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12.03.2020, 15:05 Uhr
Michael Stephan
Text & Debatte
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Georg Queri, Fotografie (Bayerische Staatsbibliothek München/Hoffmann)

Lion Feuchtwanger, Georg Queri und die Passionsspiele 1910

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Die Festbühne in Oberammergau, auf der die 'Kreuzesschule' aufgeführt wurde; ca. 1906

Die 138. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Ankommen. Michael Stephan schreibt darin anlässlich einer Lion Feuchtwanger-Tagung über einen kuriosen Literaturstreit aus dem Jahre 1910.

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Der renommierten International Feuchtwanger Society wurde im Laufe der Tagung, die vom 17. bis 20. Oktober 2019 zum neunten Mal stattfand, aber erstmals in der Geburtsstadt des Autors, selbst erst so richtig klar, wie viel das Thema »Lion Feuchtwanger und München« tatsächlich hergibt. Den Auftakt im Jüdischen Gemeindezentrum machte der gelungene Abendvortrag von Heike Specht (Zürich), die eine Kurzfassung ihrer Dissertation bot: Lion und die Feuchtwangers – eine historische Familienaufstellung.

Im Mittelpunkt der Tagung, die teilweise auch im NS-­Dokumentationszentrum stattfand, standen die frühen Jahre des Schriftstellers, Theaterkritikers und Literaturwissenschaftlers, um die eine Fülle von Referaten kreiste. Zwei Arbeitssektionen widmeten sich aus verschiedenen Perspektiven den frühen Werken Feuchtwangers; unter den Beiträgen besonders hervorzuheben: das Porträt der kurzlebigen Zeitschrift Der Spiegel (1908) durch Antonie Magen (München) und Gerald Sommer (Berlin).
 
Andreas Heusler, der 2014 eine ausgezeichnete Biografie Feuchtwangers mit dem Untertitel Münchner – Emigrant – Weltbürger vorgelegt und auch die Tagung für das Stadtarchiv München konzeptionell vorbereitet sowie mitorganisiert hat, widmete sich dem »Enfant terrible« der Münchner Kulturszene, speziell dem Phoebus-Skandal von 1909. Roland Jaeger (Hamburg) untersuchte bibliografisch die Münchner Verlage Feuchtwangers, wobei er für eine illustrierte Dokumentation der Erstausgaben plädierte.
 
Allein drei Referate, darunter auch eines von dem Münchner Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer, befassten sich mit dem »dramatischen Roman« Thomas Wendt (1920), zu dem Feuchtwanger durch die Novemberrevolution von 1919 inspiriert worden ist. Klaus-Peter Möller (Berlin), einer der Herausgeber der 2018 erschienenen Tagebücher Feuchtwangers, konstatierte, dass Feuchtwanger die dramatischen Ereignisse eher nebenher registriert und sein Leben ziemlich unbeeindruckt als Schriftsteller, Regisseur und Frauenheld fortgesetzt hat. So notierte Feuchtwanger am 8. November 1918 in sein Tagebuch: »Revolution. Vorläufig für uns ziemlich belanglos.«
 
Den Abschluss bildeten drei Referate, die sich mit einem Schlüsselwerk Feuchtwangers, dem Roman Erfolg (1930), befassten. Franziska Wolf (Birmingham) interpretierte in ihrem Vortrag Bayern auf der Couch den Roman psychoanalytisch, während Adrian Feuchtwanger (Winchester), ein Großneffe Lions, sich mit dem Antisemitismus der »Wahrhaft Deutschen« auseinandersetzte.

 
Ein Literaturstreit
 
Lion Feuchtwanger (1884-1958), der 1907 sein Studium der Theaterwissenschaft an der Münchner Universität mit Promotion abgeschlossen hatte und seit November 1908 als Theaterkritiker an der von Siegfried Jacobsohn herausgegebenen Wochenzeitschrift Die Schaubühne mitarbeitete, hat sich im Jahr 1910, dem Jahr der 30. Passionsspiele in Oberammergau, in drei großen Artikeln intensiv und äußerst polemisch mit diesem erstmals 1634 und seit 1680 alle zehn Jahre aufgeführten Theaterstück und all seinen Begleitumständen auseinandergesetzt.

Im ersten Text »Oberammergau«, der in zwei Teilen am 14. und 21. April schon vor der Premiere am 11. Mai erschien, analysierte Feuchtwanger grundsätzlich die Textfassung und Dramaturgie, wie sie seit 1850 auf der Grundlage des von dem Oberammergauer Pfarrer Joseph Alois Daisenberger neugestalteten Textes unverändert gespielt worden ist.
 
»Man bekommt Kopfschmerzen über dieser Prosa«, bemerkte Feuchtwanger polemisch. Die Bewohner Oberammergaus, »eines der reizlosesten Dörfer des bayerischen Hochlandes«, erschienen ihm »stumpf und schläfrig, hinterhältig und profitgierig, geneigt zum Raufen, zum Wildern und zum Trinken«. Da nur Bewohner Oberammergaus an den Passionsspielen teilnehmen dürfen, »herrscht eine traurige Inzucht«. Die Anziehungskraft der Spiele, die auch im Jahr 1910 ein touristisches Großereignis mit 223.000 Besuchern aus aller Welt werden sollten, erklärt sich der junge Kritiker mit der Geschäftstüchtigkeit der Bewohner, die es gut verstünden, die übersinnlichen Werte der Passion ins Materielle zu übersetzen.

Verständlich, dass der Rundumschlag große Kritik hervorrief, vor allem von dem Journalisten, Schriftsteller und Volkskundler Georg Queri (1879-1919). Queri hatte in diesem Jahr neben weiteren einschlägigen Veröffentlichungen den Urtext des Oberammergauer Passionsspiels des Jahres 1662 in einer bibliophil aufgemachten Publikation kommentiert herausgegeben und berichtete nun für die Münchner Neuesten Nachrichten in einer regelmäßigen Kolumne »Aus dem Passionsdorfe«.
 
In der Kolumne vom 27. April notierte Queri, dass er nichts mehr über die Passion zu schreiben brauche, da sie ja bereits ad acta gelegt worden sei, und griff dann Feuchtwanger persönlich an: »Erledigt, vernichtet, deglorifiziert durch Lion Feuchtwanger, Doktor der Philosophie, Verfasser zweier schnaderhüpferlfreier moderner Einakter und Arrangeur des ‚berühmt‘ gewordenen Münchner ‚Phoebus‘­ Ballfestes«, Letzteres eine Anspielung auf einen im Vorjahr von Feuchtwangers literarischer Vereinigung »Phoebus« organisierten, dann aber wegen nicht bezahlter Rechnungen sensationell geplatzten Münchner Faschingsball. Queri riet nun dem »Jung-Phoebus«, eine neue große Passionstragödie zu schreiben, sein Anhang werde dann sicher »Jubelpsalmen und Ruhmeshymnen« zu singen haben.

Die Attacke Queris fand noch am selben Tag Niederschlag in Feuchtwangers  erst 2018 veröffentlichten  intimem Tagebuch: »In den Neuesten erscheint ein Artikel von Queri, der sich sehr über mich lustig macht.« Feuchtwanger rächte sich mit einer boshaften Erwiderung in der Schaubühne am 12. Mai mit dem Titel »Der Retter Oberammergaus«. Wahrscheinlich habe Queri früher mehr von »Phoebus« gehalten, sonst hätte er nicht eine Komödie eingereicht (wohl das Stück »Lasset uns lieben« von 1905), die sich leider zur Aufführung nicht geeignet habe. Feuchtwangers Retourkutsche gipfelte in folgendem Satz: »Charakteristisch aber ist es, dass selbst in München für die Passionsspiele kein andrer eintritt als ein Lokalreporter, der die Welt vom Standpunkt eines Schnadahüpfeldichters betrachtet und über ästhetische Fragen mit den Sprüchen eines Haberfeldtreibers debattiert.«

 Lion Feuchtwanger und Georg Queri / Fotos: gemeinfrei, CC BY-SA 4.0
 
Trotz der grundsätzlichen Kritik an den Passionsspielen fährt Feuchtwanger dennoch zur Generalprobe nach Oberammergau  »mit Inbrunst im Herzen«, aber das nutzte nichts, er fand das Spiel wieder reizlos. Während Feuchtwanger seine Auseinandersetzung mit dem Passionsspiel mit einer sehr kritischen Besprechung der Premiere vom 11. Mai krönte (erschienen in der Schaubühne am 2. Juni), beteiligte sich Queri dann noch mit ein paar launigen Schnurren und Anekdoten an der braven Sondernummer »Oberammergau« der Zeitschrift Jugend (Nr. 26 vom 25. Juni 1910).

In diesem Streit trafen zwei ganz unterschiedliche Autoren aufeinander: mit Georg Queri der Vertreter einer konservativen Heimatliteratur (trotz seiner sonst eher antiklerikalen Einstellung) und mit Lion Feuchtwanger ein Vertreter einer modernen, kulturkritischen Richtung. Oberammergau hatte für beide Autoren eine Symbolkraft, die aber jeder nach seiner Weise positiv beziehungsweise negativ auslegte.

Für Feuchtwanger behielt Oberammergau eine solche Symbolik für das Bayern, wie er es sah, dass es  kaum verfremdet  in seinem Roman Erfolg von 1930 in einem eigenen Kapitel wieder Verwendung fand: »Das Apostelspiel in Oberfernbach«. Dort heißt es: »Zur Zeit der Urgroßväter hatten diese bayerischen Bauern ihr Spiel aufgeführt aus naiver Frommheit und aus herzhafter Freude am Komödienspiel: jetzt war die einfältige Weihe zur gut organisierten, rentablen Industrie geworden. Sie hatte dem Dorf eine Bahnlinie gebracht, Absatz für die Produkte seiner Holzschnitzereien, Kanalisation, Hotels. Heuer, während der Inflation, da man sich die einfältige Weihe in hochwertigem ausländischen Geld bezahlen ließ, war für die Oberfernbacher eine besonders gute Zeit.«
 

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Dr. Michael Stephan, 1954 in Stuttgart geboren, aufgewachsen in München und hier lebend; Leiter des Stadtarchivs München; dort Herausgeber der Stadtviertelreihe Zeitreise ins alte München und Autor des Bandes über Schwabing (2015); Mitherausgeber der Reihe Miscellanea Bavarica Monacensia. Viele stadtgeschichtliche Vorträge und Publikationen; einer der Schwerpunkte ist die literarische Szene Münchens (u.a. Franz von Pocci, Henrik Ibsen, Thomas Mann, Georg Queri, Max Halbe und Josef Ruederer). Vorsitzender des Historischen Vereins von Oberbayern; Vorstandsmitglied des Kulturforums der Sozialdemokratie in München und der Franz-Graf-von-Pocci-Gesellschaft; Mitglied der Deutschen Schillergesellschaft und der „Saubande“, dem Freundeskreis des Valentin-Karlstadt-Musäums.