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09.11.2020, 13:50 Uhr
Laura Worsch
Text & Debatte
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(c) Fabian Frinzel

Über den beeindruckenden Debütroman von Markus Ostermair

Bereits als Zivildienstleistender in München begann Markus Ostermair sich mit dem Thema Obdachlosigkeit auseinanderzusetzen. Sein Roman Der Sandler (2020), für dessen Entstehung er diverse Stipendien und Förderpreise erhalten hat, darunter das Literaturstipendium der Stadt München, baut auch auf diesen Erfahrungen auf. Soeben wurde der Roman mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet. Laura Worsch hat ihn für uns gelesen.

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Um die 1000 obdachlose Menschen gibt es in München hinter den Fassaden ihrer Schickeria. Markus Ostermairs Debütroman erzählt die Geschichte von Karl, Kurt und Lenz. Man kennt sich meist nur vom Sehen oder von zufälligen Treffen in der Mission. Hier laufen alle Fäden zusammen, überkreuzen sich kurz und geben Einblick in die Schicksale der anderen, bevor jeder wieder seines Weges geht.

Man braucht eine Weile, um sich in den immer wieder wechselnden Perspektiven zurechtzufinden. Doch nach und nach bilden sich drei Hauptstränge heraus: Karl, ehemaliger Lehrer und Familienvater, entkommt den Erinnerungen an sein altes Leben nicht. Sein Weggefährte Lenz hätte gute Voraussetzungen, um von der Straße herunterzukommen, machten ihm nicht Psyche und Körper einen Strich durch die Rechnung. Und Kurt will endlich die Mechanismen von Gewalt und Erniedrigung durchbrechen, die sein Leben schon so lange bestimmen. Einzelne Kapitel ergänzen diese Struktur um die drei Hauptcharaktere, sie zeigen das Leben einer Sozialarbeiterin und einer Mutter aus Rumänien. Alle haben einen scheinbar ausweglosen Alltag gemein, der von Gedanken an große Pläne durchbrochen wird.

Der Begriff Sandler ist ein in Bayern und Oberösterreich geläufiges und eher abwertendes Synonym für eine obdachlose Person. Etymologisch passend ist aber auch Karls Beschreibung seines Freundes Lenz: „Der rieselt einem durch die Hände wie Sand und niemand weiß, wo der sich rumtreibt.“ In dem Begriff schwingen eine Freiheit und Ungebundenheit mit, die manchen Charakteren des Buches zu eigen sind – beispielsweise Mechthild, für die das Leben auf der Straße eine Zuflucht aus früheren Zwängen ist.

Ein Roman über Obdachlosigkeit – geht das überhaupt? Die Gefahr von Kitsch und Stereotypen ist groß. Doch schon nach den ersten Kapiteln wird klar, dass es gerade die eigenen Vorurteile sind, die der Roman unaufgeregt und urteilslos anspricht. Über die Auszüge aus Lenz‘ Zettelwust etwa will man schon hinweglesen, so wie man das scheinbar wirre Gebrabbel von Obdachlosen auf der Straße oder in der S-Bahn ignoriert. Anfangs will es keinen Sinn ergeben, Lenz‘ Gerede von Revolution und sein Entwurf eines alternativen Gesellschaftsmodells. Spinner, denkt man, denkt selbst sein Kumpel Karl. Die philosophische Tiefe seiner Aussagen wird überlagert von Schmutz und Unordnung.

Als Leser*in kann man nicht umhin, zeitweise den Standpunkt der kapitalistischen Mehrheitsgesellschaft einzunehmen, was mit teils schmerzlicher Selbstverteidigung einhergeht. Gibt man einem Obdachlosen nicht tatsächlich lieber etwas, wenn er oder sie ein Instrument spielt, also etwas leistet für die Spende? Und wer hat nicht schon einmal lieber eine Breze, eine Banane oder einen Kaffee gespendet, damit das Geld nicht nur in den vermuteten nächsten Schnaps fließt?

Aber darum geht es gar nicht. Das Vorhalten des eigenen Spiegels gelingt Ostermair völlig beiläufig, es scheint oft auf das Unbewusste zu zielen. Der Roman ist ein Bericht der Unsichtbaren, eines Teils der Gesellschaft, den zu übersehen wir schon als Kinder lernen, weil eine Auseinandersetzung damit nicht zu unserer Illusion von der Wohlstandsgesellschaft passt. Und als Lenz einmal hört, wie ein Vater seiner Tochter erklärt, dass der Obdachlose entweder faul sei oder Pech gehabt habe, ist klar, dass es so einfach eben nicht ist.