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22.12.2022, 18:43 Uhr
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Gespräche

Interview mit dem Schriftsteller Andrej Krasnjaschtschich

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Andrej Krasnjaschtschich © privat

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wird 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wächst in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wird er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitet als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zieht er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich ist Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022. Das Interview führte Thomas Lang.

*

LITERATURPORTAL BAYERN: Herr Krasnjaschtschich, Sie sind mit Ihrer Frau und Ihrer zehn Jahre alten Tochter Nadja von Poltawa in der Ukraine nach Weimar gekommen. Wie sind Sie gereist und wie fühlten Sie sich während der Fahrt?

ANDREJ KRASNJASCHTSCHICH: Noch im Februar und März in Charkiw, als meine Frau und Tochter sich vor den Bombenangriffen im Keller des Hauses meiner Schwiegermutter versteckten und ich mit meinen Eltern im siebten Stock ihres Wohnhauses blieb, weil dort der Aufzug nicht funktionierte und sie nicht in den Luftschutzkeller hinunterfahren konnten, riefen wir uns an, wir schrieben uns und wir träumten zusammen von einer Reise ins Ausland. Wir reisen sehr gern. Wir beide arbeiten hart, und eine Reise ist für uns wie ein Fest, wie eine Belohnung. Als wir damals in Charkiw von einer Reise träumten, stellten wir uns vor, es wäre eine Entschädigung dafür, was wir durchgemacht haben. Aber wir träumten sehr vorsichtig, um den Traum nicht zu verscheuchen. Wir hofften auf ein baldiges Ende des Krieges und zugleich wussten wir, dass es wahrscheinlich ein langer Krieg sein wird. Vielen Dank an Verena Nolte und an ihr Projekt „Eine Brücke aus Papier“ für die Verwirklichung unseres Traums!

Wir fuhren mit der Bahn, es war eine lange, viertägige Reise. Nadia war zum ersten Mal in Deutschland, und jede Stadt, die wir auf dem Weg besuchten – Görlitz, Dresden – war wie ein Märchen und eine Entdeckung für sie. Für meine Frau und für mich auch. Das größte Märchen war Weimar. Mir gefielen die kleinen, farbenfrohen Wohnhäuser, jedes anders als die anderen, die engen gepflasterten Gassen, der Marktplatz mit einem Rathaus und schmucken Kaufmannshäusern. Charkiw ist historisch gesehen auch eine Handelsstadt, vielleicht gefiel mir Weimar deswegen so sehr. Ich bin im Zentrum von Charkiw aufgewachsen, wo jetzt alles zerbombt ist, in einem Bezirk ebenfalls mit zweistöckigen Kaufmannshäusern, die jetzt alle weg sind. Meine Lieblingsstädte, die ich als Märchenstädte erlebt habe, sind Brügge, Riga und Regensburg. Jetzt auch Weimar. Ich wache früh auf, um halb sechs oder um sechs Uhr. Ich trinke Kaffee und gehe dann nach draußen, um eine zu rauchen. Ich schaue mir die Häuser, die schlafende Stadt an, und das ist die beste Zeit meines Tages. Ich bin allein mit diesen Häusern, mit der Straße und der Stadt. Ich versuche, diesen Moment festzuhalten, um mich später daran zu erinnern. Das sind die besten Erinnerungen. Sie laden mich ein zu neuen Reisen.

Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende. Meine Verwandten und Eltern sind jetzt in Poltawa, die Verwandten meiner Frau Lena sind in Charkiw. Und unser Gefühl, in einem Märchen zu sein, wurde dadurch sehr getrübt.

Manchmal gelang es uns, den Krieg zu vergessen. Aber er steckt tief in uns drin. Er ist ein Teil von uns geworden. Es ist Teil der Psyche, der Weltanschauung. Ich spreche von Phantomgeräuschen. Als wir aus Charkiw nach Poltawa kamen, konnten wir uns lange Zeit nicht an Flugzeuglärm gewöhnen, und es gelingt uns immer noch nicht: Instinktiv versuchen wir, uns zu verstecken oder wegzulaufen. In Deutschland konnte ich in den ersten Tagen, als ich morgens zum Rauchen rausging, Luftschutzsirenen hören. Aus der Ferne und dennoch deutlich. In Poltawa gibt es häufig Luftalarm, und die Sirenen sind allerorten auf Masten angebracht, man kann sie überall hören.

In Deutschland dachten wir oft an unsere Verwandten und daran, wie wir zurückkehren würden. In jeder Stadt haben wir Geschenke für sie gekauft, und Nadia kaufte Geschenke für ihre Freundin, die in Poltawa geblieben ist.

Ich war sehr berührt von der Tatsache, dass die Texte, die Sie in Weimar beim Treffen von „Eine Brücke aus Papier“ vorlasen, Zitate aus Schulaufsätzen Ihrer Tochter beinhalten. Das Thema lautete: „Wie hat sich dein alltägliches Leben durch den Krieg verändert?“ Warum haben Sie die Kinderperspektive in Ihren Text integriert?

Meine Tochter Nadia ist eine der Hauptfiguren in meinen Kriegsgeschichten. Vielleicht die wichtigste. Meine eigene Stimme ist in diesen Texten abstrakt, gefühlsmäßig gedämpft. Ich bin lediglich ein Vermittler oder ich halte das Geschehen fest. Die Situation des Krieges, für mich neu und ungewohnt, zwingt mich, mich tief in mir selbst zu verbergen. Meine Gefühle zu verstecken. Es gibt viele Stimmen in meinen Texten – Ausschnitte aus Briefen oder Gesprächen. Meine Texte sind keine Tagebücher und keine Essays, aber es ist mir wichtig, die neue Ära zu dokumentieren, die am 24. Februar begann. Früher schrieb ich groteske, phantasmagorische Geschichten, nun ist die Realität selbst unvorstellbar und phantasmagorisch geworden, und ich muss mir nichts ausdenken, ich schreibe es einfach auf. Meine Geschichten haben dasselbe Thema wie Nadias Aufsatz „Wie hat sich dein Alltag durch den Krieg verändert?“ Deshalb war es für mich so wichtig, ihn in meinen Text aufzunehmen. Aber natürlich ist für mich nicht allein das Thema wichtig, sondern auch die Perspektive des Kindes. Ein Kind hat nicht viel Lebenserfahrung, die ja gerade jetzt gesammelt wird, erst Gestalt annimmt, und Nadias Erfahrung wird durch den Krieg geformt. Während des Krieges, also in den letzten neun Monaten, hat sich Nadia sehr verändert, sie ist schnell erwachsener geworden. Sie wurde von einem Kind zu einem Teenager. Sie schnitt sich die Haare kurz, färbte die vorderen Haarsträhnen, zog sich die Augen nach. Ich glaube, in der Ukraine sind alle Kinder während des Krieges deutlich erwachsener geworden.

Nadia dokumentiert den Krieg auf ihre eigene Art. Sie ist Künstlerin, sie zeichnet. Sie hält fest, wie die Leute während des Bombenangriffs im Keller sitzen. Wie sie während eines Luftalarms in den Keller rennen. Wie es im März schneit und man nicht nach draußen gehen kann. Wie Sirenen in Poltawa heulen und viele andere Motive der Kriegsära. Die Ekphrasis, also die bildgebende Beschreibung ihrer Zeichnungen, füge ich in meine Geschichten ein.

Ich baue auch Selbstreflexionen in meine Texte ein. Darüber, warum ich so oft über Nadia schreibe, habe ich auch schon nachgedacht: „Ja, ja, genau, die Kinder. Kinder und Katzen sind Schlüsselfiguren in unserer ganzen Geschichte. Zumindest für mich. Die alten Menschen sind stur, die Erwachsenen sind gehetzt, die Kinder und Katzen nehmen aber die Dinge wie sie sind, als Teil ihrer Lebenswelt. Was ich auch immer schreibe, und ich versuche, meinen Stoff in jedem Text von einer neuen Seite zu sehen, überall tauchen Kinder und Katzen auf. Zwei Texte – Hoffnung und Charkiwer – handeln ausschließlich von ihnen.“ Eigentlich sind es inzwischen drei Texte, der dritte ist ein Auszug aus meinem neuen Text Hoffnung. Teil 2. Und die Antwort, warum es ausgerechnet Tiere sind, gibt ein anderes Fragment dieses Textes – ein Aufsatz, den Nadia auf Ukrainisch geschrieben hat, eine Legende:

Einst wurden die Stadt und der Staat, in dem sie lebte, vom Nachbarland angegriffen. Es feuerte Raketen ab, schoss aus Panzern und bombardierte mit Flugzeugen. Alle Kinder dieser Stadt waren gezwungen, in die Keller hinabzusteigen und dort Zuflucht zu suchen. Sie blieben dort eine Woche lang, zwei, drei, vier Wochen, einen Monat lang oder länger. Ohne Sonne und ohne Spiele, die sie sonst draußen spielten, wurden sie immer trauriger und wollten mit niemandem mehr sprechen. Weder mit ihren Eltern noch mit ihren Freunden. Aber jedes Kind hatte eine Katze. Flauschig, weich, schnurrten sie den Kindern zu und beruhigten sie. Kinder sprachen nur mit Katzen. Als der Krieg zu Ende war und die Kinder aus den Kellern kamen, stellte sich heraus, dass jedes Kind eine Katze hatte und von ihr gerettet wurde. Als die Bürger der Stadt davon erfuhren, errichteten sie ein Denkmal für diese Katzen und stellten in der Stadt Schüsseln auf, in die sie jeden Morgen Milch eingossen. Seitdem wird diese Tradition gepflegt und Katzen werden von allen Menschen respektiert.

Das ist zwar eine Legende, aber keine Übertreibung. Ich weiß von vielen Fällen, in denen Katzen ihre Besitzer während Luftangriffen und Raketenbeschuss vor Einsamkeit, Angst und sogar vor Wahnsinn bewahrt haben – allein durch ihre Anwesenheit. Und auch die Einwohner von Charkiw weigerten sich in vielen Fällen kategorisch, sich ohne ihre Haustiere evakuieren zu lassen. Ich denke, dies ist ein sehr wichtiges Phänomen des heutigen Krieges.

Die Katze, die Nadia das Leben gerettet hat, heißt Lotte. Sie zog mit uns zunächst zu meinen Eltern und dann nach Poltawa. Nadia war sehr besorgt, dass Lotte nicht mit nach Weimar kommen konnte. Wir scherzten, dass „Lotte in Weimar“ [Roman von Thomas Mann, Anm. d. Red.] unerträglich literarisch klingen würde. Wir haben die Katze für die Zeit unserer Reise bei unseren Verwandten gelassen. Auf dem Rückweg sprach Nadia nur noch darüber, wie sie Lotte bald treffen würde.

Sie sind geschult an modernen Autoren wie Beckett oder Joyce. Aber jetzt, so schreiben Sie, könnten sie diese Schulung nicht länger gebrauchen. Sie könnten zurzeit keine fiktionalen Texte lesen oder schreiben. Glauben Sie, dass sich das wieder ändern wird?

Ich liebe Bücher immer noch. Ich liebe sie, aber ich kann sie nicht mehr lesen. Meine Bibliothek blieb zu Hause in Charkiw. In Poltawa habe ich einige Bücher gekauft, und noch ein paar haben mir meine Schwester und meine Tante gegeben. Ein Freund von mir, der von Charkiw nach Poltawa evakuiert wurde, hat auch Bücher für mich mitgenommen. Ich habe mehrmals versucht, zum Lesen zurückzufinden. Ich habe es mit Canetti versucht, mit Laxness und mit Vargas Llosa, und schon nach zehn oder zwanzig Seiten legte ich sie weg. Jetzt lese ich nur Frontberichte und die Nachrichten bei Telegram. Ununterbrochen. Mehrere Stunden am Tag. Habe Angst, etwas zu verpassen. Ich wache auf und lese als Erstes Nachrichten. Ich weiß, es ist neurotisch, aber ich kann nicht anders. Und ich will es auch nicht. Ich bin so in die Geschehnisse eingebunden. Dieses Gefühl, einbezogen zu sein, nicht in der Position eines Beobachters zu bleiben, ist sehr wichtig für mich als der, der ich nach dem 24. Februar geworden bin. Belletristik ist noch nichts für mich. Wahrscheinlich würde sie mir heute einfach zu viel Freude machen. Die heutige Zeit verlangt Askese, auch beim Lesen. Ich weiß nicht, wann der Krieg vorbei sein ist und was für ein Mensch ich dann bin. Ich hätte nie gedacht, dass der Krieg kommen und mich so sehr verändern würde. Vielleicht werde ich noch lange nach dem Krieg so bleiben, wie ich heute bin. Vielleicht habe ich mich für immer verändert. Meine Lieblingsautoren waren früher Musil, Gombrowicz, Italo Svevo. Ihr Stil war für mich das Nonplusultra der Literatur. Wie auch Henry Miller und Beckett. Heute denke ich öfter an die, die ich früher nicht so sehr mochte, die weniger blumig, zurückhaltender, asketischer schreiben: Bukowski, Alice Munro, Boris Slutskij. Ich werde sie wahrscheinlich nach dem Krieg wieder lesen. Sie lassen Dokumente auf eine subtile und sehr geschickte Weise mit der Fiktion verschmelzen.

Es bleibt noch hinzuzufügen, dass ich vor dem Krieg auch ein großer Freund des Kinos war. Ich habe mir sowohl Festival- als auch Genrefilme angesehen, und ich habe noch nie eine gute neue Serie verpasst. In einem Charkiwer Hochglanzmagazin, das mit dem Ausbruch des Krieges eingestellt wurde, hatte ich sechs Kolumnen zum Thema Film. Jetzt kann ich auch keine Filme und Fernsehserien mehr ansehen. Ich fange an und höre gleich wieder auf. Ich schaue mir auf YouTube-Kanälen militärische Analysen an.

Ich habe auch eine Frage zum Thema Sprache. Sie schreiben eigentlich auf Russisch, aber die derzeitigen Texte sind auf Ukrainisch verfasst. Beim Treffen in Weimar haben Sie uns mitgeteilt, dass Sie das Russische ganz aufgeben wollten, es aber dann nicht taten. Können Sie unseren Lesern erklären, was Sie im Hinblick auf den Umgang mit diesen beiden Sprachen bewegt?

Bei dem Treffen im Weimar habe ich einen Text nacherzählt, den ich Ende Februar in Charkiw geschrieben hatte. Hier ist er:

Die Iren stoppten den Wagen des russischen Botschafters, fast zerrten sie ihn heraus. Ein irischer Lastwagen fuhr in die Tore der russischen Botschaft. Ein irischer Abgeordneter sagte: Die englische Sprache in Irland macht die Iren nicht zu Engländern.

Der [prorussische Politiker Michail] Dobkin hatte einmal gerufen: „Wir sind für die russische Sprache!“ Ich wollte ihm antworten: „Wozu brauchst du sie denn? Was willst du mit ihr machen? Wieso sprichst du nicht deine eigene ‚schwachsinnig geschriebene‘ Sprache?“ [Der Bezug ist ein Video von 2014, in dem Dobkin eine für ihn auf Russisch geschriebene Rede mit diesen Worten charakterisiert und dabei, wie alle Anwesenden, flucht, was in jenem Sprachraum als Verunglimpfung der Sprache gilt, Anm. d. Übers.] Jetzt möchte ich Putin sagen, „hier, verschluck dich an deiner Sprache“, und endlich zum Ukrainischen wechseln.

Aber das werde ich nicht tun. Ich kann besser Russisch als Putin. Ich habe ein halbes Jahrhundert lang auf Russisch gedacht, geschrieben, meinen Schreibstil entwickelt. Geben Sie doch mir und Putin mit seiner stumpfen Hinterhofsprache von Möchtegern-Kriminellen ein Diktat auf, lassen Sie uns einen Aufsatz schreiben, dann werden Sie sehen, wer gewinnt.

Aber Putin will nicht gegen mich kämpfen, er bombardiert mich, er lässt „Grad“-Geschosse auf mich herunterhageln [Mehrfachraketenwerfer „Grad“, dt. „Hagel“, Anm. d. Übers.], weil ich besser Russisch kann als er. Und besser als seine Soldaten. Besser als seine Minister. Besser als seine Höflinge.

Ich werde also mit meiner russischen, nicht-russländischen Sprache kämpfen [rossijskij – „russländisch“ bezieht sich auf den Staat Russland und alle seine Bürger, Anm. d. Übers.]. Gegen Putin, gegen seine ganze Armee. Auf diese Weise kann ich mit Sicherheit gewinnen. Weil er denkt: „Ja pobedju – ich siege.“

Aber diese grammatikalische Form, pobedju, das Futur Singular, ist im Russischen keine korrekte Verbform. Auf Ukrainisch heißt es „peremoschu – ich werde siegen“. Ukrainisch und Russisch haben zwar eine gemeinsame Wurzel, wie das Deutsche und das Englische, sie sind aber sehr verschieden. Sie haben sogar unterschiedliche Sprachmelodien. Charkiw liegt in der Sloboda-Ukraine, wo beide Sprachen gesprochen werden und im Alltag auch der eigene „Charkiwer Dialekt“, eine Mischung aus beiden Sprachen. Der in Charkiw geborene und in diesem Dialekt aufgewachsene Dichter Boris Slutskij übertrug die ukrainische Prosodie [Lehre von den für die Versstruktur bedeutsamen Erscheinungen einer Sprache, wie Silbenlänge oder Betonung, Anm. d. Red.] in die russische Verskunst, und so erfand er eine neue poetische Sprache für die Darstellung der Epoche vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und für die Reflexion darüber. Seine Schüler waren Joseph Brodsky, [Jewgeni] Jewtuschenko und die meisten bekannten russischen Dichter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich habe ein Buch über Slutskij in Charkiw geschrieben, das kurz vor dem Krieg veröffentlicht wurde.

Russisch ist heute die Sprache des Feindes, das muss man berücksichtigen. Ich denke immer wieder darüber nach, und ich frage mich, ob es noch legitim ist, Russisch für meine Texte zu verwenden. Deswegen experimentiere ich gerade mit dem Ukrainischen. Ukrainisch kann ich so gut wie jeder andere in der Ukraine, ich spreche es seit meiner Kindheit, ich unterrichte Studenten in dieser Sprache, aber für Belletristik reicht es nicht zur neuen Sprache zu wechseln, man muss sie noch weiterentwickeln und mit ihr experimentieren. Ich bin in einem russischsprachigen Umfeld aufgewachsen und ich bewege mich im Russischen wie ein Fisch im Wasser, ich kann damit machen, was ich will, ich kann es so biegen und brechen, wie es die Intonation des Textes erfordert. Mit dem Ukrainischen gelingt mir das noch nicht. Bisher beschränken sich meine Versuche im Ukrainischen darauf, das richtige Wort für meinen Gedanken zu finden, ich kann es aber nicht frei intonieren.

Ich fand bemerkenswert, dass Ihre Texte trotz allem Hoffnung verbreiten. Sie denken über die Zeit nach dem Krieg nach, wenn Charkiw, wo Sie lange Zeit lebten, wieder aufblühen wird. Wie gelingt es Ihnen, diese Hoffnung zu hegen und wofür ist sie wichtig?

Der Vorname meiner Tochter, Nadia, Nadeschda, bedeutet übersetzt „hope – Hoffnung“. Die Wahl des Namens war nicht zufällig, und nun erklingt dieses Wort seit mehr als zehn Jahren mehrmals am Tag in meinem Leben. Die Kurzgeschichte Hoffnung, die ich oben erwähnt habe, beginnt mit den Worten:

Glaube ist eine Waffe. Hoffnung ist eine Waffe. Als sie klein war, haben wir immer ein Spiel gespielt. Wenn in einem Film das Wort „Hoffnung“ fällt, hebt sie die Hand. Als wäre sie gemeint. Da bekommt der Film eine andere Bedeutung.

Der Krieg ist noch lange nicht vorbei. Charkiw wird weiterhin bombardiert. Wie die Stadt aus dem Krieg hervorgehen wird, ist schwer zu sagen. Sie wird aber definitiv anders. Sie ist bereits stark zerstört, sowohl die Wohngebiete als auch das historische Zentrum, das Gesicht der Stadt. Es gibt Fotos von Charkiw nach dem Zweiten Weltkrieg: lauter Ruinen. Charkiw hat während des Zweiten Weltkriegs genauso gelitten wie München, wie Dresden. Es wurde sehr lange restauriert: Das letzte der Gebäude, das wiederaufgebaut wurde, ist das Hauptgebäude der Universität von 1963. Und viele historische Gebäude sind nur auf Fotos erhalten geblieben. In Charkiw gibt es viele öffentliche Parks im Zentrum der Stadt. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es gar keine. Diese Parks sind an der Stelle der zerstörten und nicht wiederhergestellten Gebäude entstanden. Über viele Gebäude, die von russischen Bomben und Raketen getroffen wurden, sagen die Behörden in Charkiw: kann nicht instandgesetzt werden.

In der Erzählung Die Dinge, die ich bei „Eine Brücke aus Papier“ gelesen habe, sage ich:

Das Charkiw, in dem ich aufgewachsen bin, in dem meine Tochter geboren wurde und aufgewachsen ist, gibt es nicht mehr. Die Stadt wird auf jeden Fall wiederhergestellt. Sie wird schön werden. Neue Leute, die sich im Krieg bewährt haben, werden an die Macht kommen. Sie werden nicht stehlen. Sie werden einen guten Geschmack haben. Charkiw wird wieder aufblühen. Es wird ein anderes Charkiw sein.

Seit wir nach Poltawa gezogen sind, war ich nicht mehr in Charkiw. Ich bin nicht bereit zu dieser Begegnung, und ich zögere es hinaus. Charkiw hat sich verändert – und ich auch. Auch ich liege in Ruinen. Ich habe eine schwierige Beziehung zu mir selbst. Wenn ich zurückkomme und das zerstörte Charkiw akzeptieren kann, wird es mir vielleicht leichter fallen, mich selbst zu akzeptieren.

 

Deutsch von Boris Borisovich.

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