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Erich Kästner: Ein Freund der Kinder

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(c) Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv/Felicitas Timpe

Emil Erich Kästner, geboren am 23. Februar 1899 in Dresden, war Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter. Weltberühmt wurde er als Autor von Kinderromanen. Emil und die Detektive (1929), Pünktchen und Anton (1931), Das fliegende Klassenzimmer (1933) oder Das doppelte Lottchen (1949) wurden mehrfach verfilmt und millionenfach gelesen. Erich Kästner starb am 29. Juli 1974 in München. Er ist auf dem Bogenhauser Friedhof beerdigt. Die Kinderromane von Erich Kästner sind nicht vorstellbar ohne die Illustrationen und Buchumschläge des Zeichners Walter Trier. Mit dem Cover zu Emil und die Detektive hat Trier Illustrationsgeschichte geschrieben und zu Kästners Weltruhm beigetragen.

Am heutigen Tag hätte Erich Kästner seinen 125. Geburtstag gefeiert. An den vielseitigen großen Autor erinnert die Herausgeberin, Autorin und Journalistin Christine Knödler.

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Erich Kästner ist Kindheit. Erich Kästner ist Erinnerung. Die des Schriftstellers beim Schreiben und die zahlloser Leserinnen und Leser, die ihre Kindheit mit seinen Büchern verbracht haben. Emil Tischbein, Gustav mit der Hupe, Pünktchen und Anton, die doppelten Lottchen, der kleine Mann und der kleine Ulrich sind über Zeiten und Generationen hinweg Lese- und Lebensbegleiter geworden. Und so ist Erich Kästner bis heute auch Kindheit und Erinnerung von morgen: Groß-Eltern geben an ihre Enkel-Kinder weiter, was sie selbst einmal unterhalten und, wenn nötig, getröstet hat. So entstehen Traditionen. Den wenigsten Autorinnen und Autoren gelingt das.

Über Erich Kästner wurde vermutlich mehr geschrieben, als er selbst geschrieben hat. Und das war viel. Er war Dichter und Denker, Journalist, Kritiker, Satiriker, Skeptiker, er hat Erzählungen, Essays, Aphorismen, Romane, Kabarett-Texte und Drehbücher verfasst. Schreiben war sein Beruf und seine Berufung. Ein passionierter Karten- und Briefeschreiber war er außerdem.

Unvergessen sind die Ballade „Die Sache mit den Klößen“ über den Angeber Peter oder der Roman Fabian – Die Geschichte eines Moralisten und distanzierten Beobachters des Berliner Nachtlebens. Der erschien 1931, kurz vor der Machtergreifung Hitlers. Die Nazis haben Kästners Bücher verbrannt. Er, der damals schon ein berühmter Autor war, schaute aus einiger Entfernung zu, wurde erkannt – und verschwand. In Deutschland ist der frühe, unbeirrbare Kritiker von Nationalismus, Militarismus und Nationalsozialismus geblieben. Er lebte von Tantiemen aus dem Ausland und schrieb trotz Berufsverbots unter Pseudonym weiter. Die Drehbücher einiger Kinoerfolge sind von ihm. Zum Beispiel Münchhausen mit Hans Albers in der Titelrolle. Der Farbfilm wurde vom Reichspropagandaminister in Auftrag gegeben, um 25 Jahre Ufa-Filmstudios zu feiern. Goebbels erteilte Erich Kästner eine Sondergenehmigung. Der schrieb als Bertholt Bürger. Weder im Vorspann noch in der Presse tauchte er auf.

„Die Zeit ist kaputt“, lässt Kästner Münchhausen darin über eine kaputte Uhr sagen. Er sagt damit viel mehr. Denn Kästner konnte wohl an der Welt verzweifeln, vor allem aber hat er sie mit Humor und Heiterkeit beschenkt. Obwohl viele seiner Texte pessimistischer sind als sie zunächst klingen.

In seinem Oeuvre gibt es den „Optimistfink“, doch der lebt bezeichnenderweise nur im „Blätterwald“. Das Resümee des Gedichts „Ein alter Mann geht vorüber“ (1933/1946) geht so: „Vernunft muss sich ein jeder selbst erwerben, / Und nur die Dummheit pflanzt sich gratis fort. Die Welt besteht aus Neid. Und Streit. Und Leid. / Und meistens ist es schade um die Zeit.“[1]

Beklemmend hellsichtig hat der Autor schon 1927 in „Kennst du das Land, wo die Kanonen blüh’n?“ attestiert: „Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. / Was man auch baut – es werden stets Kasernen.“[2]

Das Land, wo die Zitronen blüh’n, hat Johann Wolfgang von Goethe schwärmerisch besungen. Kästner legt Widerspruch in Variation ein. In Deutschland blühen die Kanonen. Die Freiheit bleibt grün hinter den Ohren. Groß werden darf sie nicht. Es ist ein globales Phänomen. Das bekommt die Welt bis heute zu spüren.

 

Ein melancholischer Menschenfreund

Solche Sätze, so einfach sie daherkommen, blenden nichts aus. Sie entspringen einer Heiterkeit trotz allem. Vielleicht kann man es darum in Kästners Geschichten und Gedichten so gut aushalten. Vielleicht verweilt man deswegen so gern darin. Auch wenn es um verlorene Lieben geht, abhandengekommen wie ein Stock oder Hut, oder um verlorene Kinder. Kinder, die ihren Müttern wenig recht machen können oder die in einem fliegenden Klassenzimmer an ihren Kümmernissen derart leiden, dass sie zunächst lieber in die Tiefe springen als mit abzuheben.

(c) Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv/Felicitas Timpe

Als Autor stets auf Augenhöhe, ehrlich, mitfühlend, besorgt und zuverlässig solidarisch, war Erich Kästner da. Und blieb. Weder seine Figuren noch seine Leserinnen und Leser hat er allein gelassen. Sein erzählter Gegenentwurf zur zwar beschwingt formulierten, aber unbeschönigt beschriebenen Realität: Zusammenhalten, nicht aufgeben, den Erwachsenen ein Schnippchen schlagen, das Leben selbst in die Hand nehmen. Und womöglich die Welt ein wenig besser machen.

Selbstermächtigung nennt man das heute. Damals hat der ihm eigene Blick auf die Welt Kästner zu einem melancholischen Menschenfreund gemacht. Und zu einem Freund der Kinder. Sie hat er fraglos ernst genommen. Ihnen galt seine Hochachtung. Das hat ihn zu einem der größten Kinderbuchautoren seiner Zeit gemacht. Er ist es geblieben, auch wenn manche Passagen seiner Texte in die Jahre gekommen sind. Unbegrenzt haltbar sind seine Kinderromane trotzdem. Emil und die Detektive (1929), Pünktchen und Anton (1931), Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931), Das fliegende Klassenzimmer (1933), Die Konferenz der Tiere (1949), Das doppelte Lottchen (1949) und Der kleine Mann (1963) sind Klassiker der Kinderliteratur geworden. Ihren Autor haben sie weltberühmt gemacht. Der kleine Mann und die kleine Miss (1967) wurde sein letztes Kinderbuch.

 

Keine kleine Schwester

Dass Romane für Kinder Literatur sind, war für Erich Kästner eine Selbstverständlichkeit. Die Ignoranz und Hybris, mit der hierzulande bis heute die Kinder- und Jugendliteratur ins Abseits gestellt, als sogenannte kleine Schwester der großen Literatur belächelt und mit einem „nur“ davor abgetan wird, hätte ihn womöglich zu einem seiner pointierten Widersprüche animiert. Anfang 1930 schrieb er in der Leipziger Zeitung in einem Artikel über Joachim Ringelnatz, es sei keine Schande, Verse zu schreiben, die die Zeitgenossen verstehen. Das lässt sich auch über sein eigenes Werk sagen.

Bei Denkfaulheit ist Kästner jedenfalls ausgestiegen. Dummheit war ihm zuwider. Mit „nur“-Debatten hat er sich nicht aufgehalten. Dafür war er im besten Sinne des Wortes zu un-verschämt. Stattdessen hat er in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Geschichten für die Kinderzeitung des Leipziger Magazins Beyers für alle geschrieben – das geht nämlich auch. 1998 wurden sie als „Kindergeschichten für Erwachsene“ erstmalig gesammelt herausgegeben. Der Titel: Interview mit dem Weihnachtsmann.

„Auch das geht vorüber“ eröffnet den Geschichtenreigen: „Manchmal braucht man gar nicht sehr zu rütteln, wenn der Himmel einstürzen soll … Später – nachdem wir ihn wieder aufgerichtet und notdürftig geflickt haben – könnten wir fast darüber lächeln. Wir könnten es tun! Doch wir lassen es schließlich, weil wir die Erinnerung nicht weglächeln können.“[3]

 

Einer, der nicht vergisst

Nichts geht vorüber. Erfahrung wird zu Erinnerung. Erinnerung bleibt. Sie wird zum Motor des Schreibens. Wird Literatur. Kästner verzaubert im selben Band mit „Der Zauberer hinterm Ladentisch“, dem „eiligen Nikolaus“ das „h“ zurecht abhandengekommen – von Heiligkeit keine Spur; in der „Staubsaugerballade“ mischt der Autor virtuos den goetheschen Zauberlehrling mit der Un-verschämtheit eines vorweggenommenen Loriot auf. Der hat zu der Zeit gerade das Licht der Welt erblickt – Jahrzehnte später wird er mit dem Erich Kästner-Preis für Literatur ausgezeichnet werden. Wie außerdem Andreas Steinhöfel, Felicitas Hoppe, Tomi Ungerer und in diesem Jahr Wolf Haas, um nur einige der Preisträgerinnen und Preisträger zu nennen.

(c) Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv/Felicitas Timpe

Kästner – ein Visionär? Gewiss. Einer, auf den andere sich beziehen werden: in Vielem für viele ein Vorbild, ein urkomisches noch dazu: Frau Adamson, ganz auf der Höhe der Zeit, kauft einen „Staubsaugapparat“. Sie testet ihn. „Sie will nur sehen, ob das Ding was taugt, / Und hält ihn fragend an ein Sofakissen / Es stäubt der Staub. Der Sauger saugt. / Frau Adamson ist hingerissen.“[4]

Unnötig zu sagen, dass der Staubsauger sich verselbstständigt. „Walle walle, manche Strecke“, schrieb Goethe. – Kästner antwortet: „Der Sauger saugt. Der Kleiderschrank schlägt Wellen. / Frau Adamson kriegt einen großen Schreck. / Noch einmal hört sie ihren Foxel bellen – / Es saugt der Sauger und der Hund ist weg.“[5]

Voller Dramatik und Pathos der eine, voller Witz und Ironie der andere, zeitkritisch beide: Dass Kästner auf vielen Fotos leise schmunzelt, verwundert nicht.

Im echten Leben hingegen hat er Weihnachten gefürchtet, weil seine Eltern daraus einen Wettstreit um seine Zuneigung gemacht haben. Nachzulesen ist das in seinen Erinnerungen Als ich ein kleiner Junge war (1957). Es ist eines seiner schönsten und traurigsten Bücher. Selten sind Leben und Werk derart dicht miteinander verwoben. Untrennbar. Unentrinnbar.

Kästner hat Armut kennen gelernt. Er kannte das Gefälle zwischen Macht und Ohnmacht, Oben und Unten. Er kannte Lieblosigkeit – die seiner Eltern untereinander. Er kannte Liebe – die zu ihm. Wie erdrückend die Liebe seiner Mutter war, hat er wohl erst als Erwachsener verstanden. Als kleiner Junge musste er wieder und wieder weinend durch Dresden rennen, um sie von einer der Brücken zu klauben, bevor sie sprang.

All das hat er vielfach beschrieben und, zumindest in seinen Kinderbüchern, verwandelt. Es sind die Kinder, die Bösewichte verfolgen und schachmatt setzen, die Mutterliebe, Nähe, gegenseitige Verantwortung zum Guten wenden, die die Ordnung wiederherstellen und die Welt gerechter machen. Es sind die Kinder, die klüger sind als die Erwachsenen. Diese Einsicht könnte auch eine von Kästners Visionen sein.

 

Ein sprechender Schreiber

Denn Zweifel, Verzweiflung – ja. Bitterkeit, Verbitterung – nein. Stattdessen machen. Vor-machen. Dass das minimale Verschieben von Buchstaben reicht, um neue Denkräume zu eröffnen, wird eines von Kästners Markenzeichen werden. Gedankensprünge von Wort zu Wort, wie von Stein zu Stein an ein anderes Ufer, hat er ausgekostet, wo immer es ging. Eine Vor-Silbe – schon nehmen Geschichten einen anderen Lauf. Sie nehmen Anlauf. Aus Worten wird ein Wort wird ein Vor-Wort. Erich Kästner hat Vorworte geliebt: „Ein Vorwort ist für ein Buch so wichtig und so hübsch wie der Vorgarten für ein Haus … Ich bin nicht dafür, dass die Besucher gleich mit der Tür ins Haus fallen. Es ist weder für die Besucher gut, noch fürs Haus. Und für die Tür auch nicht“, schreibt er im Vorwort zu Als ich ein kleiner Junge war. Und liefert eine seiner berühmten Pointen gleich mit: „Denn auch wenn der Satz ˃Kein Buch ohne Vorwort< eine gewisse Berechtigung haben sollte – seine Umkehrung stimmt erst recht. Sie lautet: KEIN VORWORT OHNE BUCH.“[6]

Seine Leserinnen und Lesern hat er auf diese Weise begrüßt und eingeladen. In den Vorworten gibt er ihnen seine Fragen mit auf ihren Leseweg. Denn Kästner war und blieb ein Tür-Öffner und Weg-Weiser.

Illustration zu Münchhausen von Walter Trier. (c) Internationale Jugendbibliothek

Er war Ansprecher, Aussprecher, Sprecher. Schreibend hat er das Gespräch gesucht und ermöglicht. „Euch kann ich’s ja ruhig sagen: Die Sache mit Emil kam mir selber unerwartet“[7], ist der Auftakt zu seinem Kinderbuchdebüt Emil und die Detektive. „Was wollte ich gleich sagen?“[8], fragt er zu Beginn von Pünktchen und Anton – und führt das dann auf knapp 150 Seiten aus. Zum Leseglück tragen seine eingebauten „Nachdenkereien“ über seine Figuren, den Stolz, die Fantasie, Freundschaft, Armut und vieles mehr unbedingt bei.

Und wenn „Die Sache mit den Klößen“ so beginnt: „Der Peter war ein Renommist / Ihr wisst vielleicht nicht, was das ist. / Ein Renommist, das ist ein Mann, / der viel verspricht und wenig kann“[9], holt Kästner seine Leserinnen und Leser von Anfang an mit ins Boot der Begegnung und des Verstehens.

In der Folge nimmt Peter im Wortsinn den Mund zu voll. Die angekündigten 30 Klöße, die er angeberisch-angeblich spielend verputzt, lassen ihn fast platzen. In schönster kästnerscher Lakonie ist die Essenz und Moral von der Geschicht: „Vier Klöße steckten noch im Schlund. / Das war natürlich ungesund. / Das Renommieren hat zu Zeiten / auch seine großen Schattenseiten.“[10]

 

Schreiben ist Handwerk

Man wünscht sie sich, diese Nonchalance, die Moral mit Augenzwinkern, die Lehre ohne Schulmeisterei, aber als Punktlandung – auch formal: mit Schleife zwischen Anfang und Ende. Vielleicht ist es die Lehre von einem, der rechtzeitig den Berufswunsch Lehrer an den Nagel gehängt hat, weil er erkannte, dass er nicht lehren wollte, sondern lernen. Wieder können wenige Buchstaben ein ganzes Leben verändern.

Ganz sicher ist es die Lehre eines Schriftstellers, der kein Aufhebens gemacht hat um sein Tun. Kästner, der einer Handwerkerfamilie entstammt, hat sein Schreiben als Handwerk begriffen. Seine Großväter und Onkels waren Schreiner, Fleischer, einige wurden als Pferdezüchter steinreich. Kästners Vater, Sattlermeister, wurde ein Opfer der Industrialisierung: Die Meisterstücke, die er angefertigt hat, hat ihm niemand bezahlt. Er musste seine Werkstatt dichtmachen und fortan in einer Fabrik in Dresden Koffer nähen.

Die Sorgfalt hat sein Sohn sich abgeschaut. Erich Kästners Material war die Sprache, sie hat er feingeschliffen. Hinter Worten hat er sich nicht versteckt – er feilte an ihnen, er spitzte sie zu, bis sie schnörkellos und treffsicher waren. Sein Umgang mit Worten war nie exklusiv, schon gar nicht im Sinne von ausschließend, sondern einnehmend und in der Wirkung unmittelbar. Worte zu erfinden gehörte zu seinem Metier dazu. Diese Fähigkeit gibt er seinen Figuren mit: „Gefällt dir das Wort?“, wird Pünktchen Anton fragen. „Das ist von mir. Ich entdecke manchmal neue Wörter. Wärmometer ist auch von mir.“[11]

 

Abwarten? Tun!

Damit gibt Pünktchen ihrem Freund und allen, die es lesen, einen kostbaren Schlüssel in die Hand: Alle können sich der Sprache bedienen, mit ihr spielen, Wörter erfinden, einen eigenen Wort-Schatz sammeln. Wir alle können, in einem nächsten Schritt, selbst denken, selbst entscheiden, selbst etwas tun. Das müssen wir sogar. „Wenn Unrecht geschieht“, schreibt Kästner in „Abwarten? Tun!“, „wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breit macht, wenn Hilfe verweigert wird – stets ist jeder Einzelne zur Abhilfe mit aufgerufen, nicht nur die jeweils „zuständige“ Stelle. Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt. Und jeder von uns und euch muss es spüren, wann die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handele, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem.“[12]

Dafür stand Erich Kästner ein. Nach dem Krieg wurde München seine Wahlheimat. Als Feuilletonchef der überregionalen „amerikanischen Zeitung für die deutsche Bevölkerung“ Neuen Zeitung schrieb der Aufklärer Kästner für den Aufbau der Demokratie. Der Unterhalter Kästner textete für das Münchener Kabarett „Schaubude“ und später für „Die kleine Freiheit“. Überhaupt: Der Freiheit blieb er treu. Den so genannten kleinen Leuten, auch: den Kindern und all denen, die, von oben herab, als „einfache Leute“ abgetan werden. Denen, die bis heute in unserer Gesellschaft „Am-Rand-Steher“ sind.

Illustrationen von Walter Trier. (c) Internationale Jugendbibliothek

Für die neu gegründete Internationale Jugendbibliothek München setzte der lernende Lehrende sich ebenfalls ein, schrieb unter anderem den Weltbestseller Die Konferenz der Tiere und gab die Jugendzeitschrift „Pinguin. Für junge Leser“ heraus. Bis zu seinem Lebensende engagierte der Pazifist Kästner sich politisch, protestierte etwa gegen den Vietnam-Krieg oder gegen das atomare Wettrüsten im Kalten Krieg. Er wartete nicht, er handelte. Weigerte oder empörte sich, je nachdem. Schwieg nicht, sondern schrieb. Und erhob öffentlich die Stimme.

Kästner wurde Präsident des PEN-Zentrum – zunächst des gesamtdeutschen, später des westdeutschen. Die von ihm trefflich formulierte Kurzform dieses unermüdlichen Einsatzes ist in zahllosen Poesiealben jener Jahre nachzulesen: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Die kleine Freiheit sollte wachsen, sollte heranwachsen zur Freiheit ohne „klein“ davor. Dafür steht Erich Kästner bis heute. Er hat einen Ton und eine Haltung ins Lesen und ins Leben gebracht, die „Kinder und Nichtkinder“[13], wie er sein Publikum nannte, abholen und mitnehmen, fordern und fördern, unterhalten und klüger machen.

„Schmerz und Angst haben ein gutes Gedächtnis“[14], ist noch so ein Kästner-Satz aus Als ich ein kleiner Junge war. Denn Kästner ist Kindheit. Kästner ist Erinnerung. Den kleinen Jungen, der er selbst einmal war, hat er nicht vergessen, sondern hat ihm, und mit ihm allen, seine Geschichten zur Seite gestellt. So wie dem Vorwort zu seinen Erinnerungen ein Nachwort. Das endet so: „Die Arbeit ist getan. Das Buch ist fertig. Schluss, Punkt, Streusand!“[15] Streusand sagt heute den Wenigsten was. Aber es ist ein Wort zum Weiterdenken. Dann ist Streusand der Sand im Getriebe. Der Sand, in dem Spuren hinterlassen werden können. Erich Kästner hat genau das getan. Doch das ist eine andere Geschichte. Hätte er vermutlich gesagt.

 

[1] https://www.deutschelyrik.de/ein-alter-mann-geht-vorueber.html

[2] https://www.lyrikline.org/de/gedichte/kennst-du-das-land-wo-die-kanonen-bluehn-14380

[3] Erich Kästner: Interview mit dem Weihnachtsmann. Kindergeschichten für Erwachsene. Hrsg. Und mit einem Nachwort von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz, Hanser, München Wien 1998, S. 5.

[4] Ebd., S. 32.

[5] Ebd.

[6] Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war, dtv, München 2013, S. 7.

[7] Erich Kästner: Emil und die Detektive. Ein Roman für Kinder. Illustriert von Walter Trier, Cecilie Dressler Verlag, Berlin 1968, S. 5.

[8] Erich Kästner: Pünktchen und Anton. Ein Roman für Kinder. Illustriert von Walter Trier, Williams & Co Verlag, Berlin o. J., S. 7.

[9] Erich Kästner: Die Sache mit den Klößen. In: In wenigen Worten die ganze Welt. Gedichte für Kinder und Erwachsene. Hrsg. v. Christine Knödler. Mit Bildern von Daniela Kulot. Thienemann, Stuttgart, 2009, S. 65.

[10] Ebd., S. 67.

[11] Erich Kästner: Pünktchen und Anton. a.a.O., S. 28.

[12] https://www.deutschelyrik.de/abwarten-tun.html

[13] Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war. a.a.O., S. 7.

[14] Ebd. S. 64.

[15] Ebd., S. 208.

 

Christine Knödler ist Herausgeberin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. Sie ediert und schreibt für verschiedene Verlage und Zeitungen (u.a. für die Süddeutsche Zeitung). Sie konzipiert und moderiert Podiums-Formate, gibt Schreibseminare und kuratiert internationale Illustrations-Ausstellungen. Knödler ist außerdem Mitglied renommierter Jurys. Seit 2020 hostet sie freigeistern! Der Podcast für Kinder- und Jugendliteratur. Zusammen mit ihrem Sohn Benjamin Knödler hat sie Young Rebels. 25 Jugendliche, die die Welt verändern geschrieben (Hanser 2020). Im März 2024 erscheint von den beiden Whistleblower Rebels. 20 Menschen, die für die Wahrheit kämpfen.

Sekundärliteratur:

Erich Kästner: Emil und die Detektive. Ein Roman für Kinder. Illustriert von Walter Trier, Cecilie Dressler Verlag, Berlin 1968

Erich Kästner: Pünktchen und Anton. Ein Roman für Kinder. Illustriert von Walter Trier, Williams & Co Verlag, Berlin o. J.

Erich Kästner: Interview mit dem Weihnachtsmann. Kindergeschichten für Erwachsene. Hrsg. Und mit einem Nachwort von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz, Carl Hanser, München Wien 1998

Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war, dtv, München 2013

Erich Kästner: Die Sache mit den Klößen. In: In wenigen Worten die ganze Welt. Gedichte für Kinder und Erwachsene. Hrsg. v. Christine Knödler. Mit Bildern von Daniela Kulot. Thienemann, Stuttgart 2009

Externe Links:

https://www.deutschelyrik.de/ein-alter-mann-geht-vorueber.html

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/kennst-du-das-land-wo-die-kanonen-bluehn-14380

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/kennst-du-das-land-wo-die-kanonen-bluehn-14380

https://www.deutschelyrik.de/abwarten-tun.html