigs VII. des Bärtigen von Bayern-Ingolstadt. In seinem Auftrag fertigte Hartlieb 1430 respektive 1432 auf Schloss Neuburg a. d. Donau die Gedächtniskunst (Originaltitel: Kunst der Gedächtnüß), in deren Kontext sein Name erstmalig belegt ist. Sein Geburtsdatum ist ebenso wenig gesichert wie ein Studium der Artes und der Medizin in Wien. Ein derartiges Studium kann jedoch voraussetzt werden, da 1439 die Promotion Hartliebs zum Doktor der Medizin in Padua erfolgte. Die Kenntnis dieses Datums geht auf den Stempel zurück, mit dem Hartlieb seine Urkunden siegelte. Mit der Aufnahme seiner Tätigkeit am Hof der Wittelsbacher in München beginnt die zweite, durchgehend urkundlich belegte Lebensphase Hartliebs. In den Jahren von 1440 bis zu seinem Tod 1468 war er der Leibarzt Herzog Albrechts III. und in der Folge von dessen Sohn Siegmund, dem Herzog von Bayern-München. Darüber hinaus trat er in verschiedenen Kontexten auch als Berater der Herzöge auf und übernahm diplomatische Dienste.

Für die Literaturwissenschaft ist Hartlieb vor allem aufgrund seines breiten Produktionsspektrums sowie des daraus resultierenden umfangreichen Œuvres interessant. Hartlieb widmete sich unterschiedlichen Textgattungen. Seine Arbeiten lassen sich unter anderem folgenden Gruppen zuordnen: erzählende, religiöse und moraldidaktische Prosa, Prosa der Artes Liberales sowie medizinische und geheimwissenschaftliche Schriften. Zwischen 1433 und 1435 entsteht das Mondwahrsagebuch. Es folgen Abhandlungen über die Geomantie (1440) und Namenmantik (1440), eine Übersetzung des Tractatus De amore des Andreas Capellanus (1440), die Niederschrift des Kräuterbuchs (1440), eine Übertragung des Alexanderstoffs (1444), das Buch aller verbotenen Kunst (1455/56), eine Übertragung der Brandanlegende (1456/57), Übersetzungen der Secreta mulierum (etwa 1465) sowie des Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach (1467).

Die 1448 abgefasste Chiromantie entsteht im Auftrag Herzogin Annas von Braunschweig-Grubenhagen, der Gemahlin Albrechts III. Der Moment der Zueignung wird in der Einleitung bildlich dargestellt: Auf der linken Bildhälfte kniet Johannes Hartlieb vor dem Thron Herzogin Annas. Die bereits aufgeschlagene Ciromantia in den Händen haltend, will Hartlieb das Buch der Herzogin übergeben, die ihm ebenfalls die Hände entgegenstreckt, um das Buch in Empfang zu nehmen.

Zueignung an die Herzogin Anna

Die Chiromantie als Teil der Physiognomik

Im Zuge der Aufklärung wurde die Chiromantie als unseriöses Unterhaltungselement weitestgehend auf Jahrmärkte zurückgedrängt. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Physiognomik, die seit der Antike als esoterische Lehre verbreitet war und sich zunächst vor allem auf die Merkmale des Gesichts bezog, im Kontext der Aufklärung einen populärwissenschaftlichen Aufschwung verbuchen kann, der bis ins 20. Jahrhundert hinein andauerte.

Im 18. Jahrhundert erfährt die Physiognomik durch die Publikationen Johann Caspar Lavaters eine intensive Blütezeit. Im dritten Band seiner Physiognomischen Fragmente erweitert Lavater seine gestaltpsychologischen Studien um einen graphologischen Ansatz, der das Interesse an der Handschrift ins Zentrum der Überlegung rückt. Dass Autographe berühmter Persönlichkeiten heute als auratisch charakterisiert werden, geht auf die Physiognomik zurück.

Die Salonfähigkeit der Physiognomik durch alle Zeiten hindurch und die von ihr ausgeübte Anziehungskraft als esoterische Lehre begründen im 19. und 20. Jahrhundert nicht zuletzt ihr dunkelstes Kapitel als theoretischer Unterbau von Rassismus, Rassenhygiene und Eugenik, die zur Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreichen. Im Zeitalter von Wissenschaft und Dynamisierung wiederum erfährt die Chiromantie, gleichsam noch immer als ein Randphänomen, als kurzweilige Flucht vor dem Alltag und sehnsuchtsvoll-romantisierender Blick in das eigene Geschick eine Art Renaissance.

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Janine Katins-Riha M.A. & Dr. Peter Czoik

Sekundärliteratur:

Fürbeth, Frank (1992): Johannes Hartlieb. Untersuchungen zu Leben und Werk (Hermea. N.F., 64). Tübingen.

Grubmüller, Klaus (1981): Johannes Hartlieb. In: Ruh, Kurt u.a. (Hg.): Verfasserlexikon – Die deutsche Literatur des Mittelalters. Bd. 3. De Gruyter, Berlin/New York.

Lavater, Johann Caspar (1775/78): Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. 4 Bde., Bd. 3. Leipzig. Nachdr. 1969.

Gray, Richard T. (2004): About face. German physiognomic thought from Lavater to Auschwitz.  Detroit.

Externe Links:

Sammlungsbeschreibung in bavarikon

Die Kunst Ciromantia

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