Schullektüre und Junges Lesen (12). Von Leander Steinkopf

Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.

Im Interview: Raphaela Bardutzky ist eine freie Autorin und Dramaturgin aus München. Sie studierte Schauspieldramaturgie, Philosophie und Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität und der Bayerischen Theaterakademie. Gemeinsam mit Theresa Seraphin gründete sie 2016 das Netzwerk der Münchner Theatertexter*innen. 2021 gewann Bardutzkys Stück Fischer Fritz den Publikumspreis beim Förderpreis für Neue Dramatik an den Münchner Kammerspielen, 2022 war es Gewinnerstück bei den Autor:innentheatertagen am Deutschen Theater Berlin. Zuletzt hatte ihr Drama Das Licht der Welt am Theater Heidelberg Premiere, das sich mit radikalem Klimaaktivismus beschäftigt.

Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der gerade bei Claassen erschienenen Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation.

Mit der folgenden neunteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Wie kamst Du zum Schreiben?

Ich hab mit 17 mit Liebesbriefen angefangen. Später, in der Bayerischen Theaterakademie war ich in einem Projekt bei dem Dichter Albert Ostermaier, für das ich Texte geschrieben habe. Da hab ich dann gemerkt – wow, Schreiben macht mich glücklich, das ist wirklich meine Ausdrucksform.

In der Schule hatte ich auch schon den Drang Geschichten zu schreiben, konnte aber noch nichts zu Papier bringen. Auch fehlte es an Unterstützung. Zum Beispiel war ich im Deutsch-Leistungskurs und wollte meine Mitschüler*innen überreden, mit mir einen Fortsetzungsroman zu schreiben. Die Idee stieß aber weder bei ihnen noch bei meiner Lehrerin auf Begeisterung. Wahrscheinlich waren alle davon überfordert. Heute finde ich es immer noch schade, dass im Deutschunterricht nicht kreativ geschrieben wird. Wer schreibt, lernt sich spielerisch auszudrücken und verliert auch die Scheu vor dem weißen Blatt. Übrigens gibt es sehr tolle Theaterpädagog*innen, die wirklich gute Methoden und Workshops entwickelt haben, um Jugendliche und Erwachsene zum Schreiben zu bringen. Zum Beispiel Lorenz Hippe. Ich habe mit Hippes Methode jahrelang Theaterwissenschaftler*innen das Schreiben nahegebracht und kann Lehrer*innen nur empfehlen, sich in dieser Richtung weiterzubilden.

Gab es ein Buch, vielleicht ein Theaterstück, welches Du in der Schulzeit gelesen hast, das Dich in besonderer Weise geprägt hat?

Lustigerweise Die Pest von Camus. Ich komme aus einem eher katholischen Umfeld. Und Die Pest ist ja sehr Anti-Religion. Und erzählt auch davon, dass wir das Leben selbst in die Hand nehmen müssen, anstatt auf Gott zu vertrauen. Irgendwie hat mir dieses Buch mit 16 sehr viel Energie gegeben. Ich habe es ganz oft gelesen.

Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Stück würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?

Wir haben zum Beispiel Woyzeck gelesen und Maria Stuart. Als Schülerin hätte ich aber mit Leonce und Lena oder Don Carlos viel mehr anfangen können. Weil die Figuren und Themen da wilder und jünger sind.

Was ich als Schülerin jedenfalls fatal fand, war, dass wir in der Schule diese großen Texte gelesen haben, um sie dann in ganz kleine Schubladen zu sperren. Wir lernten Schiller, Büchner, Kafka in Epochen und Gattungen einzusortieren, ihre Aussagen auf wenige Sätze einzudampfen usw. Aber eigentlich sind das Texte, die die ganze Welt in Frage stellen und alle Schubladen sprengen wollen. Über diese Energie haben wir erst an der Bayerischen Theaterakademie gesprochen. Mein Professor, Klaus Zehelein, begann seine Seminare oft mit der Frage: „Gibt es einen Grund, warum wir dieses Stück heute noch lesen sollten oder sagt uns das eh nichts mehr?“ Diese Diskussion hätte ich als Schülerin geliebt. Denn die Frage impliziert ja, dass man Texte nicht lesen muss, weil das irgendein Bildungsziel oder ein Lehrplan verlangt. Sondern weil sie uns, als Menschen, immer noch angehen, selbst wenn sie hunderte von Jahre alt sind.

Warst Du eine gute Schülerin?

Nein. Ich war eine schlechte Schülerin. Ich habe nie verstanden, wie man Prüfungen besteht – es fehlt mir leider völlig an Testintelligenz. Das hat mir erst eine Mitstudentin im Studium beigebracht.

Welches Buch/Stück würdest Du heute deinem jugendlichen Ich empfehlen?

Bookpink von Caren Jeß. Tschick von Herrndorf, aber ich schätze, das müssen eh alle lesen. Der Ursprung der Liebe von Liv Strömquist, weil das diesen ganzen Romantische-Liebe-Käse hinterfragt, mit dem Mädchen so aufwachsen, sowie Melek + ich von Lina Ehrentraut.

Hat Dir Literatur und Theater im Leben weitergeholfen?

Auf jeden Fall. Ein Buch kann ja ein Freund sein. Wenn die Welt um mich herum unerträglich wurde, waren es immer wieder Bücher, die mir die Welt neu geöffnet haben, mich in andere Milieus und Szenerien entführt haben. Manchmal von Autor*innen aus völlig anderen Zeiten. Du liest das und hörst eine Stimme, die sagt: „So spießig und normativ die Welt um dich herum ist, du bist nicht allein. Go crazy, go wild.“

Theater wiederum ist im besten Fall ein Abenteuer. Eine Begegnung mit Menschen, die keine Angst davor haben, mit ihren Körpern Geschichten zu erzählen. Auch sehr empowernd.

Raphaela, danke Dir für das Interview!

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