Info
20.12.2018, 12:19 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte

Zum 91. Todestag von Michael Georg Conrad: Über Karl Wilhelm Diefenbach

Michael Georg Conrad um 1906 (Münchner Stadtmuseum; FM 87/61-1002/11); Karl Wilhelm Diefenbach vor seinem Haus in Capri

Der symbolistische Maler Karl Wilhelm Diefenbach (21.2.1851 in Hadamar; †15.12.1913 auf Capri) gilt als „Urvater der Alternativbewegungen“ und Pionier der Lebensreform, der Freikörperkultur, des Veganismus und der Friedensbewegung. In Kutte und Sandalen verkündete er in München seine Lehren. Für die von seinem Schüler, dem anderen „Kohlrabiapostel“ Gusto Gräser gegründete Reformsiedlung „Monte Verità“ bei Ascona wurde Diefenbachs auch als „Gral der Moderne“ bezeichnete Landkommune Himmelhof in Wien (1897-1899) zum Vorbild.

Schon 1885 hatte der Dichter Michael Georg Conrad unter dem Pseudonym „Vult“ im ersten Jahrgang seiner dem Naturalismus Bahn brechenden Zeitschrift Die Gesellschaft auf den Mann, „angethan mit einem weiten, weißgrauen Talar, das Haupt unbedeckt, Haare und Bart ungeschoren“ aufmerksam gemacht. Der Artikel trägt den Titel „Karl Wilhelm Diefenbach“:

Welch’ ein unzeitgemäßer Mensch! Man denke doch: er lebt im Lande des berühmtesten Bieres – und er trinkt nur frisches Wasser; er lebt in der Stadt der ewigen Kalbshaxen und der saftigsten Braten – und er begnügt sich mit der Pflanzenkost des strengsten Vegetarianers; er lebt in der Kunststadt, wo die buntesten und vertraktesten Modebilder auf den Straßen herumlaufen – und er kleidet sich in ein schlichtes wollenes Kuttengewand; alle Welt verbummelt die heiligen Sonntage so sündhaft und vergnügt als möglich – und er sammelt seine Gedanken und hält öffentliche Vorträge über die Quellen des menschlichen Elendes; alle Welt hastet in wildegoistischem Narrentanz nach Lust und Reichtum und Ehre – er beschäftigt sich mit dem Leid der Anderen und erstrebt nichts, als daß man ihn unbehelligt seinen uneigennützigen Beruf erfüllen lasse.

Welch ein unzeitgemäßer Mensch, nichtwahr? Mehr noch: ein Narr, ein Unfugtreiber, ein polizeiwidriges Individuum, nichtwahr? Ei freilich! Wiederholt ist er seiner Kleidung wegen vor die Schranken des Gerichtes berufen und des öffentlichen Unfuges angeklagt worden –; in den volkstümlichen Witzblättchen ist er als „Kohlrabi-Apostel“ eine belachte stehende Figur  –; die vereinsmäßigen laxen Vegetarianer hassen ihn wegen seiner unbeugsamen Konsequenz –; die Sozialdemokraten und andere parteimäßige Volksbeglücker verachten ihn wegen seiner Unabhängigkeit und Selbsttreue; die große Herde der wohlgesinnten, zeitgemäß gebildeten und gedrillten Philister verlacht und verspottet ihn als einen reinen Thoren ...

Eine Münchener Sehenswürdigkeit! höhnen die Einen, ein Kandidat für das Narrenhaus! rufen die Andern.

Was wissen sie von seinem eigentlichen Leben und Streben. So gut wie nichts.

Diefenbach: Du sollst nicht töten, 1903

Den zeitgenössischen Münchner Leserinnen und Lesern der im folgenden Textauszug dargestellten rätselhaften Lauschzene aus Michael Georg Conrads Was die Isar rauscht: Münchener Roman (1887) fiel es erheblich leichter zwischen den Zeilen zu lesen als uns heutigen. Die Beschreibung des Mannes, seine gesellschaftliche Außenseiterrolle, der Name der Gefährtin und sein Zufluchtsort, der „Steinbruch, dessen Felsen die Hölle verriegeln“ ließen damals wenig Raum für Zweifel, wer sich hinter „Meister Effenbach“, dem Talarträger, und seiner Begleiterin verbarg:

Diefenbach, der im Roman so genannt wird, war seit 1882 mit Magdalena Atzinger (*26.6.1853 in Osterhofen; †19.9.1890 in München) verheiratet, der Mutter seiner drei Kinder Helios, Stella und Lucidus. Diefenbach hatte sie 1878 auf einer Reise nach Südtirol kennengelernt, wo sie als Erzieherin auf einem Schloss arbeitete. Obwohl ihm die Institution Ehe verhasst war, heiratete er Magdalena zwei Jahre nach der Geburt seines Ältesten, um die soziale Ächtung der Kinder zu vermeiden. Die Familie hauste von 1885 bis 1888 in einer ehemaligen Arbeiterunterkunft in dem aufgelassenen Steinbruch von Höllriegelskreuth bei Großhesselohe. Als Magdalena Diefenbach starb, lebte das Ehepaar schon seit Längerem getrennt und in erbitterter Feindschaft. Ihr Grab befindet sich auf dem Alten Nördlichen Friedhof an der Arcisstraße (Grabfeld 13, Reihe 3, Nr. 44).

*  *  *

Hart am Ufer stand ein riesig hoher, mannsdicker Weidenbaum mit weitausladendem, gegen den Fluß überhängendem Astwerk. Eine Wurzel, dick wie ein Mannsschenkel, war vom Stamm frei in die Höhe gewachsen mit einer länglichrunden Schlinge nach auswärts, die einen natürlichen Sitzplatz bot, jedoch nur hochgewachsenen Leuten erreichbar.

Auf dem Wurzelsitz hockte ein Mann mit herniederbaumelnden nackten Füßen, angethan mit einem weiten, weißgrauen Talar, das Haupt unbedeckt, Haare und Bart ungeschoren. Neben ihm kauerte ein Weib, in schwarze Tücher und Fetzen regellos gehüllt; die Gestalt war mehr zu erraten, als deutlich zu sehen. Sie hatte die Beine an den Leib gezogen; Kopf und Brust lagen im Schooß des Mannes, die Arme hingen schlaff herab.

Es war Zufall, daß Schlichtings Blick die Gruppe auf dem Wurzelsitz gewahrte. Vom Wege aus war sie nicht leicht zu bemerken; die Schattenwirkung war an dieser Stelle der Anlage so stark, daß nur ein gewitzigtes Auge durch die weißgraue Talarsilhouette angeleitet werden konnte, hier menschliche Gestalten zu suchen. Zudem hielten sich die Umrißlinien fast unbeweglich: nur der herabhängende Arm machte ab und zu eine pendelnde Bewegung, gleich einer Geste, die ein Wort begleitet, und der ruhende Frauenkopf hob sich zuweilen zu einer seitlichen Drehung, um dem Manne ins Antlitz zu sehen, mit dessen Bart- und Haupthaar-Gelock die Nachtluft spielte.

Wie der Jäger sich an ein edles Wild heranpirscht, so schritt Schlichting, nachdem er zuerst überrascht zurückgewichen, auf den Zehenspitzen in weitem Kreise, von Buschwerk und Baumstämmen gedeckt, auf den Weidenbaum zu, um möglichst nahe an das seltsame Menschenpaar heranzukommen, dessen Gebaren und Gespräche zu belauschen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das gelang. Schlichting hatte endlich seinen Standpunkt hinter dem dicken Weidenstamm selbst gefunden, so daß er jedes geflüsterte Wort vernehmen konnte. Zuerst war er so erregt, über diese heimliche Annäherung und so wenig dieser indiskreten Lauscherrolle mächtig, daß er sein Herz laut pochen und seine Ohren sausen hörte.

Diefenbach: Abschied, 1892

Das Weib fragte fast immer, aber mit merkwürdiger Betonung, und dann kam wieder ein Tonfall, der wie ein bewußtloses Traumreden klang, und hernach wieder ein leidenschaftliches Wort, dem ein totmüdes folgte.

Der Mann sprach ganz ruhig, ganz gleichmäßig, fast schläferig, doch lag eine wundersame Ueberzeugungskraft in seinen Worten und dazu eine Milde und Herzlichkeit, wie wenn eine Mutter zu einem kranken Kinde spricht. Er antwortete nicht auf jede Frage und nicht in der gestellten Reihenfolge; dann wieder brachte er etwas außer allem Zusammenhang vor, das vielleicht eine gedachte Frage beantworten oder von anderen Fragen ablenken sollte. Zuweilen wurde der Eindruck, als ob der Mann hier nur als Seelenarzt zu einer Verirrten und Geistes- und Gemütsgestörten spreche, doch wieder beeinträchtigt durch Anreden allerintimster Empfindung von ihr zu ihm.

Ungelöst blieben dem Lauscher als ebensoviele schwere Rätsel die seltsame Tracht der Beiden, der seltsame Ort, die seltsame Art und Bedeutung der Gespräche. Er kniff sich in die Nase, um sich zu überzeugen, daß er nicht das Opfer einer Halluzination, einer Vision oder dergleichen sei, sondern alles leibhaftig mit zurechnungsfähigen Sinnen erlebe. Und ächzten nicht die Zweige hoch über seinem Haupte im Nachtwind und tauschte nicht die Isar wehmütig leise herüber? Und war es nicht wie der belebende, drängende und süß erregende Atem des erwachenden Frühlings, was ringsum wehte und webte in geheimnisvoller Nacht? Nein, es ist kein Geisterspuk.

Jetzt aber galt es, alle Kritik zurückzudrängen und von dem Gehörten und Geschauten so viel als möglich und so genau als möglich dem Gedächtnisse einzuprägen. Als sie nach einigem Stillesein wieder zu fragen anhob, unterschied Schlichting ganz deutlich, daß die Stimme des Weibes älter klang, als die des Mannes. Sollte es die Mutter sein, die zu ihrem Sohne spricht? Nein, diese Annahme hat gegen sich, daß der Mann sie stets bei dem Namen Magdalena nennt. Oder wäre es ein verheimlichtes, oder dem einen oder andern Teile unbewußtes Kindesverhältnis? Rätsel über Rätsel! Hieroglyphen vielleicht eines Familiendramas?

Aus: per aspera ad astra, 1892

[...]

„Drum kehre wieder zu mir zurück in meinen Steinbruch, dessen Felsen die Hölle verriegeln. Wer will Dich dort anfechten?“

„Die Dich anfechten, sagen sie nicht, Du seiest ein verlorener Mann, und dem Untergang bleibe geweiht, wer sich an Dich hält, an Deine Lehre und Dein Leben?« Sie hob fragend den Kopf.

„Ich fürchte nichts, so lang' ich mir selbst Treue halte. Glaube mir, Magdalena.“

„O Dein Leben, ist's nicht schauerlich? Und triebest Du das seligste Werk, nimmer wirst Du Deinen Lohn finden. Du bist anders als die Andern, das ist Dein Verbrechen in ihren Augen. Anderssein ist Schuld. Ist nicht alles verdorben von Anfang an?“

„Ich bin getröstet, wenn Du bei mir bleibst. Dein gutes Schicksal will ich sein. Säume nicht länger, folge mir!“

„Du leidest Hunger und Durst im Steinbruch und Dein Leib friert, wie soll Dein Beispiel der Menge fruchten, die nach Wohlleben lüstet, die kein Laster und Verbrechen scheut, Wohlleben zu erreichen? Armer Mann, Du treibst ein traurig Handwerk! Und die Welt geht an Dir vorüber, zuckt die Achseln und verachtet Dich.“

„Ich gehe an der Welt vorüber und weihe ihr mein Mitleid,« klang des Mannes Stimme.

„Spricht sie nicht, Du seist ein Überflüssiger und Dein Mitleid Thorheit?“

„Die Welt ist, so lange ich sie will, sie ist nicht mehr, werfe ich den Willen von mir.“

„Hörst Du die Isar rauschen? Begrabe Deinen Willen in ihrer Flut und Du hast Ruhe. Alles fließt und zerfließt und sammelt sich wieder. Rauscht die Isar nicht auch an Deinem Steinbruch vorüber?« Das Weib richtete sich auf.

„Sie rauscht vorüber, aber ich höre sie nicht. Ich höre nur Dein Herz an dem meinigen schlagen und fühle Dein Elend. Komm' wieder zu mir, daß ich Deine Last tragen helfe. Es ist Zeit, folge mir!“ Weich, bittend sprach's der Mann.

„Geh' an der Zeit vorüber. Es ist nichts.“

„Du zitterst. Deine Hände sind kalt. Feucht fühle ich Deine Haare. Mitternacht naht und verscheucht die Wachenden. Ich trage Dich in meinen Armen davon. Dulde, daß meine Liebe Gewalt braucht ... Das Frührot findet uns geborgen im Steinbruch, Dich und mich ...“

Ein Herabgleiten, ein Wanken, ein Mühen, auf die Beine zu kommen. Endlich war das rätselhafte Paar müden Schritts auf dunklem Waldwege verschwunden. –

Mit sanftem Blinken schlüpfte die Sichel des abnehmenden Mondes aus dem Gewölke und umhüllte Isarlandschaft mit zartem bläulichen Schein. – –

Diefenbach: Sphinx mit Undine, 1902