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24.11.2021, 12:18 Uhr
Udo Kawasser
Literarische Notizen aus Québec
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Cover (c) lichtungen

Lyrik aus der Region Outaouais (Québec)

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Alle Fotos (c) Reinhard Lechner

„Durch Stipendien kommen die Leute zusammen“ könnte man exemplarisch über den Lyrikschwerpunkt aus der Region Outaouais im Heft sagen. Denn zwei der drei Herausgeber, der Grazer Autor Reinhard Lechner, der auch Redaktionsmitglied der lichtungen ist, und Michael von Killisch-Horn, der als freier Übersetzer in München lebt, hatten in den vergangenen Jahren zweimonatige Aufenthaltsstipendien des Bayerischen Staatsministeriums in Gatineau, der Hauptstadt der Verwaltungsregion Outaouais, die am Ottowa-River genau gegenüber von Ottowa, Kanadas Hauptstadt, liegt. Dort ist nach dem Vorwort der Herausgeber, zu denen sich als dritter der „Doyen der Lyrikszene der Region“, der 1935 geborene Guy Jean gesellt, eine der „lebendigsten Literaturszenen außerhalb Montréals“ beheimatet. Wie stark aber auch in diesen französischsprachigen Teil Kanadas die andere große Landessprache ausstrahlt, zeigt sich gleich im ersten Gedicht der Auswahl von Alexandre Deschênes, dessen Lyrik besonders stark vom Quebécfranzösisch geprägt sei:

Rue Laval

Un réverbère qui flashe
sous la lumière
des klaxons sunshines
juste pour le beat
[…]

In der Übersetzung von Frank Weigand:

Rue Laval

Eine Straßenlaterne, die aufblitzt
unter dem Licht
Sunshine-Hupen
bloß für den Beat
[…]

Vom preisgekrönten Guy Jean, der nicht nur als Präsident des regionalen Schriftstellerverbands und Mitglied der Kunstkommission der Stadt Gatineau die Interessen der Literatur vertrat, sondern auch Mitbegründer des Verlags Éditions Neige-Galerie ist, bringt der Schwerpunkt Ausschnitte aus dessen letzten Gedichtband Une fois déjà (Einmal schon) von 2018. Für einen Dichter in den Achtzigern nicht verwunderlich, thematisieren die titellosen Gedichte das eigene literarische Erbe, aber auch die Familiengeschichte bis zurück zu den aus Frankreich stammenden Einwanderern, die als Hugenotten verfolgt wurden. In der Übersetzung von Michael von Killisch-Horn liest sich das so (S. 47):

[…]
die Worte der Vorfahren
verstecken sich in den Klageliedern
Trinkliedern Legenden
stummen Blasphemien.

Resigniert wird festgestellt:

Die Familiengeschichte
geschrieben in unsere Körper
eingeschrieben in unsere neuronalen Schaltkreise
geheim lässt sich nicht erzählen

Dennoch zielt die poetische Archäologie darauf, mit der eigenen Geschichte ins Einvernehmen zu kommen:

[…]
wer wird die Geheimnisse befreien
damit die Vorfahren endlich
„tot und begraben“ sind

sind wir fähig zu erkennen hinter dem Spiegel
die dunkle unbewusste Geschichte
und unsere Existenz zu besitzen

Doch der Dichter „weiß nicht wie“ das zu bewerkstelligen ist, das verdeckte Erbe könnte toxisch werden:

Antipersonenminen explodieren
in den Adern der Urenkel

Eine intensive poetische Erfahrung bietet die Lektüre von Michel Côtés Prosagedichten unter dem Titel „die Wörter so sie sich öffnen“ in der Übersetzung von Birgit Leib, die aus dem Band Le dernier tableau sera rouge (Das letzte Gemälde wird rot sein) von 2014 stammen. Der 81-Jährige lehrte chinesisches Denken und Philosophie der Kunst in Montreal und verbindet letztere mit Literatur. Die abgedruckten Texte inszenieren ein intimes Spiel der Imagination mit den Künstlerinnen Pina Bausch, Marguerite Duras und Virginia Woolf wie „in Reichweite der Stimme“ (S. 49):

Ins Unendliche, zu sich selbst, ist es so spät? Auf Fragmenten buchstabiere ich den Tag. Ich suche, was sich entzieht. Das Unvorhersehbare zuerst. Wo bin ich ohne das Privileg des Wegs? In der Nähe des Verlangens habe ich das Gefühl deiner Stimme. Ich werde zwischen den Lauten geboren. Durch deinen Körper, durch deine Finger.

Die Haikus des „Vaters des französischsprachigen Haikus in Kanada“, André Duhaime, sind ebenfalls von Erinnerung und Vergeblichkeit geprägt und zeigen, wie sich in der reduzierten Form des klassischen japanischen 5 – 7 – 5 in die Gegenwart emotionsgeladene Bilder generieren lassen, denen man gerne nachsinnt:

novemberhimmel
ein paar pusteblumen
all diese reue

Loïse Lavallée, 1948 geboren, ist mit Liebesgedichten aus dem Band Muscle de l’étreinte von 2014 präsent. Der französische Titel, der auch im Gedicht „Nostalgie“ wiederkehrt, führt bei der Übersetzung in ein Dilemma, denn eigentlich ist damit anatomisch der Sägezahnmuskel gemeint, der beidseitig am Brustkorb ansetzt und den Athlet*innenoberkörpern die charakteristische gezahnte Seitenzeichnung verleiht. Der französische Name des Muskels weiß aber nichts von Zähnen, sondern meint mit „étreinte“ die Umarmung, was natürlich viel besser zum Liebesthema passt. Aus diesem Grund hat sich die Übersetzerin wohlweislich gegen die fachsprachlich korrekte Bezeichnung und für den sprechenderen „Muskel der Umarmung“ entschieden. Doch wenn es anschließend heißt, dieser Brustkorbmuskel „umgürtet das Becken der Welt“ (Hervorhebung durch den Verfasser), wird es anatomisch unstimmig und man sähe gern das Original, um nachzusehen, wem das schräge Bild zu verdanken ist, der Dichterin oder der Übersetzerin. Literarisch originell und ergiebig ist, wie jedes Gedicht in zwei Spalten, in denen die einzelnen Strophen versetzt zueinander stehen, geführt wird. Zwar können beide Spalten separat gelesen werden, aber das lineare Lesen wird aufgebrochen, es entstehen anregende Irritationen und Querverbindungen wie in „Nostalgie“ (S. 59):

Die Gedichte der erfolgreichen Slammerin und Schauspielerin Marjolaine Beauchamp führen uns aus Frauenperspektive unter die Menschen in die Fallgruben und Untiefen des Zusammenlebens, im Ton direkt, zwischen abstrakten Reflexionsbits und derber Alltagssprache changierend. In „Social anxiety disorder“ (S. 85) werden die starrenden Blicke der anderen zum Thema, keimt der Wunsch auf:

Wie gern wäre ich eine von diesen jungen Mädchen
Die zu zweit pissen gehen

Da ist es dann nur konsequent, wenn es in „Stock Market“ (S. 87) heißt:

Ich entschuldige mich nicht mehr
Wenn ich unglücklich
Neben mir steh
Ein sezierter Körper
Für Biologie
Oder Psychologie
Je nachdem

Wie das eigene Leben mit der urbanen Geografie verbunden ist, erforscht Clara Lagacé, Jahrgang 1993 und damit die jüngste Stimme in diesem Outaouais-Dossier, in „betongedichte“ (S. 92):

die geschichte, die im beton steckt
ist schwerlich poetisch

In ihren Texten artikuliert sich ein Leben, das im Ungewissen des Beginnens steckt, das am vom Rande kommend nicht weiß, was es erwarten kann oder soll. In „die schöne graue“ (S. 93) bringt sie es so auf den Punkt: „ich bin immer irgendwo dazwischen auf der durchreise in erwartung des wahren anfangs“.

Und damit haben wir beim Durchblättern weder die Fülle des Outaouais-Schwerpunkts noch die des ganzen Hefts erschöpft, das noch weitere Gedichte, Prosa und Essays enthält. Am besten das Heft selber kaufen und der Poesie auf der Spur bleiben.