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16.12.2025, 09:27 Uhr
Pierre Jarawan
Spektakula

Dankesrede von Pierre Jarawan anlässlich der Verleihung des Tukan-Preises 2025

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© Literaturportal Bayern

Der Schriftsteller Pierre Jarawan erhält für seinen bewegenden Roman Frau im Mond den renommierten Tukan-Preis 2025. Am 2. Dezember 2025 wurde ihm die Auszeichnung bei der feierlichen Preisverleihung im Literaturhaus München überreicht. Das Literaturportal Bayern war vor Ort und veröffentlicht hier mit freundlicher Genehmigung des Autors dessen Dankesrede.  

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Guten Abend. Seit ich weiß, dass ich den Tukan-Preis erhalte, denke ich öfter an Siebenschläfer. Ich habe einige Zeit mit der Frage zugebracht, ob das ein guter erster Satz für diesen Anlass ist; denn immerhin schwebt auch ein Tukan über diesem Abend und in wenigen Absätzen hat ein sprechendes Kamel einen Auftritt, bevor ich anschließend eine Handvoll Löwen erwähne. Aber ich habe, um mich abzusichern, meine vierjährigen Söhne gefragt, ob es zu viele Tiere in Texten geben kann, und die Antwort kam schnell und sie war einstimmig. Deswegen lautet der erste Satz also: Seit ich weiß, dass ich den Tukan Preis erhalte, denke ich öfter an Siebenschläfer.  
 
Literatur lebt von der Erwartung, dass sich eine Erwartung erfüllt. Das Erzählen lebt von der Erwartung, dass wir ihm folgen. Auch, wenn wir nicht immer wissen, wohin. Das ist bei einer Rede nicht anders. Ich verspreche also, dass ich auf die Fragen, die sich jetzt in euren Gesichtern abzeichnen – viele bekannte Gesichter, und viele befreundete Menschen, worüber ich mich sehr freue! – eine Antwort gebe.
 
Als Kind dachte ich häufig über das Wort „Sprachlosigkeit“ nach. Irgendetwas stimmte damit nicht. Ich kannte niemanden, der keine Sprache hatte. Das Wort beschrieb nicht einmal meinen Vater. Im Gegenteil. Er war nicht sprachlos. Er hatte eine Sprache, die er gern dafür nutzte, uns wahnsinnig lustige, pädagogisch hochgradig fragwürdige Geschichten zu erzählen; über Jamal Jamoul, ein durchgeknalltes sprechendes Kamel, das verrückte Abenteuer erlebte, und die er uns erzählte, wenn die Tür zum Kinderzimmer geschlossen war.
 
Ich spreche nicht mehr gut arabisch, aber neunzig Prozent der Flüche, die ich kenne, verdanke ich diesem Kamel. Und wenn ich für unsere Zwillinge heute Geschichten erfinde, selbstverständlich mit sprechenden Tieren darin, dann erkenne ich in ihrem maßlosen Gelächter meine Geschwister und mich wieder.
 
Ein Wort, das meinen Vater besser beschrieb, war „Schweigen“. Ob es auch ein „Verschweigen“ war, weiß ich bis heute nicht. Und genau hier, in dieser Leerstelle, liegt vielleicht der Ausgangspunkt dieser – zumindest für mich – ziemlich unwahrscheinlichen Reise, an deren heutiger Station ich diesen Preis erhalte. 
 
Frühe Atlanten und Karten illustrierten den Raum jenseits der bekannten Welt häufig mit Fabeltieren wie Seeschlangen und Seemonstern. Die Römer versahen auf Landkarten die Gegenden außerhalb der Grenzen ihres Reiches mit dem Hinweis: hic sunt leones. Hier sind Löwen. Der Satz diente als Warnung vor unerschlossenem, potenziell gefährlichem Gebiet. 
 
2017. Beirut. Ein Raum. Ein Hinterzimmer-Universum aus Aktenordnern, Zeitungsstapeln, Fotoalben, Tonbändern, Dokumenten. Schwaches Licht. Ein Ventilator, der die Hitze nur verteilen, aber nicht verdrängen kann. Vor der Tür: Schritte von Mitarbeitern. Papier wird von einem Kopierer eingezogen. Tastaturen klackern. Es zischt aus einer Kaffeemaschine. Die Frau, die mich in diesen Raum geführt und dann alleingelassen hat, spricht arabisch mit einer Kollegin. Seit einer halben Stunde sitze ich über den Seiten vergilbter Tageszeitungen und lese ihre Namen: 
 
- Joseph Tawil, 26; 12. Februar 1976 | Gegen 9 Uhr während einer Zigarettenpause 
- Jamal Sweid, 20; 18. März 1980 | Gegen 14 Uhr auf der Straße zum Flughafen 
- Arifa Shamandar, 15; 5. Juli 1985 | Gegen 17 Uhr während des Spaziergangs mit Freunden 
- Fatima Tayyar, 24; 21. November 1987 | Gegen 16 Uhr auf dem Weg zur Apotheke 
 
Dies sind nicht nur Namen von Menschen, die während des Bürgerkriegs verschwunden sind. Es sind nicht nur Vermisstenanzeigen. Es sind Geschichten über das Verlieren, Geschichten über Sprachlosigkeit. Und auch hier meine ich vielmehr: die Abwesenheit von Sprache. Ich weiß noch, dass ich aufstand und das Fenster öffnete. Ich weiß noch, dass ich von dort aus zurück auf den Schreibtisch blickte. Ein Windhauch kam durchs Fenster hinein und ließ die gestapelten Zeitungen rascheln. Und genau da, in diesem Moment, dachte ich erstmals seit vielen Jahren wieder an Siebenschläfer.  
 
Es heißt, wir sind die Summe unserer Erinnerungen; unsere Identität sei kunstvoll wie ein Teppich aus diesen Fragmenten gewebt. Ich denke, auf dieselbe Weise sind wir von den Dingen geformt, die wir vergessen, verdrängt oder vielleicht nie richtig verstanden haben. 
 
Wir kamen 1988 nach Deutschland. Für meine deutsche Mutter war es eine Rückkehr, für meinen Vater ein Heimatverlust. Als der Bürgerkrieg 1975 begann, war mein Vater achtzehn gewesen. Über die fünf Jahre, die von da an vergingen, bis er meine Mutter kennenlernte, sprach er nie. Auch nicht, wenn wir ihn danach fragten. Meine Mutter war Altenpflegerin, und er, nachdem er sich die deutsche Sprache mehr oder weniger gut angeeignet hatte, wurde Sozialarbeiter. 
 
Als Kinder fragten meine Geschwister und ich unsere Eltern oft nach dem Libanon aus. In der Regel war es aber meine Mutter, die erzählte. Von Nächten in Schutzkellern oder von auf Schulhöfe abgestürzten Hubschraubern. Meistens verließ mein Vater dann das Zimmer. 
 
An den Urlaub kurz nach der Scheidung unserer Eltern, als unser Vater mit uns in die Provence fuhr, würde ich mich ohne das folgende Ereignis womöglich gar nicht erinnern. Ich war elf oder zwölf, und es war einer dieser Urlaube, die Eltern für pädagogisch wertvoll halten, weil man in einer Hütte ohne Strom schläft und sich morgens mit Wasser aus der Regentonne wäscht. Die Hütte stand auf einem Hügel, war von Lavendelfeldern umgeben. 
 
Offenbar gehörte sie einem Bekannten meines Vaters, und es hätte ein wirklich schöner Urlaub werden können, wäre da nicht dieses Rascheln und Kratzen und Wuseln gewesen, dass wir in der Nacht vom Dachboden her in unseren Betten hörten.
„Siebenschläfer“, verkündete mein Vater am nächsten Morgen. Und er rief seinen Bekannten an. Für die folgende Nacht ermunterte Vater uns, im Auto zu schlafen. Er selbst blieb in der Hütte. 
 
Ich bin nicht sicher, ob ich, halb im Schlaf, tatsächlich gedämpfte Geräusche wahrnahm oder ob meine Erinnerung mir hier einen Streich spielt. Am nächsten Morgen wachten wir auf, kletterten aus dem Wagen und gingen in die Hütte, wo Vater uns gutgelaunt erwartete. Erst am Nachmittag fand mein Bruder die vier Siebenschläfer. Er holte mich, hob den Mülltonnendeckel an und sagte: „Um so kleine Tiere zu treffen, muss man ziemlich gut schießen können.“ 
 
Irgendwann schauen wir alle zurück und suchen nach den Wendepunkten, von denen wir sagen können: hier sind Löwen gewesen. Als könnten wir auf diese Weise die Wahrheit darüber erfahren, wie wir zu den Menschen wurden, die wir sind. Ich weiß noch, dass ich seit unserer Entdeckung in der Hütte immer öfter versuchte, mir meinen Vater als jungen Mann vorzustellen. Jünger noch als der Mann, der mich in meinem Baby-Fotoalbum auf dem Arm trug. Viel später einmal machten mein Bruder und ich uns die Mühe, Vaters Gesicht aus einem Foto auszuschneiden und es auf ein anderes Foto zu kleben, das wir im Internet gefunden hatten, und das einen jungen Mann in der Uniform einer libanesischen Miliz zeigte. Es wirkte völlig deplatziert und verschaffte uns keine Erkenntnis.  
 
Es entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Ironie, dass das Schweigen meines Vaters meine Sprache so sehr angereichert hat, dass drei Romane in zehn Jahren daraus entstanden sind. Wie viel die Siebenschläfer dazu beigetrugen, kann ich nicht sagen. Und natürlich spielte auch meine Mutter eine Rolle, die mich, als ich fünfzehn war, einmal nach einer Nachtschicht zur Druckerei Hepperle fuhr, wo ich einem Mann mit schwarzgefärbten Fingern hundertzwanzig schreibmaschinengetippte Seiten übergab, und ein paar Tage später fuhren wir wieder hin und holten mein erstes eigenes Buch ab. 
 
Es hatte einen grünen Einband, enthielt fünf Kurzgeschichten und trug den Titel Fünf. Falls ihr gerne schreiben würdet, bisher aber dachtet, ihr wärt nicht kreativ genug – nehmt das als Ermunterung. Dass die Jury in ihrer Begründung mein Vertrauen in die alte Magie des Erzählens erwähnt, freut mich, und ich füge hinzu: Diese Art des Erzählens scheint für mich der beste Weg zu sein, mir die Welt zu erschließen oder – um noch weiterzugehen – sie mir begreiflich zu machen. 
Es hat, ich will ehrlich sein, in diesem Jahr Momente gegeben, in denen ich – öfter als sonst – an meinem Weg gezweifelt habe. Ich hatte das Glück, mit Frau im Mond eine große Lesereise machen zu dürfen; sehe aber auch, dass längst nicht alle meiner schreibenden Kolleginnen und Kollegen dasselbe Privileg mit ihren Büchern hatten. 
Wohin ich auch kam, fast überall ging ich mit dem Gefühl, dass in den vergangenen Jahren etwas in die Schieflage geraten ist. Nach Lesungen schildern Buchhändler, wie die Innenstädte verwaisen, berichten davon, dass kaum mehr jemand zum Bummeln kommt und dass sie nicht wissen, wie lange es noch weitergeht, bis ... Nur fünf Prozent aller schreibenden Menschen können vom Schreiben leben. Alles zusammengenommen führt es dazu, dass das Erzählen selbst in Gefahr gerät.  
Ich denke, bei all den Verlusten, die wir gerade erleben – auch des Respekts und Anstands, vor allem in der Sprache – und angesichts der Tatsache, dass – sogar in unserer Stadt – Subventionen, Strukturen und kulturelle Räume bedroht sind, die uns allen dabei helfen sollen, kritisch zu denken, uns zu empathisch handelnden Menschen zu machen, ist das Erzählen von Geschichten, die Grenzen und Perspektiven erweitern, wichtiger denn je. 
 
Ein Geständnis: Ich weiß nicht mehr, ob ich 2017 in Beirut, während ich in diesem Archiv am Fenster stand, als ich über die Gräuel des libanesischen Bürgerkriegs recherchierte, wirklich an Siebenschläfer dachte. Vielleicht schon. Es würde jedenfalls Sinn ergeben. Vielleicht hat mich an dieser Stelle aber auch einfach der Geist desselben Tukans heimgesucht, der 1674 in João Domenico Aurélio do Cerrados Chronik der wunderlichen Geschöpfe des Urwalds erwähnt wird. 
 
Das ist ein Buch, das ich für euch erfunden habe, weil ich unbedingt einen Tukan in meiner Rede unterbringen wollte, man aber nur wenig Verwertbares über Tukane findet. Außer vielleicht, dass sie siebzig Prozent ihrer Körperwärme über den Schnabel regulieren und dass sie ihre Zunge fünfzehn Zentimeter weit herausstrecken können. Jene Chronik der wunderlichen Geschöpfe des Urwalds jedenfalls liegt heute noch im staubigen Archiv eines Klosters in Muaná, das nur per Boot nach drei Tagen Flussfahrt zu erreichen ist. Darin berichtet Bruder João Domenico Aurélio do Cerrado von einem Tukan, der jeden Morgen durchs Fenster geflogen kam, um ihm verschiedene Früchte auf sein Manuskript zu legen. Als wolle der Vogel ihm sagen: Hier fehlt noch ein bisschen Farbe.
 
Ich möchte mich von Herzen bei der Jury bedanken, dass sie das Farbenfrohe an Frau im Mond zu schätzen weiß und mir diesen Preis verleiht. Mein Dank gilt auch dem Tukan-Kreis und der Stadt München sowie, natürlich, allen, die mein Schreiben vor allem in den letzten zehn Jahren so eng begleitet haben. Was diesen Abend angeht, möchte ich dir, Fee, für deine Laudatio danken, und dir herzlich zum Gewinn des Förderpreises des Deutschen Kabarettpreises in diesem Jahr gratulieren. Und euch, Rabih und Matthias, vielen Dank für eure Musik.  
 
Ich verstehe diese Auszeichnung als Ermunterung, den Prozess des Verstehen-Wollens, des Mir-begreiflich-Machens, weiter zu betreiben, wohl auch außerhalb der Grenzen des Libanons und ohne jetzt schon zu wissen, was genau das in Zukunft bedeuten wird. Und weil hier schlussendlich nicht ich, sondern der Roman im Zentrum stehen soll, schließe ich dieser Rede eine kurze Lesestelle an und überlasse die letzten Worte Lilit, der Erzählerin in Frau im Mond. 
 
Vielen Dank!