„Charkiw unter Bomben, 18. Tag. Aufzeichnungen eines Charkiwers 18.3.2022“. Von Andrej Krasnjaschtschich

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Charkiw auf einer Postkarte von 1897

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022, mit ihm führte das Literaturportal Bayern außerdem ein Interview.

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Mama sagt: „Die sind schlimmer als die Faschisten.“

Sie ist Jahrgang 1946 und erinnert sich nicht an den Krieg. Mein Vater, Jahrgang 1940, schon. Er erzählt, dass eine Granate in ein Haus einschlug, als er mit seinem Bruder über ein Feld lief, während unweit von ihnen eine Bombe fiel. Er hat viele Erinnerungen an den Krieg.

Mama erzählt, dass ihre Enkelin, als sie noch klein war, „Suppe“ wie „Tsuppe“ aussprach. Jetzt ist die Enkelin nicht mehr so klein – sie ist zehn und wird sich an diesen Krieg erinnern.

Fast das ganze Haus ist gegangen. Fünfzehn Stockwerke, drei Eingänge. Der Arschlochnachbar über uns gehört inzwischen zur Familie, soll er lärmen, Krach machen – zum Glück wir sind nicht allein.

Seit dem fünften Tag hören wir unsere Flugabwehr heraus. Wenn sie schießen, verstecken wir uns nicht mehr. Sie knallen und krachen. Von Flugzeugen abgeworfene Bomben dröhnen oder donnern …

Aus irgendeinem Grund zieht es einen zum Fenster, wenn es knallt oder dröhnt. Um nach draußen zu schauen und zu sehen, was passiert ist. Oder ob nichts passiert ist. Auch dir könnte was passieren, also bleib weg vom Fenster. Aber wer hält sich schon dran.

Vom Fenster aus ist eine lange Warteschlange vor dem Kiosk zu sehen, der meistens geschlossen hat. Was da wohl verkauft wird? Oder auch nicht. Die Schlange löst sich auf.

Seit dem ersten Kriegstag habe ich eiskalte Füße. So kalt wie noch nie. Ich bekomme sie einfach nicht warm.

Noch etwas ist merkwürdig. Beim Essen ist mir schwindlig. Jedes Mal. Körperwahrnehmung des Kriegs.

Meine Tochter ist beim Surfen im Internet auf einen Putin-Witz gestoßen: „Putin stirbt und kommt in den Himmel …“ Ich hab sie nicht verbessert und gesagt, dass Putin in der Hölle schmort. Denn um uns herum herrscht die Hölle.

Unser Freund der Heizkörper lärmt, übertönt die Explosionen. Schlaf ein.

Ach ja, Adorno … Ich kann nicht mal mehr lesen, seit Kriegsbeginn kann ich nichts mehr lesen. Nur noch den Live-Ticker.

Alle helfen in der Armee oder beim Zivilschutz. Ich leiste meinen Eltern Gesellschaft, helfe ihnen. Gibt‘s viele solcher Zivilschützer, die alten Leuten Gesellschaft leisten?

Als Kind hatte ich davon geträumt, im Krieg zu kämpfen, ein Held zu werden, auf Faschisten zu schießen. Jetzt sind die Faschisten da; na los, schieß auf sie.

Im Krieg ist alles beklemmend. Der Vogel vor dem Fenster. Sogar das Schreiben. Was, wenn die Angst aus dir spricht, nicht du selbst.

Ich hab Angst vor der Angst. Sie zieht die Gefahr an.

Nachts, wenn es Alarm gibt, wecke ich meine Eltern höchst ungern. Manchmal tue ich es nicht, stehe nur an ihrem Bett. Als bewachte ich sie.

Ich rasiere mich wieder, wenn der Krieg vorbei ist. Hoffentlich kann ich mich bald rasieren.

 

Ich mache mit Mama das Bett. Dabei braucht sie gar keine Hilfe. Mama kümmert sich um mich, das macht sie mobil. Totale Mobilmachung.

 

„Biff Bad Total“-Reiniger. Der hilft wirklich. Nach einem Luftalarm. Ich habe sämtliche Deckenlampen meiner Eltern geputzt.

Ein Student rief mich an, er habe kein Internet und könne seine frühere Lehrerin telefonisch nicht erreichen. Ich gab ihm ihre E-Mail. Die Lehrerin antwortete, ihr Handy sei kaputt, aber das Internet funktioniere. „Ich lebe.“

Es hat geschneit. Unsere Tochter möchte draußen einen Schneemann bauen. Draußen ist es gefährlich. Sie malt Schneemänner, die mit Saboteuren kämpfen. Darüber ein Flugzeug mit einem aufgemalten „Z“, das eine Bombe abwirft.

„Gute Nacht“ hat jetzt einen anderen Klang. So anders, dass man Angst hat, es auszusprechen, um es nicht zu verschreien.

Schlimmer als „Gute Nacht“ ist nur „Guten Morgen“. Im Lehrstuhlchat hört man schon morgens: „Wir leben“, „wir leben“, „wir leben.“

Alle vermeiden die Wörter „gut“ oder „in Ordnung.“ Maximal sagt man: „Geht schon“. Am häufigsten: „Soso.“

Meine Frau ist mit unserer Tochter bei der Schwiegermutter, sie verstecken sich im Keller. Unsere Tochter hat sie gemalt, Zwerge, Nibelungen zwischen Schätzen aus Konservendosen und Gemüse.

Mein Russisch stirbt. Schnell. Ich mache Fehler, vergesse, wie Wörter geschrieben werden. „Moradeur“ oder „Marodeur“?

Am schlimmsten sind die Geräusche. Jedes nicht gleich identifizierbare fasst man als Bedrohung auf. Das Handtuch, das gegen die Waschschüssel auf der Waschmaschine schlägt. Hingegen macht das Heulen des Handy-Luftalarms keine Angst mehr.

Die Neunziger sind zurück: überall Schlangen, Defizit. „Was wird verkauft?“, „Wann wird geöffnet?“. Ich rauche immer eine halbe Papirossa „Belomorkanal“, die ich noch von damals habe. Will noch jemand die Sowjetunion zurück?

Ich war zwei Wochen nicht draußen. Wie sich alles verändert hat: die Leute sind höflich zueinander, geben einander den Weg frei, beginnen Fragen mit „Entschuldigen Sie bitte“. Im Supermarkt kein Gedrängel, keine Hetze. Die Reaktion auf die Bestialität des Kriegs ist maximale Menschlichkeit.

Mir ist aufgefallen, dass die Nachbarn über uns nicht mehr streiten, nicht mehr lärmen. Nur ihr Hund bellt. Aber auch viel vernünftiger.

Ich habe keinen Stil für den Krieg. Finde keinen in mir. Und die alten Stile gibt es nicht mehr. Adorno hatte Recht.

17. Nacht. Ich erwache, stelle den Handy-Luftalarm ab, schlafe weiter.

Es brauchte einen Krieg, damit ich wieder Morgengymnastik mache.

Eine Verkäuferin antwortet einer Bekannten auf die Frage, ob sie sich nicht täglich im Laden fürchte: „Hier kracht’s und daheim kracht’s auch.“

Während ich warte, bis die Apotheke aufmacht, betrachte ich das Schild: „Russisches Billard“. Irgendwo kracht es laut.

Um mich herum viele junge Leute. Ich dachte, sie wären alle weg. Der junge Kerl hinter mir in der Schlange sieht ein junges Pärchen. „Oh!“. Sie umarmen einander. „Ihr seid noch da!“ „Wir bleiben“, lautet die Antwort.

Ein lautes Krachen, doch alle bleiben in der Schlange stehen. Ich auch. Nicht einmal ein Fluch ist zu hören.

Ich sah einen Soldaten auf Patrouille. Er sah mich. Und beachtete mich nicht.

In unseren Medien nennt man den Feind nicht „Tschetschenen“, sondern „Kadyrows Leute“, statt „Russen“ sagt man „Russländer“.

Meine Tochter hat Leute beim Mittagessen gemalt. Auf den Tellern liegt etwas Hellrotes. „Roter Kaviar?“, frage ich. „Karottenburger.“

Bei Majakowskij heißt es: „… zur Geliebten trage ich zwei Karotten am grünen Schopf.“ Meine Geliebte bringt mir Karotten und ich ihr Brot und Wurst.

Es knallt hier, es knallt dort, wir treffen uns auf halbem Weg für ein paar Minuten. „Wie Geheimagent Schtirlitz …“, sagt meine Frau.

Am ersten Tag, als wir zu den Eltern zogen, nahmen wir die Katze und das Geld, die Wohnungsdokumente, die Heirats- sowie die Geburtsurkunde unserer Tochter mit. Ich packte ein Buch ein, das ich nicht lese. Den Reisepass, meine Diplome und den USB-Stick mit allem, was ich geschrieben habe, vergaß ich.

Meine Frau schreibt: „Die Kleine schläft jetzt, aber vorhin ist sie schreiend aufgewacht, Putin sei da. In ihrer Anwesenheit lesen wir uns keine Nachrichtenzusammenfassungen mehr vor.“

Auch meinen Eltern lese ich nicht alle Nachrichten vor.

(Aus dem Russischen übersetzt von Petra Huber mit I. und L. aus Charkiw)