„Ganz und gar“. Von Andrej Krasnjaschtschich

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/sculpture-gogol_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/sculpture-gogol_500.jpg?width=500&height=262
Denkmal des Schriftstellers Nikolai Gogol (1809-1852) in Poltawa. (Bild: CitizenMattress von Pixabay)

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022, mit ihm führte das Literaturportal Bayern außerdem ein Interview.

*

 

Sumy war die erste Stadt. Und Trostjanez. Panzer drangen ins Stadtzentrum ein. Wir haben die Fotos gesehen. Wir haben die Stadt erkannt. Der runde Innenhof. Die bekannte Kirche. Die Schlacht in der Nähe des Kadettenkorps. Wir haben Fotos von der Reise. Die erste nach Corona. Wir saßen eineinhalb Jahre lang fest. Wohin kann man fahren? Sumy liegt am nächsten an Charkiw, und dort waren wir noch nicht. Wir haben uns nicht geirrt. Wie Lublin, wie Poltawa, wie Brügge. Erinnerungen für einen Monat. Einen Monat später fuhren wir nach Trostjanez. Mein Avatar in Viber und Telegram zeigt ein Foto in der Nähe des Schokoladenmuseums. Schokolade und Kaffee. Die Schokolademarken Korona und Milka, die Kaffeemarke Jacobs. Die Schoko-Fabrik Mondelez. Wir saßen in einem kleinen Park in der Nähe. Mondelez wurde zu einem Munitionsdepot. Es wurde vollständig zerstört. Eine Granate traf das Museum. Die Försterei ist abgebrannt. Wir sind dort spazieren gegangen. Modern.

 

Kupjansk, eine Fabrik für Weihnachtsspielzeug, Weihnachten, das hier im Osten zu Neujahr gefeiert wird. Neujahr 2022. Viele Russen arbeiten hier. Diejenigen, die vorübergehend kamen oder sich niederließen. Sie stellen Spielzeug für Kinder her. Sie haben mir gezeigt, wie man Glas bläst. Du brauchst eine starke Lunge. Ihre Lunge ist stark. Sonst hätte man sie nicht hierhergebracht.

Die Fabrik hat uns sehr gut gefallen. Wir haben eine Menge Spielzeug gekauft. Wir schenkten es unseren Eltern und Verwandten in Poltawa, auch den Verwandten in Charkiw, das gerade bombardiert wird.

Die Russen in Kupjansk lebten mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung. Die Ukraine stellte solche Genehmigungen aus. Jetzt brauchen die Russen sie nicht mehr. Kupjansk liegt für sie nun in der Region Belgorod. Die Ukrainer bekommen russische Pässe. Um mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Bis zum Jahr 2014 fuhr ich fast jedes Jahr auf die Krym, zuerst mit meinen Eltern, dann mit Freunden und schließlich mit meiner Frau. An verschiedene Orte. Nicht nur zum Baden und Sonnen. Wir sind viel herumgefahren und herumgelaufen. Die Treppe des Mithridates. Kenasa, groß und klein. Das verlassene Atomkraftwerk auf der Krym, fast wie Tschernobyl. Chersones.

Meine Großmutter stammt aus Feodosija. Mein Urgroßvater arbeitete als Handwerker bei der Eisenbahn. Die Krym mit meiner Großmutter und mir.

„Die Krim gehört uns“, heißt es auf Russisch. Macht hier euren Strandurlaub! Aber wissen die Strandrussen von Mithridates, von den Argonauten? An Feiertagen hat meine Großmutter karajimische Torten gebacken. Ajaklak.

Meine Tochter ist zehn. Sie war noch nie auf der Krym. Als sie fünf war, zeigte ich ihr auf der Arabat Nehrung, wo die Krym liegt. Ich erzählte ihr, dass meine Urgroßmutter von dort stammt und warum wir nicht dorthin fahren können. Als sie sieben Jahre alt war, fragte sie in der Nähe von Otschakiw: „Ist die Krym weit weg?“

Ich habe nie gedacht, dass der Krieg wie ein Fluss ist. Den es zu überwinden gilt. Man muss Pontonbrücken bauen, wenn normale Brücken gesprengt werden. Mehrmals bauen, wenn auch die Ponton-Brücken gesprengt werden.

Der Fluss Siwerskyj Donezk könnte der wichtigste Fluss in unserem Krieg sein. Er hat uns geteilt. Es ist unmöglich, voranzukommen. Und mein Siwerskyj Donezk ist das Erholungszentrum „Figuriwka“ bei Chuhujiw. Es ist ein Universitäts-Freizeitzentrum. Nadja ist hier aufgewachsen. Seit es mit der Krym aus war, haben wir mit ihr hier den halben Sommer verbracht. Einmal waren wir auch in der Türkei. Wie halb Charkiw haben wir bei dem Film über Lew Landau Geld gemacht. Nadija hat es in der Türkei sehr gut gefallen. Alles inklusive, auch Wasserrutschen. Aber sie hatte Heimweh nach „Figuriwka“. Siverskyj Donezk. Sie fragte, ob wir nach dem Aufenthalt am Ägäischen Meer dorthin fahren würden. Natürlich sind wir hingefahren.

Dieses Jahr sind wir nicht dorthin gefahren. „Figuriwka“ existiert nicht mehr. Bei Chuhujiw ist alles zerstört. Bei Chuhujiw gibt es einen Militärflugplatz.

Flugzeuge flogen über Chuhujiw. Von acht Uhr morgens bis spät am Abend. Du bist am Strand – sie fliegen vorbei. Du gehst zum Mittagessen – sie gehen zum Mittagessen. Sie waren Teil des Urlaubs und wir hatten keine Angst vor ihnen.

Nadija hat jetzt Angst vor Flugzeugen. Ich auch. Ich werde noch lange Angst haben.

 

In Poltawa befindet sich die riesige Brotfabrik Kulynytschi, Charkiw wurde bombardiert. Gleich am ersten Tag. Und dann immer wieder. Kulynytschi liegt am Stadtrand. Die Panzer standen lange dort. Drei Monate lang.

Olena arbeitete in der Buchhaltung. Sie wollte gleich am ersten Tag zur Arbeit gehen. Sie telefonierte: Gehen oder nicht gehen? „Nach eigenem Ermessen“, hieß es, sie ging nicht. Am nächsten Tag konnte sie schon nirgendwo hin. Die Brille, ihre bequemen Pantoffeln, eine Ikea-Tasse – ein Geburtstagsgeschenk – waren dortgeblieben. Sie war arbeitslos.

„Mädels, hallo! Wie geht's?“

„Die gesamte Leitungsetage ist in Poltawa.“

„Wer weiß, was mit Tanja los ist? Ich kann sie nicht erreichen.“

„Ich bin nach Krasnopawliwka zu meinen Eltern, in der Nähe von Lozowa.“

„Wer kein Dach mehr über dem Kopf hat, das Sanatorium Roschtscha nimmt Flüchtlinge auf, in der Ortschaft Pisotschyn, die Zimmer sind anständig, sauber, mit Bettwäsche, beheizt, drei Mahlzeiten am Tag, kostenlos, es gibt viele Plätze. Ruf Tetjana Mychajliwna an. Gebt es bitte weiter, wenn ihr Bekannte in Charkiw habt.“

„Ich bin nicht in Charkiw“.

„Ich bin in der Stadt.“

„Ich bin außerhalb der Stadt.“

„Hallo, ich kann im Homeoffice arbeiten, Hauptsache ist, es gibt Licht. Es hat schon wieder gekracht, und der Strom ist ausgefallen“.

„Sie schreiben, dass in Kulynytschi heftig geschossen wird, eine Freundin konnte die Hofeinfahrt nicht verlassen.“

„Die Arbeitsunterlagen sind in Tresoren und im Keller versteckt. Die Antwort ist OK“. „OK – Personalabteilung“.

„Das ist alles. Der CEO ist jetzt in Moskau, die Russin in Charkiw“.

Nadja hält sich für eine Poltawarin. Sie ist eine echte Poltawarin. Olena hat einen Job gefunden: Ich zeige ihnen Poltawa. Ich wurde hier in der Puschkin-Straße 31 geboren. Erster Eingang, erster Stock. Der Eingang befindet sich in der Kotljarewskyj-Straße. Meine Eltern lebten hier in der Clara-Zetkin-, jetzt Oksana-Meschko-Straße in den Jahren 1953 bis 1961. Wir hatten den Flur und ein Zimmer in einem Privathaus gemietet.

Die Beziehungen zu Puschkin sind kompliziert. Vielleicht werden sie die Straße auch umbenennen. Die Puschkins, Iskanders, Grads, Kalibrows, Smertschews.

 

In Poltawa treiben wir uns überall herum, im Anwesen von Panas Myrnyj, bei der Datsche von Mykola Sklifosofskyj, im Dendro-Park, im Heilig-Kreuz-Kloster. In Poltawa gibt es eine Menge zu sehen. Ich kenne mich aus in Poltawa, auch auf der Krym, und auch die Gegend von Figuriwka kenne ich, und ich habe dort Angst.

Ich laufe durch Poltawa, doch durch Charkiw wandere ich nur mit dem Finger auf dem Stadtplan. Es kommt angeflogen und es wir nicht gemeldet, wo es angeflogen kommt. Aber man kann es herausfinden. Man kann es anhand der Details erkennen. Architektonische Merkmale. Eine vertraute Ecke. Die Kombination der Häuser. Wir hatten einen schönen Spaziergang mit Oleh und Jura, Natalka und Olena. „Erkennst du es?“ – Ich schreibe Oleh und schicke ihm ein Foto der Ruinen über Telegram. Den Ort soll man nicht angeben. Oleh antwortet: „Ja“. Manchmal vergessen wir uns selbst: Chalturina? Franzuskyj Bulvar wurde auch getroffen. Und Turynka. Limonow wuchs in Turynka auf. Er starb vor zwei Jahren. Wenn er gelebt hätte, hätte er wie Dobkin geflucht. Dobkin trägt heute eine UPA-Mütze. Ich erinnere mich noch an ihn, als er ein T-Shirt trug, auf dem Berkut stand. Einige meiner Freunde liebten vor dem Krieg Russland. Sie sprachen über ukrainische Nazis. Heute hat Andrij angerufen. Er hat auch vorher schon angerufen, ich ging nicht ans Telefon. Ich wollte nicht streiten und hören, dass wir uns selbst beschießen. Dass die Russen kommen werden. Er sitzt in einem Laden, dessen Fenster nach Norden gehen. Zu Hause ist es, Gott sei Dank, andersherum. Aber das hilft auch nicht. Es fliegt rein, es fliegt auf verschiedenen Wegen herbei. „Heute ganz besonders.“ Er war im Umland von Tscherkasy gewesen und kam nach Charkiw. Er wird wieder gehen – seine Freundin aus Petersburg lädt ihn nach Transkarpatien ein. Sie hat eine Art Ferienhaus, „lebe umsonst“ inklusive Verpflegung. Sie wollte die Fahrt bezahlen. Er wird die Fahrt selbst bezahlen. Er fuhr jedes Jahr auf die Solovky. Er nahm mich und Jura im Jahr 2005 mit. Es ist wunderschön dort. Die Natur. Der Norden. Die Pferde betreten den Laden, die Käufer machen Platz. Ich habe das Grab von Kalnyschewskyj gesehen. Ich habe mit Jura Blumen aufs Grab gelegt. Blau-Gelb. Wir haben sie auf einem Feld gepflückt.

Andrej wusste nicht, wer Kalnyschewskyj war. Wahrscheinlich weiß er es selbst jetzt nicht. „Wann wird er wieder auf die Solovky fahren? Wahrscheinlich nie“. Er fährt nach Transkarpatien. Zur Freundin.

Vor dem Krieg habe ich Interessierten ein bestimmtes Haus in Charkiw gezeigt. Auch Besuchern aus Russland. Ein Haus im Zentrum, in dem ich aufgewachsen bin. Ich kenne es, seit ich klein war. Ich bin schon tausendmal daran vorbeigegangen. Der Hof ist mit der Sumskyj-Straße verbunden. Als Parallelstraße. Wenn ich durch den Hof ging, schaute ich sie mir jedes Mal an. Die Vertiefungen in der Wand. Von Kugeln oder Splittern. Markant, viele. Überall an der Wand. Ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg. Es gab kein anderes lebendes Zeugnis. Der Rest sind Geschichten und Fotos. Das Denkmal für den Komsomol-Helden im Hof des Hauses gegenüber. Soldat, Vaterlands-Mutter, Gedenkstätte.

Die zerkratzte Wand erschreckte, zog an. In meiner Kindheit gab es nur eine solche Mauer in Charkiw. Wenn Nadja zurückkehrt, werden es viele sein. Charkiw ist erschreckend, nicht anziehend. Ich habe Angst vor Charkiw. Wäre es möglich, nicht zurückzukehren, würde ich niemals dorthin zurückkehren.

Ljudotschka, ihr Mann und ihr Sohn sind in der Nähe von Drohobytsch. In der Heimatregion ihres Mannes. Sie macht gerade Heu. Ljudotschka ist Schulleiterin.

Ihr Bezirk rief sie zur Arbeit. Drei Wochen lang muss sie in ihre Schule gehen, Dokumente ausstellen und die Schule auf das neue Schuljahr vorbereiten. Ljudotschka kehrte nach Charkiw zurück. Charkiw wird jeden Tag beschossen. Den Nachrichten zufolge gibt es eine Division in Belgorod, die auf Putins Befehl Charkiw einnehmen soll. Jeden Tag eine Schule weniger. In Charkiw gibt es viele Schulen. Sie informieren nicht, welche es ist. Aber man kann es anhand der Fotos nachvollziehen. Die Fotos werden veröffentlicht. Sie veröffentlichen auch die Worte der Schuldirektorinnen mit dem Vor- und Nachnamen. Google verrät es dann. Ich habe sie jeden Tag an Ljudotschka geschickt. Das hat sie nicht erschreckt. Sie ging. Der Bezirksschulverwaltung ist schrecklicher. Und es ist noch schrecklicher, ohne Einkommen zu leben. Ihr Mann ist Diabetiker.

 

„Zu Hause...

Die Bahnsteige in Charkiw waren noch nie so leer. Nur fünf Menschen stiegen aus dem Zug nach Charkiw, in manchen Waggons waren es überhaupt null. Ich habe drei Menschen getroffen.“

Diejenigen, die geblieben sind, mögen jene nicht besonders, die gegangen sind. Ein bisschen wie Verräter. Aber diejenigen, die zurückkehren, werden mit Freude begrüßt. Wie die eigenen Leute. Sie hören keine Vorwürfe. Jetzt stecken sie gemeinsam in der Klemme. Ljudotschka war gerade erst angekommen, da brachte ein Nachbar Gries, eine andere Nachbarin Beeren. In der Schule brachen die Kollegen das Brot – der humanitäre Brotlaib wurde in zwei Hälften geteilt. Ljudotschka fühlt sich nicht wie eine Verräterin oder ein Flüchtling. Sie fühlt sich unausgeschlafen.

„Ljudotschka, wie geht es dir?“

„Ich halte durch. Sie lassen mich nicht schlafen, aber die Schule läuft ganz gut. Der Weg kostet mich die meiste Kraft.“

„Zur Arbeit? Läufst du zickzack? Hört man es? Nah?“

„Nicht nah, aber man hört es die ganze Zeit. Heute ist überhaupt ein schwarzer Tag.“

„Ljudotschka, alles in Ordnung, wo bist du?“

„Im Keller, bei der Arbeit. Ich habe dort einen Herd und einen Teekessel. Ich habe es mir so bequem wie möglich gemacht.“

„Schläfst du zu Hause an einem sicheren Ort? Weit genug weg von den Fenstern?“

„Bei mir hat nur die Toilette keine Fenster. Ich stehe auf und gehe in den Keller. Ich renne die ganze Nacht herum. Heute wurde irgendwo in unserem Bezirk eine Schule zerbombt.“

Ich schicke ihr keine Nachrichten mehr über Schulen. Ich schicke ihr unausgeschlafene Kätzchen. Davon gibt es in letzter Zeit eine Menge auf Telegram. Sie schickt Fotos von ausgesetzten Kätzchen. Ihre ist im Hinterhof. „Vielleicht adoptiert sie jemand?“

 

„Gestern bin ich zum ersten Mal eine Station mit der Trambahn gefahren... Die Menschen sind traurig und still, oder besser gesagt, schweigsam... Niemand lärmt: Man solle ihn nicht stoßen! Das Fenster schließen! Etc. Die Gesichter mancher Menschen sind einfach nur erschöpft. Jeder hat dicke Tränensäcke unter den Augen. Charkiw schläft nicht. Wenn sie aussteigen, danken sie dem Fahrer.

„Gestern ist mir aufgefallen, dass die meisten unserer Frauen und Mädchen keine schönen Kleider tragen. Erinnerst du dich an unseren Blumengarten in Charkiw? Mini, Maxi, Hüte. Alle in Jeans und Sportkleidung. Wie die Binnenflüchtlinge.“

 

(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)