Michael von Killisch-Horn als Stipendiat in Québec: ein Erfahrungsbericht

Das Kunstministerium vergibt ein neues Literaturstipendium für einen zweimonatigen Aufenthalt in der kanadischen Provinz Québec. Das Stipendium, das im Rahmen eines Schriftstelleraustauschs zwischen dem Oberpfälzer Künstlerhaus Schwandorf-Fronberg und dem Conseil des Arts et des Lettres du Québec vergeben wird, ermöglicht einer Autorin oder einem Autor aus Bayern den zweimonatigen Arbeitsaufenthalt in Gatineau, der viertgrößten Stadt der Provinz Québec. Der bayerische Stipendiat 2016, Michael von Killisch-Horn, ist Übersetzer aus dem Französischen und Italienischen. 1991 erhielt er den Horst-Bienek-Förderpeis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste für Verdienste um die Lyrik. Mit dem Bayerischen Kunstförderpreis wurde er 1992 ausgezeichnet, 2012 mit dem Übersetzerstipendium des Freistaats Bayern. Hier ist sein Bericht aus Gatineau.

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Ankommen

Nachdem ich 2013 drei Monate in Montréal mit einem Aufenthaltsstipendium im Rahmen eines Austauschs zwischen der Villa Waldberta in Feldafing und Montréal verbracht hatte, hat mich diesmal ein neues Stipendium, das zum ersten Mal im Rahmen der Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst und dem Conseil des Lettres et des Arts du Québec (CALQ) in Zusammenarbeit mit der Association des auteurs et auteures de l’Outaouais vergeben wurde, für zwei Monate nach Québec, der französischen Provinz Kanadas, geführt, diesmal nach Gatineau an der Grenze zu Ontario, von Ottawa, der Hauptstadt Kanadas, nur durch den Ottawa River oder Rivière des Outaouais getrennt.

Ich hatte mich für dieses Stipendium beworben mit dem Projekt einer Nummer der Literaturzeitschrift die horen, die seit sechzig Jahren mit vier Heften im Jahr erscheint, über aktuelle Literatur aus Québec. 2014 hatte ich den neuen Herausgeber der Zeitschrift, Jürgen Krätzer, auf der Buchmesse in Frankfurt gefragt, ob er an einem solchen Projekt Interesse hätte, was er bejahte, allerdings erst für 2018 (inzwischen ist das Heft auf 2019 verschoben). Das ist zwar ein langer Vorlauf, aber als Nicht-Experte für die Literatur aus Québec brauche ich den auch, um mit Hilfe meiner Kontakte, die ich seit meinem Aufenthalt 2013 in Montréal habe, eine vernünftige, repräsentative Auswahl zu treffen. Ich will vor allem Texte präsentieren, die seit 2000 erschienen sind, von etablierten älteren Autoren, die immer noch publizieren, aber auch von jüngeren und jungen Autoren. Dabei will ich mich auf die Kurzgeschichte, die sich in den letzten dreißig Jahren zu einer sehr wichtigen Gattung in Québec entwickelt hat, und die Lyrik konzentrieren, dazu auch ein paar essayistische Texte.

Ottawa und Gatineau bilden zusammen die Metropolregion (Census Metropolitan Area) Ottawa-Gatineau mit einer Fläche von 6287 m2 und 1,24 Millionen Einwohnern. Ottawa-Gatineau ist damit die viertgrößte Census Metropolitan Area Kanadas (nach Toronto, Montréal und Vancouver) und die einzige, deren Gebiet sich über zwei Provinzen (Ontario, Québec) verteilt. Gatineau wurde am 1. Januar 2002 durch den Zusammenschluss der Gemeinden Gatineau, Hull, Buckingham, Aylmer und Masson-Angers gegründet. Mit 265 349 Einwohnern ist Gatineau, deren Stadtgebiet sich über eine Fläche von 342 m2 erstreckt, als Hauptstadt der Verwaltungsregion Outaouais nach Montréal, Québec und Laval die viertgrößte Stadt Québecs.

Ich komme am 3. Oktober, einem Montag, nach etwa neun Stunden Flug von München über Toronto in Ottawa an und werde abgeholt von François Lescalier von der Association des auteurs de l’Outaouais. Er und seine Kollegin Michelle Lapierre-Dallaire sind für mich während meines Aufenthalts in Gatineau, der bis zum 30. November dauern wird, zuständig.

Die Maison Scott-Fairview in der Rue Gamelin im Sektor Hull von Gatineau, in der ich in den nächsten zwei Monaten residieren werde, ist umgeben von einem Park, der jetzt im Herbst durch die Farbenpracht des Laubs wunderschön ist und durch den immer wieder kleine schwarze Eichhörnchen huschen. Die Villa wurde zwischen 1862 und 1863 von Richard William Scott, einem der ersten Bürgermeister von Ottawa, gegründet.

Die Villa wurde vor zwei Jahren renoviert und dient jetzt als Residenz für Autoren, aber auch andere Künstler. Sie ist eigentlich viel zu groß für eine einzelne Person. Im Erdgeschoss geht von der Eingangsdiele links ein großer Raum ab, der für Empfänge und Veranstaltungen genutzt werden kann; dahinter liegt ein großes Esszimmer, an das sich eine Küche anschließt. Von der Diele geht es über eine Treppe in den ersten Stock, wo es noch einmal einen großen Raum für Veranstaltungen gibt. Des weiteren befinden sich dort ein Wohnzimmer mit einer Bettcouch und einem sehr bequemem Liegesessel, außerdem ein kleines Büro, und durch einen kurzen Flur gelangt man, vorbei am Badezimmer, schön altmodisch eingerichtet mit einer Badewanne auf Füßchen, ins Schlafzimmer mit Doppelbett.

In unmittelbarer Nähe der Villa gibt es mehrere Supermärkte, außerdem eine ganze Reihe von Restaurants und Cafés. Und wenn ich durch den Hinterausgang der Villa und ein Stück durch den Park gehe, gelange ich zu einer Buchhandlung, der Librairie du Soleil, die zwar nicht sehr groß ist und deren Auswahl sich in Grenzen hält, aber immerhin, außerdem hat sie eine größere Filiale in Ottawa, und man kann, was ich mehrmals tue, Bücher bestellen, die, wenn sie in der Ottawaer Filiale vorhanden sind, von dort nach Gatineau geschickt werden. Ich habe also alles, was ich brauche, in meiner Nähe. Außerdem fahren mehrere Busse von mir aus ins Zentrum von Hull und weiter nach Ottawa, wo sie direkt vor dem Parlament halten.

In der ersten Woche gewöhne ich mich langsam in meiner Villa ein, es ist ruhig, das Wetter schön und noch relativ warm, ich erkunde die Supermärkte und die umliegenden Restaurants, große Lust zum Kochen habe ich eigentlich nicht, man muss ja auch einmal am Tag an die frische Luft, ein kleiner Spaziergang tut gut, deswegen gehe ich mittags essen und kaufe mir ansonsten ein, was ich zum Frühstück und Abendessen brauche. Am ersten Tag mache ich einen langen Spaziergang von ungefähr vier Stunden, um die nähere Umgebung, aber auch das Zentrum von Hull, das Vieux Hull, zu erkunden. Ansonsten lese ich erst einmal viel, ich hatte mir eine Reihe von Büchern Québecer Autoren aus München mitgebracht, um sie nochmal genauer in Hinblick auf mein Projekt zu lesen, außerdem habe ich gleich in der Librairie du Soleil ein paar Bücher von Autoren, die auf meiner vorläufigen Liste für mein Heft stehen, gefunden, und eine ganze Reihe anderer bestellt, die teilweise nach ein paar Tagen aus Ottawa kommen.

Begegnungen

In der ersten Woche habe ich schon die ersten Begegnungen. Am Mittwoch kommt Diane Isabelle, die Dame vom CALQ, die für meinen Aufenthalt in Gatineau verantwortlich ist, extra aus Montréal, um mich kennenzulernen, und wir gehen gemeinsam in einem netten kleinen Restaurant in meiner Nähe am Boulevard Saint-Joseph, L’Alambic, essen, zusammen mit François und Michelle von der Association des auteurs. Es ist so warm, dass wir draußen sitzen können. Diane Isabelle ist eine sehr nette, sympathische Frau, die Atmosphäre ist sehr entspannt, nach dem Essen schaut sie sich noch die Maison Scott-Fairview an, die sie nicht kennt, und wir verabreden uns zum Mittagessen für die Zeit, wenn ich in Montréal sein werde.

Am nächsten Tag bin ich mit Madeleine Stratford verabredet, die ich 2013 in Montréal kennen gelernt hatte. Sie lehrt an der Universität von Gatineau Übersetzung, spricht fließend Englisch, Deutsch und Spanisch, hat jeweils ein Jahr in Deutschland und in Spanien studiert, schreibt Gedichte und übersetzt vom Englischen ins Französische und umgekehrt. Seit letztem Jahr ist sie außerdem noch Präsidentin der Association des traducteurs et traductrices du Canada. Sie empfiehlt mir ein paar Autoren, unter anderem eine Dichterin, die dem Volksstamm der Innu angehört, einer der „Premières Nations“ (First Nations) in Québec, Marie Andrée Gill, die zwei Gedichtbände veröffentlicht hat (später stoße ich auch noch auf die erste Anthologie von Erzählungen autochthoner Autoren verschiedener Volksgruppen in Québec, die 2016 erschienen ist).

François hatte bereits zwei Dichtern, Guy Jean und Michel Côté, von mir erzählt und mir ihre E-Mail-Adressen gegeben. Wir verabreden uns für die zweite Woche. Guy Jean holt mich am Dienstag gegen 18 Uhr in meiner Villa ab, und wir fahren nach Chelsea, ein Ort in der Nähe, in ein sehr nettes Fish-and- Chips-Lokal. Er ist ein sehr sympathischer, warmherziger älterer Herr um die achtzig, der eine große Ruhe und Lebensklugheit ausstrahlt, wir verstehen uns auf Anhieb sehr gut und verbringen einen wunderbaren Abend in angeregtem Gespräch miteinander. Er erzählt mir auch, dass er mit Michel Côté gut befreundet ist. Mit ihm bin ich am nächsten Tag verabredet, er kommt vormittags in der Villa vorbei, und wir machen einen kleinen Abstecher nach Ottawa, um dort einen Kaffee zu trinken. Ich bekomme also einen ersten flüchtigen Eindruck von der Hauptstadt Kanadas. Er führt mich in eine Boulangerie française. Er ist um einiges jünger als Guy Jean, ebenfalls sehr sympathisch, und er schreibt nicht nur, sondern zeichnet auch, sehr beeinflusst von der Kalligraphie und von Japan, wo er eine Weile gelebt hat. Seine Texte sind weniger Gedichte als kleine Prosatexte, die stark um Malerei und Farben kreisen, etwas völlig anderes als die Gedichte von Guy Jean, die mir auf Anhieb außerordentlich gefallen.

Für den nächsten Tag, Donnerstag, haben François und Michelle ein „souper de bienvenue“, ein Willkommensabendessen für mich organisiert, bei dem ich Autoren kennenlernen soll. Es kommen allerdings so gut wie keine Autoren, nur Guy ist da und eine Poetry-Slammerin (Poetry-Slam ist auch in Québec sehr beliebt und verbreitet mit Wettbewerben und allem, was dazu gehört). Später kommt auch noch die Lebensgefährtin von Michel Côté, Céline, dazu, und noch etwas später auch Michel, der an dem Abend eine andere Verpflichtung gehabt hat. Viele neue Autoren lerne ich an dem Abend also nicht kennen.

Allerdings findet am Dienstag der folgenden Woche in der Maison des auteurs ein „Micro ouvert“ statt, ein Abend, an dem sieben, acht Autorinnen und Autoren aus der Gegend Texte lesen oder vortragen, ganz gemischt, Prosa und Gedichte. Ein Sänger ist auch dabei. Die Maison des auteurs ist ein altes Bauernhaus aus Stein und Holz, der Saal für die Veranstaltungen ist nicht sehr groß, hat aber viel Atmosphäre mit Kamin, der allerdings nicht benutzt wird, und Tischen, an denen man sitzt. Nach der Lesung unterhalte ich mich ein bisschen mit dem einen oder anderen Autor.

Bei dem souper de bienvenue hatte ich erfahren, dass am Samstag derselben Woche unter dem Titel „Donneurs de mots“ im Vieux Hull in der Rue Eddy eine Aktion stattfindet, bei der man zwischen 10 und 16 Uhr an verschiedenen Orten (ein Blumenladen, eine Bäckerei, ein Restaurant, ein Modegeschäft usw.) mit Autoren ins Gespräch kommen kann. Guy und Michel nehmen auch daran teil. Ich lerne gleich zu Beginn in einem Teesalon eine junge Frau kennen, Mélanie Rivet, die ebenfalls Slammerin ist, aber auch schon im Theater- und Kunstbereich gearbeitet hat, jetzt wieder studiert und bei Madeleine Stratford eine thèse de maîtrise schreibt, in dessen Rahmen sie Kurzgeschichten einer amerikanischen Autorin übersetzt, wobei sie wiederum von Guy Jean unterstützt wird, der zwei amerikanische Dichter ins Französische übersetzt hat. Ich erzähle, dass ich ebenfalls Übersetzer bin und von meinem Projekt, und es entspinnt sich ein angeregtes Gespräch, in dessen Verlauf sie mir eine gerade erschienene Anthologie mit 40 Québecer Dichterinnen, Femmes rapaillées, leiht, in denen ich mehrere Autorinnen finde, die ich mir in der Folge näher ansehe. Wir verabreden, uns wiederzusehen. Ich muss ihr ja auch das Buch zurückgehen.

Anschließend treffe ich in einer Bäckerei Guy Jean wieder. Auf der Straße sind bunt und phantasievoll gekleidete Gestalten unterwegs, die die Passanten ins Gespräch ziehen, Wörter verteilen und Texte vorlesen oder Reden halten, es herrscht eine fröhliche Atmosphäre in der Straße. Inzwischen hat sich auch Michel Côté mit seiner Lebensgefährtin dazugesellt, und wir gehen eine Suppe essen.

Eine Woche später lädt Michel Côté mich zum Mittagessen ein. Er wohnt in Chelsea mitten im Wald, in einem wunderschönen Haus mit großen Räumen, die zum Teil ineinander übergehen, über zwei Stockwerke, so dass man von oben in die unteren Räume blicken kann. Solange der Klavierstimmer noch da ist und den Flügel stimmt, zeigt er mir seine Bücher, darunter viele wunderschöne, sehr originelle, teils von Japan inspirierte Künstlerbücher. Ich erfahre auch, dass er mit Gilles Cyr befreundet ist, dem ersten Dichter, den ich 2013 in Montréal kennengelernt und übersetzt habe.

Am Donnerstag der dritten Woche soll ich in der Maison des auteurs vor eingeladenen Autoren über mich und mein Projekt sprechen. Es kommen etwa acht, neun Autoren, darunter wiederum Guy und Michel sowie Mélanie und eine Kommilitonin von ihr. Ich erzähle eine Weile von mir und meinem Projekt, und es entspinnt sich eine recht lebhafte Diskussion übers Übersetzen.

Ein paar Tage später besucht Mélanie mich und fragt mich, ob ich nicht Lust hätte, in ein Seminar zu kommen, freitags um 13 Uhr, das im Grunde nur aus ihr, ihrer Kommilitonin und einer Dozentin besteht und in dem sie sich mit der documenta 5 beschäftigen, die 1972 in Kassel stattfand und eine der wichtigsten und umstrittensten documentas war, weil sie zum ersten Mal Happenings und der Performance- und Fluxus-Kunst sowie Nicht-Kunst Platz gab. Sie wollen eine Ausstellung über die documenta 5 mit etwa 40 Exponaten, darunter auch eine Reihe von Artikeln aus deutschen Zeitungen, aus New York, die im Januar in der Galerie der Uni gezeigt wird, kritisch kommentieren und hinterfragen und den zeitgeschichtlichen Kontext rekonstruieren, sie auf diese Weise sozusagen mit einer Meta-Ausstellung begleiten. Sie gibt mir vier deutsche Zeitungsartikel mit der Bitte, sie zu lesen und im Seminar eine Zusammenfassung über den Inhalt zu geben. Sie ganz oder teilweise ins Französische zu übersetzen, traue ich mich nicht.

Im Seminar zwei Wochen später sprechen wir zunächst allgemein über die documenta, und ich erfahre mehr über die geplante Ausstellung; anschließend sprechen wir über die Zeitungsartikel, und es entspinnt sich auch eine allgemeine Diskussion über das Übersetzen und die Situation der Übersetzer in Québec und in Deutschland. Für die nächste Woche beschließen wir, die letzten Abschnitte eines der vier Artikel für die Ausstellung ins Französische zu übersetzen. Ich bereite die Übersetzung so gut ich kann vor, und im Seminar überarbeiten wir gemeinsam meinen Versuch, was wiederum zu einer ergiebigen Diskussion über das Übersetzen und das richtige Verstehen einzelner Sätze führt. Eine interessante Erfahrung.

Am letzten Oktoberwochenende fahre ich mit dem Zug nach Québec City, wo ich einen Verleger kenne, Gilles Pellerin, der mit seinem Verlag L’Instant même die Gattung der Kurzgeschichte („nouvelle“) in Québec wiederbelebt hat. Am 28. Oktober feiert er das dreißigjährige Jubiläum seines Verlags im Literaturhaus von Québec, dessen Bibliothek, ganz in Weiß, in das Kirchenschiff einer ehemaligen Kirche in der Altstadt hineingebaut ist.

Am nächsten Tag sind Gilles und ich bei einem seiner Autoren zum Abendessen eingeladen, Hans-Jürgen Greif, ein Deutscher, der seit über vierzig Jahren in Québec lebt, an der dortigen Universität deutsche und französische Literatur unterrichtet hat und immer noch am Konservatorium Sängern die richtige deutsche Aussprache beibringt. Bei L’Instant même hat er Romane und Erzählungen, direkt auf Französisch geschrieben, veröffentlicht. Ich hatte ihn wie Gilles vor drei Jahren kennengelernt, und wir hatten uns auf Anhieb sehr gut verstanden. An dem Samstag regnet es, und ich verbringe fast vier Stunden in der Bibliothek des Literaturhauses. Ich hatte mir eine Liste von fünfzig Gedichtbänden gemacht, die ich mir dort anschauen wollte, und sie waren auch tatsächlich alle vorhanden.

Mit Gilles spreche ich auch über das Projekt der horen-Nummer. Er hatte mir bereits 2015, als ich ebenfalls im November für drei Wochen in Montréal war, um den Salon du livre zu besuchen, versprochen, mir zu helfen, eine Förderung der Übersetzungen für das Heft zu finden. Da Kanada, im Unterschied zu den meisten anderen Ländern, die Förderung nicht direkt an den deutschen Verleger zahlt, muss der Antrag in Kanada von dem dortigen Verleger des entsprechenden Buchs gestellt werden, der die Förderung dann an den deutschen Verleger weitergibt; im Fall von Anthologien und Zeitschriftennummern, bei denen mehrere Autoren und Verleger beteiligt sind, braucht man einen Verleger vor Ort, der das Ganze koordiniert, den Antrag stellt und die Förderung weiterleitet. Gilles wird ein Dossier vorbereiten, auf dessen Grundlage wir mit Louis Dubé, dem zuständigen Vertreter der SODEC (Société de développement des entreprises culturelles), auf dem Salon du livre in Montréal über eine mögliche Förderung sprechen wollen.

Am Freitag der dritten Woche bekomme ich Besuch von meinen Freunden aus Montréal, Elisabeth Morf und Louis Bouchard, die ich vor drei Jahren kennengelernt hatte. Elisabeth hat dreißig Jahre lang die Bibliothek des Goethe-Instituts in Montréal geleitet und kennt Gott und die Welt, und Louis fünf Jahre lang die deutsche Buchhandlung im Goethe-Institut, bevor sie geschlossen wurde. Inzwischen ist Elisabeth längst pensioniert, hat aber immer noch Verbindung zum Goethe-Institut.

Sie nehmen mich mit zu einer Veranstaltung über den deutschen Autor und Maler Fritz Grasshoff (1913–1997), der die vierzehn letzten Jahre seines Lebens in Québec verbracht hat. Er schrieb vor allem Balladen und Songs, auch Schlagertexte u.a. für Lale Andersen und Freddy Quinn (auch Hans Albers' Evergreen „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“ ist von ihm). Daneben schuf er ein bedeutendes graphisches und malerisches Werk. Elisabeth und Louis waren mit Grasshoff befreundet, in ihrer Wohnung hängen auch ein paar Gemälde von ihm. Die Veranstaltung findet in einer deutschen Kirche im italienischen Viertel („Little Italy“) von Ottawa statt, die Schwiegertochter ist anwesend, man erfährt einiges über Fritz Grasshoff, auch Elisabeth erzählt über ihre Begegnungen mit ihm, und es werden Texte von ihm gelesen und gesungen. Ein sehr schöner, interessanter Abend mit ausschließlich deutschem Publikum. Anschließend gehen wir noch in kleinerer Runde beim Italiener essen.

Musikalische Erlebnisse

Am Mittwoch der dritten Woche beschließe ich, mir ein bisschen Ottawa anzuschauen. Es ist herrliches Wetter, ideal, um Fotos zu machen. Am Musée canadien de l’histoire vorbei, von dem aus man sehr schön das Parlament auf der anderen Flussseite sehen kann, gehe ich zu der Brücke, die nach Ottawa führt, überquere sie und gehe weiter bis zum Parlament. Da ich etwas von der Stadt sehen will, beschließe ich, zu Fuß zum Busbahnhof zu gehen, wo ich Mitte November den Bus nach Montréal nehmen will; eine Reihe von Straßen führt vom Parlament aus kerzengerade in dessen Richtung. Ich wähle eine von ihnen, die Kent Street, und nach einer halben Stunde Fußmarsch komme ich zur Catherine Street, an der der Busbahnhof liegt. Zurück wähle ich eine Parallelstraße, die Rue Elgin Street (in Ottawa ist alles zweisprachig ausgeschildert). Als ich fast am Ende bin, entdecke ich das National Arts Center (Centre National des Arts). Es findet dort gerade ein kleines Beethoven-Schumann-Festival statt, mit allen fünf Klavierkonzerten von Beethoven und den vier Symphonien sowie dem Klavierkonzert von Schumann mit fünf verschiedenen Pianisten und dem Orchester des NAC. An diesem Abend werden das 3. Klavierkonzert von Beethoven und die 3. Symphonie von Schumann gespielt, am nächsten Tag das 4. Klavierkonzert von Beethoven und die 4. Symphonie von Schumann.

Vor dem Konzert gibt es ein Einführungsgespräch mit dem jungen neuen Chefdirigenten des Orchesters, Alexander Shelley, der gerade seine zweite Saison als Chefdirigent des Orchesters beginnt. Er ist Engländer, hat in Deutschland studiert und ist seit 2009 Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker, wo er nach dieser Spielzeit aufhört. Im Einführungsgespräch macht er einen sehr guten Eindruck, er spricht sehr klug und interessant über die Komponisten und Werke. Später im Konzert fasst er vor dem Beginn des Konzerts das Wichtigste noch einmal zusammen. Auch als Dirigent gefällt er mir sehr, das Orchester folgt ihm aufmerksam und präzise, die Dritte von Schumann, die „Rheinische“, gelingt spannend und auf sehr hohem Niveau.

Am nächsten Tag mache ich mich, bei fiesem Regenwetter, daher trotzdem wieder auf den Weg nach Ottawa, mit dem Bus von mir bis zum Parlament, von dort aus sind es nur fünf Minuten zu Fuß zum National Arts Center, das übrigens gerade gründlich renoviert wird. Der Konzertsaal, in Schwarz und Beige, ist bereits akustisch „überarbeitet“ worden, die Akustik ist auch durchaus gut. Auch diesmal wieder ein sehr gutes Konzert. Rudolf Buchbinder, der im Dezember siebzig wird und sein Kanada-Debüt gibt, spielt das 4. Klavierkonzert ganz wunderbar, aufmerksam begleitet vom Orchester. Auch die 4. Symphonie von Schumann gelingt hervorragend. Das kanadische Publikum schnellt nach dem letzten Ton von den Sitzen hoch und applaudiert heftig, aber nur sehr kurz. Das war mir schon vor drei Jahren in Montréal aufgefallen. In der Pause beschwert sich ein Herr bei meiner Nachbarin darüber, dass die Künstler nie Zugaben geben. Kein Wunder, denke ich bei mir, wenn ihr immer nur so kurz applaudiert.

Anfang November gibt es im eigentlichen Gatineau, in der Salle Odyssée in der dortigen Maison de la Culture, die seit 25 Jahren existiert, eine Aufführung der Oper La Traviata von Giuseppe Verdi. Ich gehe zusammen mit Michelle hin, wir sind eingeladen von der Ville de Gatineau. Ein Orchester gibt es in Gatineau seit zehn Jahren. Das bei den Streichern auf Kammerorchestergröße reduzierte Orchester sitzt so auf der Bühne, dass die Vorderbühne in der Mitte und rechts frei bleibt für die Sänger und eine Andeutung von Inszenierung. Der Dirigent steht leicht schräg links vorne vor den ersten Geigen. Es gibt ein angedeutetes Bühnenbild mit zwei Tischen und drei Brettern, und die Sänger tragen Kostüme und spielen. Der Chor im ersten Akt (die Festgesellschaft) und im 2. Bild des 2. Aktes (im Programmheft als 3. Akt bezeichnet) ist gestrichen, das Ballett zu Beginn des 2. Bildes des 2. Aktes ebenfalls (schade um die schöne Musik) sowie ein paar Nebenrollen, die Dienerin von Violetta und der Arzt im 3. Akt. Sonst aber wird die Oper vollständig gespielt und das gar nicht mal schlecht. Dirigent und Orchester machen ihre Arbeit ordentlich – „c’est correct“, würde man hier sagen –, und die Sänger haben schöne Stimmen, besonders gut gefällt mir der Sänger des alten Germont, des Vaters von Alfredo. Das Publikum ist begeistert, aber auch hier dauert der Applaus nicht allzu lange.

Zwei Wochen später sehe ich mit Eric Dupont in der Oper von Montréal Don Giovanni von Mozart. Eric Dupont hatte ich 2011 in München kennengelernt, wo er ein dreimonatiges Stipendium in der Villa Waldberta in Feldafing hatte, das gleiche Stipendium, das ich dann zwei Jahre später in Montréal hatte. Wir hatten uns auf einer Lesung in München kennengelernt, wo er aus seinem Roman Bestiaire las; damals schrieb er an seinem Roman La Fiancée américaine, der 2012 erschien und ein Riesenerfolg wurde. Seither versuche ich einen deutschen Verlag für den Roman zu interessieren, den ich unbedingt übersetzen möchte.

2015 haben wir bereits zusammen Elektra von Richard Strauss gesehen, dirigiert von Yannick Nézet-Séguin, dem Chef des Orchestre Métropolitain in Montréal und musikalischer Chef der Met ab 2018, auch regelmäßiger Gast in München beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, in kurzärmligem weißem T-Shirt, was sogar in der Presse vermerkt wurde. Die Inszenierung des Don Giovanni war in der wichtigsten Tageszeitung von Montréal, Le Devoir, vom hiesigen Musikkritikerpapst in Grund und Boden verrissen worden, aber eigentlich ist es eine relativ harmlose, konventionelle Inszenierung mit ein paar Albernheiten, deren schlimmste darin besteht, dass Don Giovanni am Ende der Oper, statt in die Hölle zu fahren, einfach hastig von der Bühne läuft, als müsste er dringend aufs Klo. Die Sänger, lauter Kanadier, sind durchgängig sehr gut, was auch der Kritiker bescheinigt hatte, der Dirigent, den ich nicht kenne, ebenfalls.

Montréal

Am Sonntag, den 13. November, fahre ich für zehn Tage nach Montréal, wo vom 16. bis 21. November der Salon du livre stattfindet. Ich wohne, wie schon im letzten Jahr, bei Elisabeth und Louis, wo ich zu einem mehr als günstigen Preis im Erdgeschoss ein großes, schönes Zimmer mit vielen Büchern und eigenem Bad zur Verfügung habe; sie selbst wohnen im Stock darüber. Ich habe auch so etwas wie „Familienanschluss“, indem ich manchmal zum Frühstück oder zu Mittag oder abends nach oben kommen kann und mit dem leckersten Essen verwöhnt werde. Sie wohnen in Outremont, dem Viertel der orthodoxen Juden. Auf den Straßen sieht man viele schwarz gekleidete Männer mit Schläfenlocken schnellen Schrittes dahineilen.

Am nächsten Tag bin ich mit Gilles Cyr und seiner Lebensgefährtin Renée, einer Künstlerin, die vor allem zeichnet, beim Koreaner in der Rue Saint-Denis verabredet, ganz in der Nähe der Wohnung, in der ich 2013 gewohnt habe. Gilles Cyr war der erste Québecer Dichter, den ich damals in Montréal kennengelernt hatte, ziemlich zu Beginn meines damaligen Aufenthalts Mitte Oktober, auf einer ganztägigen Tagung über das Übersetzen (auf dieser Tagung hatte ich auch Elisabeth und Louis kennengelernt). Wir hatten uns angefreundet, und ich hatte Gedichte von ihm übersetzt, die wir am 11. Dezember 2013 im Goethe-Institut zweisprachig lasen. Ein Teil dieser Übersetzungen werden jetzt in dem horen-Heft erscheinen.

Am nächsten Tag gehen wir abends in die Premiere eines der beiden neuen Stücke von Larry Tremblay, den ich ebenfalls 2013 kennengelernt habe und der ein enger Freund von Elisabeth ist. Es handelt sich um ein Stück für Jugendliche, Le garçon au visage disparu, in dem ein Junge sein Gesicht verliert, die Uraufführung findet in einem kleinen Theater statt, La Licorne. Die Handlung ist ein bisschen wirr, aber originell und fantasievoll inszeniert, die vier Schauspieler sind sehr gut. Im Theater treffe ich auch Diane Isabelle vom CALQ wieder. Larry Tremblay ist nicht nur ein bedeutender Autor von Theaterstücken, er hat auch Romane geschrieben, darunter L’Orangeraie (2013), der in mehrere Sprachen, darunter auch ins Deutsche, übersetzt wurde und mittlerweile dreizehn Preise bekommen hat, und mehrere Gedichtbände veröffentlicht. 2014 war er nach München eingeladen, wo bei den Tagen des Québecer Theaters im Teamtheater zwei Stücke von ihm in Lesungen präsentiert wurden.

Ab dem 16. November, einem Mittwoch, bin ich bis einschließlich Sonntag jeden Tag, meist ab Mittag, auf dem Salon du livre. Am Mittwoch führt mich mein erster Weg zu dem Verlag Écrits des forges, wo ich mich lange mit dem Verlagsleiter Bernard Pozier unterhalte, der auch Dichter ist. Écrits des forges gehört zu den Verlagen, die sich ganz der Lyrik verschrieben haben, in mehr als vierzig Jahren sind über 1500 Titel zusammengekommen. Dort lerne ich auch David Goudreault kennen, eine der wichtigen jungen Stimmen der Québecer Literatur, Sozialarbeiter und Slammer, der gerade seinen dritten Gedichtband bei Écrits des forges und den zweiten Band einer Romantrilogie veröffentlich hat.

Anschließend gehe ich weiter zu einem anderen (fast) reinen Lyrikverlag, Les Poètes de brousse, deren Verleger Jean-François Poupard ebenfalls Lyriker ist und der vor allem jüngere Dichter publiziert. Ich treffe dort auch seinen Kollegen François Guerette wieder, beide schreiben Gedichte, die mir sehr gefallen. Ich begegne auch Gilbert Caillère vom Verlag Marchand des feuilles, bei dem die Romane von Eric Dupont erscheinen, er erzählt mir von einigen Büchern, die mich interessieren könnten. Um sechs gehe ich zur offiziellen Eröffnung des Salon du livre (der ganze Salon findet in einem einzigen großen Saal statt, trotz mehrerer hundert Verlagen geradezu winzig und idyllisch im Vergleich zur Frankfurter Buchmesse, weitere Buchmessen gibt es auch in Québec City und in Gatineau).

Danach schlendere ich noch etwas durch die Halle (der Salon ist bis 21 Uhr geöffnet) und bleibe am Stand von Mémoire d’encrier hängen, ein Verlag, der vor allem autochtone und haitianische Autoren verlegt. Ich schaue mir die Bücher von einigen Dichterinnen an, die mich interessieren (Natacha Kanapé Fointaine, Joséphine Bacon, Youanessa Younsi, Mitherausgeberin der schon erwähnten Anthologie Femmes rapaillées, die auch bei Mémoire d’encrier erschienen ist) und unterhalte mich mit dem Verleger Rodney Saint-Éloi, der aus Haiti stammt. In den folgenden Tagen lerne ich die erwähnten Autorinnen auch am Stand des Verlags kennen, und ich bitte Joséphine Bacon, mir ein Gedicht in ihrer Muttersprache vorzulesen, die wunderschön klingt.

Am Donnerstag komme ich gegen 14 Uhr auf den Salon und besuche weitere Verlage, unter anderem Le Quartanier, bei dem zwei Autoren verlegt werden, von denen mir der eine, Samuel Archibald, mit einem Erzählungsband von meiner Kollegin Sonja Finck empfohlen worden war, die ich 2013 nach der Lesung mit Gilles Cyr im Goethe-Institut kurz kennengelernt und im Mai, wiederum bei den Québecer Theatertagen, in München wiedergesehen hatte (sie wohnt einen Teil des Jahres in Gatineau und den anderen in Berlin), und der andere, Daniel Grenier, ebenfalls mit Erzählungen, von Jennifer Dummer, die in Berlin wohnt und mehrmals im Jahr nach Montréal fliegt und die im Internet einen Blog, „quélesen“, zur Québecer Literatur hat, auf dem man sich sehr gut anhand von Interviews und Rezensionen über Neuerscheinungen Québecer Autoren informieren kann.

Um 19 Uhr gibt es ein „atélier“ zum Thema Übersetzen, für das zwei Übersetzer, darunter Jean-Pierre Pelletier, der nicht nur Dichter ist, sondern auch Übersetzer aus dem Englischen und Spanischen, dasselbe Gedicht einer mexikanischen Dichterin übersetzt haben (Mexiko ist Gastland des Salon). Zuerst liest die mexikanische Dichterin, die sehr gut Französisch spricht, das spanische Gedicht, dann Jean-Pierre und eine andere Übersetzerin jeweils ihre Übersetzung. Anschließend entspinnt sich eine sehr spannende Diskussion über die beiden Versionen, die teilweise übereinstimmen, aber auch signifikante Unterschiede aufweisen, an denen sich die Diskussion entzündet.

Am Freitag lerne ich Paul Bélanger kennen, den Leiter des wichtigen Montréaler Verlags Noroît und ebenfalls Dichter, dessen Gedichte ich sehr mag. Ich habe neben seinen Gedichten noch einige weitere Lyriker und Lyrikerinnen seines Verlags auf meiner Liste, und er verspricht, mir am Sonntag einige Bücher, die er nicht am Stand hat, mitzubringen. Am Abend bin ich bei Francis Catalano eingeladen, einem weiteren Dichter, dessen Vater Italiener ist. Italienisch hat er aber erst durch seine Frau Antonella, eine Römerin, gelernt, die er durch einen anderen Dichter, ebenfalls mit italienischen Wurzeln, Antonio d’Alfonso, kennengelernt hat. Beide hatte ich ebenfalls 2013 während meines Stipendiums in Montréal erstmals getroffen. Bei Antonio sind wir am darauffolgenden Montag eingeladen, zu einer Pasta. Antonio ist ein sehr impulsiver, aber sehr sympathischer Mensch, der ziemlich extreme Positionen vertritt, was zu heftigen Diskussionen führt, und der Abend endet nach vier Flaschen Rotwein und viel Klaviermusik von Schumann, den er gerade entdeckt, gegen halb drei Uhr morgens.

Am Samstagvormittag um elf habe ich einen Termin mit Louis Dubé von der SODEC wegen einer möglichen Förderung der Übersetzungen für das horen-Heft. Gilles Pellerin, der auf der Grundlage meiner Autorenliste und weiterer Informationen über die Zeitschrift, um die ich den Herausgeber per E-Mail gebeten hatte, in Absprache mit mir ein Dossier vorbreitet und an Louis Dubé geschickt hat, kann leider nicht nach Montréal kommen, weil er sich gesundheitlich nicht so fit fühlt, weswegen ich mit seiner Frau Marie, die tatkräftig im Verlag mitarbeitet, zu dem Gespräch gehe. Es verläuft sehr gut, mein Projekt findet Anklang, ich habe das Gefühl, dass Louis Dubé eine Förderung durchaus befürworten wird.

Um eins bin ich mit Jennifer Dummer verabredet, die ich bis jetzt nur zweimal relativ kurz 2015 in Frankfurt und im Mai in München getroffen habe. Es ist schön, jetzt einmal länger miteinander reden und sich besser kennenlernen zu können. Sie hat eine Reihe von Interviews mit Autoren und Verlegern für ihren Blog „quélesen“ gemacht. Am Abend gehe ich mit Eric in die Oper. Am Sonntag mache ich einen letzten Bummel über die Buchmesse, abends bin ich bei Jean-Pierre und Dominique in Laval eingeladen. Am Montag bin ich noch mit dem Vertreter der Bayerischen Regierung in Montréal, Benjamin Emans, und am Dienstag mit Diane Isabelle vom CALQ zum Mittagessen verabredet. Da ich sowohl in Gatineau und Ottawa als auch auf dem Salon du livre (mit Rabatt) zahlreiche Bücher gekauft und außerdem viele Bücher von Autoren geschenkt bekommen habe, gebe ich ein erstes Paket von knapp 16 kg mit etwa 50 Büchern auf, per Schiff, was um die 160 kanadische Dollar (etwa 112 Euro) kostet.

Am Mittwochnachmittag treffe ich schließlich noch, bevor ich um 18 Uhr den Bus zurück nach Gatineau nehme, den Künstler, den ich, wie es Tradition der horen ist, in meinem Québec-Heft vorstellen will, Jean-Louis Bougie, der auf dem Gebiet der Druckgraphik, Radierung, Lithographie usw., arbeitet und den ich 2015 in Montréal kennengelernt habe. Er war mir von Bernard Lévy, Herausgeber der wichtigsten Kunstzeitschrift von Québec, Vie et Arts, empfohlen worden. Sein Atelier liegt im Mile End, dem Künstlerviertel von Montréal, nicht sehr weit weg von Elisabeth und Louis. Ich hatte ihn damals besucht und auch seine Nichte Geneviève, die ihn vertritt, kennengelernt. Er hatte mir gleich ein umfangreiches Buch über sein Werk mit vielen Abbildungen geschenkt, und seine Arbeiten hatten mir auf Anhieb so gut gefallen, dass für mich feststand, dass er der Künstler sein würde, den ich in meinem horen-Heft vorstellen würde.

In Québec gilt er als bedeutender Künstler, er hat mehrere Jahre in Paris gelebt und ist in Europa herumgereist, in Deutschland ist er bislang so gut wie unbekannt. Vor vielen Jahren hat er auch, ganz in der Nähe seines Ateliers, ein sogenanntes „Atélier circulaire“ gegründet, in dem an die 100 Künstler, die ebenfalls auf dem Gebiet der Radierung und Lithographie arbeiten, Arbeitsmöglichkeiten haben, in großen Räumen mit den entsprechenden Druckmaschinen. Ich habe sein Buch dabei, in dem ich eine Reihe von Bildern mit Bleistift angekreuzt habe. Wir gehen die Bilder durch und wählen 16 aus, dazu auch eins mehr im Querformat für den Umschlag, und besprechen die technischen Dinge. Ich lasse das Buch da, damit Geneviève nachschauen kann, von welchen Bildern sie bereits Dateien hat, die man für das Heft verwenden kann. Da es Anfang Dezember eine kleine Ausstellung im Atelier geben wird, verabreden wir, dass ich wiederkomme, wenn ich Anfang Dezember in Montréal bin. Dann begebe ich mich zum Busbahnhof und nehme den Bus zurück nach Gatineau.

Letzte Tage

Am 23. November gegen 22 Uhr bin ich wieder zurück in der Maison Scott-Fairview. Noch eine Woche, dann ist mein Aufenthalt in Gatineau nach acht Wochen vorüber. Am nächsten Tag, ein Donnerstag, bin ich zum Mittagessen mit meiner Kollegin Sonja Finck verabredet, die für zwei Wochen aus Berlin nach Gatineau gekommen ist. Wir treffen uns in einem nordafrikanischen Restaurant im Vieux Hull, anschließend gehen wir noch auf einen Kaffee zu ihr nach Hause. Sie wohnt nicht weit vom Restaurant in einem hübschen kleinen, hellblau gestrichenen Häuschen mit ihrer Frau und einer zutraulichen schwarzen Katze. Ich freue mich, dass wir auf diese Weise endlich einmal Gelegenheit haben, uns ein wenig ausführlicher auszutauschen.

Am nächsten Tag findet zwischen 17 und 19 Uhr meine offizielle Abschiedsveranstaltung in der Maison Scott statt, auf der ich über meinen Aufenthalt in Gatineau und die Fortschritte meines Projekts berichten soll. Es kommen an die zwanzig Personen, neben Françoise und Michelle, die Brot, Käse und ein paar andere Knabbereien mitbringt, Guy Jean, Michel Côté, Mélanie und einige anderen Autoren und Personen, die ich eher flüchtig kennengelernt habe, auch ein paar Leute, die ich nicht kenne. Ich erzähle und beantworte Fragen, danach ergeben sich Gespräche in kleinen Gruppen.

Am Sonntagnachmittag um 16 Uhr ist noch eine weitere Veranstaltung angesetzt, an der ich teilnehmen soll, in der Maison du Citoyen, dem Rathaus von Hull, auf der wir, Mélanie, Geneviève, die Dozentin des Seminars, in dem ich zweimal war, die Galeristin und die Dozentin eines zweiten begleitenden Seminars und ich, die Ausstellung über die documenta 5 in der Galerie der Uni vorstellen und über die begleitende Arbeit der Studenten berichten. Das Publikum ist sehr handverlesen, außer Guy Jean sind noch drei Damen gekommen und auch, worüber ich mich sehr freue, Madeleine Stratford, die im November zwei Wochen in Deutschland war, wo die Universität Erlangen-Nürnberg sie für Vorträge und Seminar eingeladen hatte, und die intensiv an der Diskussion teilnimmt.

Am nächsten Morgen holt Michel Côté mich ab, und wir fahren auf einen Kaffee nach Aylmer, wie Hull eine der Gemeinden, die Anfang 2002 zu Gatineau zusammengelegt wurden. Michel fährt mit mir ein wenig durch den Ort, der mir weitaus besser gefällt als Hull, bis an den Fluss, wo im Sommer ein reger Badebetrieb herrscht. Anschließend trinken wir einen Kaffee im Café British in der Rue Principale. Unser letztes Gespräch.

Der Mittwoch ist mein letzter Tag. Der Kühlschrank ist leer, ich putze noch so weit wie nötig die Küche und das Bad, wasche die Bettwäsche und packe meinen Koffer. Um neun holt Jean Guy mich zum Frühstück ab. Wir fahren ein Stück und frühstücken im Café Cinq sens, das witzigerweise schräg gegenüber von dem Gebäude liegt, in dem François und Michelle ihr Büro haben. Nach dem Frühstück fahren wir noch kurz zu ihm, und ich verabschiede mich auch von Guys Frau Violette, die ich bei einer Einladung zum Abendessen bei ihnen zusammen mit Michelle kennengelernt habe. Beide laden mich ein, wenn ich mal wieder nach Gatineau komme, bei ihnen zu wohnen. François und Michelle fahren mich zum Busbahnhof in Ottawa, und ich nehme den Bus nach Montréal, wo ich noch ein paar Tage anhängen will.

An dem Abend wird in der Maison des écrivains Francis Catalanos Übersetzung des Gedichtbandes Bocca secreta des italienischen Lyrikers Fabio Scotto vorgestellt. Ich treffe bekannte Gesichter wieder, neben Francis und seiner Frau Antonella auch Gilles Cyr und Jean-Pierre Pelletier mit seiner Frau Dominique. Vor der Lesung unterhalte ich mich mit Fabio Scotto, allerdings auf Französisch, das er ausgezeichnet spricht, er hat zahlreiche französische Dichter ins Italienische übersetzt. Der Verleger von Noroît, dem Verlag, in dem die französische Übersetzung erschienen ist, führt ein Gespräch mit dem Dichter und seinem Übersetzer, und beide lesen zweisprachig ein paar Gedichte. Anschließend singt Fabio Scotto zur Gitarre drei selbstgeschriebene Lieder, denn er hat eine Zeitlang auch Lieder komponiert und ist als Sänger aufgetreten. Wenn er singt, wird er fast eine andere Persönlichkeit, er setzt seine Brille ab und auch sein Gesicht verändert sich. Nach der Veranstaltung gehen wir noch in einer kleineren Gruppe mit dem Autor und dem Verleger, Francis und Antonella, Jean-Pierre und Dominique in einem Restaurant in der Nähe, dem Café Cherrier an der Rue Saint-Denis, essen.

Am nächsten Tag besuche ich am späteren Nachmittag Louis-Pierre Bougie in seinem Atelier. Am Abend kommt Larry Tremblay zum Abendessen bei Elisabeth und Louis vorbei und bringt mir vier seiner Gedichtbände mit, von denen die frühen vergriffen sind. Ich freue mich, dass ich ihn auf diese Weise noch einmal sehe.

Am Freitag bin ich um 10 Uhr mit Carole Boutin, der für die Auslandsrechte verantwortlichen Dame des Verlags Stanké, verabredet. Da der Verlag Teil einer Verlagsgruppe ist, können sie sich, im Unterschied zu den meisten anderen Quebecer Verlagen, jemanden leisten, der hauptsächlich für die Kontakte mit ausländischen Verlagen zuständig ist. Sie fährt seit siebzehn Jahren regelmäßig auf die Frankfurter Buchmesse und hat gute Verbindungen zu einer Reihe von deutschen Verlagen, auch in München. David Goudreault, den ich kurz kennengelernt und dessen Gedichtbände ich bereits gelesen hatte, hat bei Stanké die ersten beiden Bände einer Romantrilogie veröffentlicht und hatte ihr von mir erzählt. Per E-Mail hatten wir uns zu einem Gespräch verabredet. Es ist das erste Mal, dass ich einen Verlag in Montréal von innen sehe. Wir unterhalten uns fast eine Stunde. Am Abend bin ich noch mal bei Jean-Pierre und Dominique in Laval eingeladen. 

Für den Samstagnachmittag habe ich mich noch einmal mit Gilles Cyr bei ihm zu Hause verabredet, weil ich ihm noch zwei Bücher zurückgeben muss, die er mir vor meiner Rückkehr nach Gatineau geliehen hat. Vorher gehe ich essen zu Schwartz, einem jüdischen Traiteur, der berühmt ist für sein „smoked meat“. Sein Lokal liegt in der Rue Saint-Laurent im früheren jüdischen Viertel von Montréal, in dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche osteuropäische Juden lebten, die Jiddisch sprachen, darunter auch Schriftsteller und Dichter, die auf Jiddisch schrieben. Schwartz ist eine echte Institution, vor der Tür bilden sich vor allem mittags immer lange Schlangen. Als ich gegen 13 Uhr dorthin komme, warten auch etwa zwanzig Personen vor mir. Aber immer wenn ich in Montréal bin, jetzt das dritte Jahr, muss ich mindestens einmal dorthin gehen, allein schon wegen der Atmosphäre in dem langgezogenen schmalen Raum mit Tischen auf der linken Seite und einem Bartresen auf der rechten, an dem man ebenfalls sitzen und essen kann. Die Spezialität sind Sandwiches mit smoked meat (viande fumée) und Senf, dazu eine große Gewürzgurke oder Krautsalat und Pommes frites. Inzwischen gehört der Laden, wie Louis mir erzählte, der Sängerin Céline Dion.

Beim Essen komme ich mit einem Ehepaar mit schon erwachsener Tochter ins Gespräch, die unmittelbar vor mir gewartet hatten, in Montréal geboren, aber englischsprachig, sie wohnen in Westmount, einem englischsprachigen Viertel von Montréal. Der Mann spricht aber gut Französisch, die Frau und die Tochter weniger gut. Ich erzähle, dass ich bei Freunden in Outremont wohne, dem jetzigen orthodoxen jüdischen Viertel, und dass das frühere, viel weniger orthodoxe jüdische Viertel hier gewesen sei und die Leute Jiddisch gesprochen hätten. Und da sagt er mir, dass die Muttersprache seiner Frau, die ihm gegenüber sitzt, Jiddisch sei. Ich bin vollkommen verblüfft, plötzlich mit jemandem am Tisch zu sitzen, der Jiddisch spricht, und bitte sie, etwas auf Jiddisch zu sagen (ich habe mich mal eine Weile intensiver für Jiddisch interessiert und auch einen Kurs gemacht), ich antworte ihr auf Deutsch, das sie einigermaßen versteht, wenn auch weniger gut als ich ihr Jiddisch. Eine ganz unerwartete interessante Begegnung.

In der Nacht von Sonntag auf Montag fängt es an zu schneien, und es schneit den ganzen Montag. Ich bringe noch ein zweites Paket Bücher zur Post, wieder fast 16 kg und wieder für knapp 160 kanadische Dollar. Am Abend schaue ich mir mit Eric La Vache an, eine Art französisches Roadmovie, das von einem Algerier erzählt, der eine französische Kuh hat, mit der er sich für einen Wettbewerb auf der Pariser Landwirtschaftsausstellung (Salon d’agriculture) anmeldet. Als er tatsächlich ein Einladung erhält, verlässt er mit seiner Kuh Jacqueline sein algerisches Dorf und seine Familie und macht sich von Marseille aus zu Fuß auf den Weg nach Paris. Der Film erzählt seine Abenteuer während der Reise, das Fernsehen wird auf ihn aufmerksam und er wird zum Volkshelden. Ein sehr schöner Film. Anschließend gehen wir noch eine Pizza essen. Eric wird die erste Hälfte des nächsten Jahres in Paris sein, in der dortigen Wohnung des Centre des arts et des lettres du Québec, vielleicht sehen wir uns dort oder in München wieder.

Am 6. Dezember geht abends um 20 Uhr mein Flieger direkt nach München. Eine wunderschöne Zeit ist vorbei. Ich bin ein bisschen wehmütig und traurig. Aber ich werde wiederkommen.

 

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