Rezension zu „War ich da? Von Ankünften und Abschieden“ von Albert von Schirnding
Wie blickt man auf sein Leben zurück? Der Erzähler, Lyriker und Essayist Albert von Schirnding feiert dieses Frühjahr seinen 90. Geburtstag. Als Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung ist er zudem eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen literarischen Lebens. Die Autorin Sophia Klink hat seine autobiographische Erzählung War ich da? Von Ankünften und Abschieden, die 2025 bei C.H. Beck in der Reihe textura erscheint, für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Eine elegant zurückgenommene wie intellektuell sprühende Reflexion über fast ein ganzes Jahrhundert
Die Logik des Seins ist von Anfang an mit den Orten verbunden. Albert von Schirnding wird in der Albertstraße geboren, und auch seine vier Schwestern werden der Tradition folgend nach den Wittelsbacher Fürstinnen benannt, die ihrerseits in den Regensburger Straßen und Denkmälern verewigt wurden. So ist es nahezu zwingend, dass wir auf dieser Lebensreise den Orten folgen: vom Elternhaus in Regensburg ins München der Nachkriegszeit, über die Referendar- und Lehrerjahre in Weiden und Ingolstadt, bis sich der Erinnerungskreis im Schloss Harmating südlich von München schließt.
Prinzregententorten und Paralleluniversen
Wir werden mitgenommen in eine Welt, in der es livrierte Lakaien, Kaiser und Nicht-Kaiser, Zeremonielle, Glasflügeltüren, Waschzuber und Morgengebete gibt. Es ist eine sympathische Ich-Perspektive, die vom ersten Satz an für sich einnimmt. Eine Haltung, die den Prunk „einfach-edel“ und doch mit feinsinnig ausgewählten Worten beschreibt. Gleichzeitig unterwandert sie die verknöcherten Strukturen der adeligen Welt mit subtilem Humor:
Ich sehe mich satt am Urbild aller Prinzregententorten meines Lebens. Der Anblick der vollkommenen Glätte des Schokoladenüberzugs löscht jede Lust nach Einverleibung; man kann einem solchen Kunstwerk nur interesseloses Wohlgefallen entgegenbringen.
In dieser „Sterbenslangweiligkeit“ wächst Albert von Schirnding als ein „Höhlenkind“ auf, das die Quellaugen und Knollennasen des Tischbeins kennt, anders als die erwachsenen Verwandten der Thurn und Taxis bei Tisch. Die großen Herren sind dem Knaben nicht geheuer, er ist verunsichert den Prinzen und Prinzessinnen gegenüber, bis ihm als Jugendlichen immer mehr „das spiegelglatte Parkett unter den Füßen weggezogen“ wird.
Wir erleben die Sturm-und-Drang-Jahre eines Zöglings wie aus einem Roman, dichtend lasterhaft, immer mit einem Buch unter dem Arm, der in fiktiven Welten lebt. Einen Halbwüchsigen, „der Unerbittlichkeit des Noch-Nicht“ ausgeliefert, dem der heißersehnte Opernbesuch vorenthalten wird, und der sich fragt, ob er es in seiner Treue „je zu einer Penelope bringen“ wird.
Distanziert, humorvoll, subtil
Diese frühen Jahre und auch spätere Lebensstationen werden vor allem über räumliche Veränderungen erzählt, den Wechsel der Schlafstätten und Wohnungen. Das Entlangerzählen an Gepflogenheiten greift dabei die konservierten Abläufe der adeligen Welt auf, die inhaltlich wiederum kritisiert werden, woraus sich eine interessante Spannung ergibt. Die Nacherzählung bekommt durch die Distanziertheit des Erzählers selbst etwas historisch Entrücktes, wie Punkte auf einem Zeitstrahl, die in der Rückschau fast determiniert erscheinen.
Ankünfte und Abschiede gibt es viele, ohne dass sie groß benannt und für die Struktur des Textes herausgearbeitet werden. Vielmehr vollziehen sich die Veränderungen subtil, die Ankunft der Oma aus München beispielsweise, die gleichzeitig ein Abschied ist. Durch den Verlust des Erinnerungsvermögens wird diese „Jedefrau“ sich „verstecken auf Nimmerwiederfinden“. Von Schirnding erzählt keine Anekdoten. Es ist mehr ein Revuepassieren lassen. Ein gleichmäßiger Erzählstrom, gesättigt von Welt und schillernden Details, ohne sich länger bei ihnen aufzuhalten. Selten wird eine Begebenheit szenisch dargestellt. Es sind mehr die langfristigen Angewohnheiten, die Summe der Bilder, die einen Lebensabschnitt charakterisieren.
Viele Beziehungen – wie zu den Schwestern, von Schirndings Ehefrau oder auch die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Askan – werden als besonders wichtig markiert, aber nicht weiter vertieft. Der Komplexität dieser Beziehungen Rechnung zu tragen, wird gar nicht erst versucht. Dafür werden Nachbarn porträtiert, Geflüchtete, die im Regensburger Elternhaus Zuflucht gefunden hatten. Die Schauspielerin Eleonore Diem, die in der Regensburger Villa wohnte und bedeutenden Einfluss auf die Sprachliebe des Jungen hatte. Das Schicksal des Freundes Karl Josef Mayer. Diese Binnengeschichten flackern auf und bleiben stark in Erinnerung. Monate und Jahre werden hier auf einen Kern gebracht. Dieses Geraffte verhilft – ganz ohne Pathos oder Wehmut –, zu der schlichten Erkenntnis, wie vergänglich das Dasein ist.
Die Lust am Formulieren
Die Lust am Formulieren merkt man Albert von Schirnding an, der schon „dem russischen Brot das Fundament [seines] vorschulischen Lesevermögens“ verdankt. Auch als Lyriker macht er sich in jungen Jahren einen Namen. Seine ersten Gedichtbände Falterzug sowie Blüte und Verhängnis veröffentlichte er mit Anfang Zwanzig bei Hanser. Die Höhenflüge und kreativen Leidenswege seines literarischen Schaffens bleiben schimmernd unter der Oberfläche, vielmehr spricht eine amüsierte Gelassenheit aus Sätzen wie: „Also glühte ein Funke der literarischen Ehrgeizflamme doch noch in der Asche des Genieverdachts“.
Albert von Schirndings Sprache nimmt viele altmodische Wendungen auf und modifiziert sie durch humorvolles Überspitzen, ohne sie zu negieren. Nicht selten begegnet man beim Lesen einem „nebst“, „freilich“ oder „sogleich“. Die Figuren „wandeln nach Herzenslust“, „machen ihre Aufwartung“ oder „können nicht umhin, etwas zu tun“. Diese Sprache mit vielen Genitiven und verschachtelten Attributkonstruktionen nimmt das Opulente seiner Kindheitswelt auf, während sie sich selbst mit einem feinen Lächeln davon distanziert und geistig in die Höhe schwingt.
In der Sprache offenbart der studierte Altphilologe auch seine „dem Lösen anspruchsvoller Kreuzworträtsel verwandte“ Lust am Übersetzen. Als sprach-affine Leserin folge ich fasziniert den Ausführungen und Exkursen zu den Tücken des Griechischen, zu Ovids Philemon und Baucis, dass „Kosmos“ zugleich Schmuck und Weltall bedeutet. Es finden sich nicht selten Begriffe wie „Kalokagathie“ oder „autoerotische Apotheose“. Sogar Aufzählungen von Namen, die in einer Lebensrückschau nicht fehlen dürfen, lesen sich auf eine klangliche Weise anregend, ohne dass der Anspruch an die Lesenden herangetragen würde, all diese Personen und Anspielungen kennen zu müssen.
In dieses Schuljahr gebannt
Die Liebe zur Sprache schien es auch zu sein, aufgrund derer sich Albert von Schirnding schon früh zum Gymnasiallehrer für Griechisch und Latein berufen fühlte. Eine Lebensaufgabe, die er über viele Kapitel hinweg ausführt:
Als Schüler und Lehrer erlebte ich das humanistische Gymnasium in seiner Spätblüte, um dann die Fatalität seines Untergangs teilen zu müssen. Heute ist es tot. Die trauernden Hinterbliebenen pflanzen auf seinem Grab Orchideen. Da existiert Griechisch punktuell noch als rasch dahinwelkende Wunderblume. Latein ist zum Trainingsgerät im Fitness-Studio für Denksportler verkommen.
Albert von Schirndings Begeisterung für die Sprache steckte vermutlich an, sodass schon beim morgendlichen Betreten der Schule ein Chor aus griechischen Vokabeln über den Flur hallte. Denn griechische Worte „sind Neugier stiftende Geheimnisträger“, die ursprünglich Jugendlichen zugedichtet waren. Der Erzähler widerspricht vehement der grausamen schwarzen Pädagogik der damaligen Zeit, beklagt das Ausgeschlossensein der Mädchen vom Schulunterricht. Er ist ein Lehrer, der auf der Seite der Schüler*innen steht und sich mit ihnen solidarisiert:
Es ging vielmehr darum, das jugendliche Lebensalter beider Geschlechter statt als Stufe zu etwas Höherem, Eigentlichen als etwas Absolutes zu verstehen. […] Sein Sinn, sein Wert lagen in ihm selbst. Was danach kam, war nicht „das“ Leben, für das man angeblich lernte, sondern waren verschiedene Lebensformen, die sich zu ihrer Zeit jeweils konstituieren würden – freilich nicht ohne gewisse Abhängigkeiten von dem, was vorausging.
Und so ist es nur logisch, dass sich der einzige Moment, an dem sich der Erzähler räumlich und zeitlich als da bezeichnet, in einer Schulstunde ereignet:
Jahrtausende waren vergangen und würden vergehen ohne uns; jetzt aber waren wir beide da: hier ich, euer Lehrer, dort ihr, meine Schüler, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, in dieses Schuljahr gebannt.
In diesem Text sind sogar fast hundert Jahre gebannt, die sich in der Erinnerung zu einem großen Urbild – wie eine Prinzregententorte – übereinanderlegen. Über die ganze Erzählung hinweg bleibt von Albert von Schirnding der Eindruck eines alterslos Lernenden und Lehrenden bestehen, der schreibt und reflektiert, mit Freude am Disput und Argumentieren an sich.
Selbstverständliche Menschlichkeit
Woher wissen wir, ob das Ich in diesem Text wirklich da gewesen ist? Die großen Lebensfragen, wie sie im Klappentext aufgeworfen werden, spiegeln sich viel kleinteiliger im Text wieder. Philosophische Betrachtungen schließen sich natürlich an die Handlung an, ohne dass ein moralischer Zeigefinger erhoben würde. Immer ist da ein unausgesprochenes Staunen darüber, welche Wege das Leben nehmen kann. Die Kommentarebene ist sich dabei ihrer Ausschnitthaftigkeit wohl bewusst. Sie versucht gar nicht alles auszudeuten.
Die Frage nach der Privilegierung, die sich mir als junger Münchnerin von Anfang an stellt – wie verhält man sich in Krisenzeiten, wie setzt man sein Geld und seine Möglichkeiten für andere Menschen ein? – verschwindet beim Lesen nach und nach. Sie wird von der bescheidenen Grundhaltung und großen Menschlichkeit vollständig befriedigt, die aus der Erzählung spricht. Menschen in Not leben so selbstverständlich in den Villen und Schlössern der Familie, dass es hierzu keinerlei Erläuterung braucht. Zuletzt wird auch die Kollektivschuld der Familie und Parteimitgliedschaft des Vaters während der Nazizeit ausführlich befragt. Eine Perspektive, mit der es sich Albert von Schirnding nicht einfach machen will.
Gerade die stilvolle Unaufgeregtheit beeindruckt bei dieser Lektüre. Es macht Spaß, in diesen prunkvollen Kosmos einzutauchen, München zur Zeit der Salons und Blütezeit der Theater zu entdecken, wo Heidegger zu Besuch kommt, Therese Giehse zu den Kammerspielen eilt, und Hindenburg vor nicht allzu langer Zeit seinen Tee schlürft. Dieses Buch ist eine Zeitreise im Zeitraffer. Was musste alles geschehen, um ein Dasein zu ermöglichen? Auch wenn es schwerfällt daran zu glauben, dass alles auch ohne einen selbst existieren wird: „Aufklärung kann nur erfolgen im Angesicht unserer Sterblichkeit.“
Albert von Schirnding: „War ich da? Von Ankünften und Abschieden“, C. H. Beck textura 2025, 128 S., ISBN 978-3-406831720.
Rezension zu „War ich da? Von Ankünften und Abschieden“ von Albert von Schirnding >
Wie blickt man auf sein Leben zurück? Der Erzähler, Lyriker und Essayist Albert von Schirnding feiert dieses Frühjahr seinen 90. Geburtstag. Als Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung ist er zudem eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen literarischen Lebens. Die Autorin Sophia Klink hat seine autobiographische Erzählung War ich da? Von Ankünften und Abschieden, die 2025 bei C.H. Beck in der Reihe textura erscheint, für das Literaturportal Bayern gelesen.
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Eine elegant zurückgenommene wie intellektuell sprühende Reflexion über fast ein ganzes Jahrhundert
Die Logik des Seins ist von Anfang an mit den Orten verbunden. Albert von Schirnding wird in der Albertstraße geboren, und auch seine vier Schwestern werden der Tradition folgend nach den Wittelsbacher Fürstinnen benannt, die ihrerseits in den Regensburger Straßen und Denkmälern verewigt wurden. So ist es nahezu zwingend, dass wir auf dieser Lebensreise den Orten folgen: vom Elternhaus in Regensburg ins München der Nachkriegszeit, über die Referendar- und Lehrerjahre in Weiden und Ingolstadt, bis sich der Erinnerungskreis im Schloss Harmating südlich von München schließt.
Prinzregententorten und Paralleluniversen
Wir werden mitgenommen in eine Welt, in der es livrierte Lakaien, Kaiser und Nicht-Kaiser, Zeremonielle, Glasflügeltüren, Waschzuber und Morgengebete gibt. Es ist eine sympathische Ich-Perspektive, die vom ersten Satz an für sich einnimmt. Eine Haltung, die den Prunk „einfach-edel“ und doch mit feinsinnig ausgewählten Worten beschreibt. Gleichzeitig unterwandert sie die verknöcherten Strukturen der adeligen Welt mit subtilem Humor:
Ich sehe mich satt am Urbild aller Prinzregententorten meines Lebens. Der Anblick der vollkommenen Glätte des Schokoladenüberzugs löscht jede Lust nach Einverleibung; man kann einem solchen Kunstwerk nur interesseloses Wohlgefallen entgegenbringen.
In dieser „Sterbenslangweiligkeit“ wächst Albert von Schirnding als ein „Höhlenkind“ auf, das die Quellaugen und Knollennasen des Tischbeins kennt, anders als die erwachsenen Verwandten der Thurn und Taxis bei Tisch. Die großen Herren sind dem Knaben nicht geheuer, er ist verunsichert den Prinzen und Prinzessinnen gegenüber, bis ihm als Jugendlichen immer mehr „das spiegelglatte Parkett unter den Füßen weggezogen“ wird.
Wir erleben die Sturm-und-Drang-Jahre eines Zöglings wie aus einem Roman, dichtend lasterhaft, immer mit einem Buch unter dem Arm, der in fiktiven Welten lebt. Einen Halbwüchsigen, „der Unerbittlichkeit des Noch-Nicht“ ausgeliefert, dem der heißersehnte Opernbesuch vorenthalten wird, und der sich fragt, ob er es in seiner Treue „je zu einer Penelope bringen“ wird.
Distanziert, humorvoll, subtil
Diese frühen Jahre und auch spätere Lebensstationen werden vor allem über räumliche Veränderungen erzählt, den Wechsel der Schlafstätten und Wohnungen. Das Entlangerzählen an Gepflogenheiten greift dabei die konservierten Abläufe der adeligen Welt auf, die inhaltlich wiederum kritisiert werden, woraus sich eine interessante Spannung ergibt. Die Nacherzählung bekommt durch die Distanziertheit des Erzählers selbst etwas historisch Entrücktes, wie Punkte auf einem Zeitstrahl, die in der Rückschau fast determiniert erscheinen.
Ankünfte und Abschiede gibt es viele, ohne dass sie groß benannt und für die Struktur des Textes herausgearbeitet werden. Vielmehr vollziehen sich die Veränderungen subtil, die Ankunft der Oma aus München beispielsweise, die gleichzeitig ein Abschied ist. Durch den Verlust des Erinnerungsvermögens wird diese „Jedefrau“ sich „verstecken auf Nimmerwiederfinden“. Von Schirnding erzählt keine Anekdoten. Es ist mehr ein Revuepassieren lassen. Ein gleichmäßiger Erzählstrom, gesättigt von Welt und schillernden Details, ohne sich länger bei ihnen aufzuhalten. Selten wird eine Begebenheit szenisch dargestellt. Es sind mehr die langfristigen Angewohnheiten, die Summe der Bilder, die einen Lebensabschnitt charakterisieren.
Viele Beziehungen – wie zu den Schwestern, von Schirndings Ehefrau oder auch die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Askan – werden als besonders wichtig markiert, aber nicht weiter vertieft. Der Komplexität dieser Beziehungen Rechnung zu tragen, wird gar nicht erst versucht. Dafür werden Nachbarn porträtiert, Geflüchtete, die im Regensburger Elternhaus Zuflucht gefunden hatten. Die Schauspielerin Eleonore Diem, die in der Regensburger Villa wohnte und bedeutenden Einfluss auf die Sprachliebe des Jungen hatte. Das Schicksal des Freundes Karl Josef Mayer. Diese Binnengeschichten flackern auf und bleiben stark in Erinnerung. Monate und Jahre werden hier auf einen Kern gebracht. Dieses Geraffte verhilft – ganz ohne Pathos oder Wehmut –, zu der schlichten Erkenntnis, wie vergänglich das Dasein ist.
Die Lust am Formulieren
Die Lust am Formulieren merkt man Albert von Schirnding an, der schon „dem russischen Brot das Fundament [seines] vorschulischen Lesevermögens“ verdankt. Auch als Lyriker macht er sich in jungen Jahren einen Namen. Seine ersten Gedichtbände Falterzug sowie Blüte und Verhängnis veröffentlichte er mit Anfang Zwanzig bei Hanser. Die Höhenflüge und kreativen Leidenswege seines literarischen Schaffens bleiben schimmernd unter der Oberfläche, vielmehr spricht eine amüsierte Gelassenheit aus Sätzen wie: „Also glühte ein Funke der literarischen Ehrgeizflamme doch noch in der Asche des Genieverdachts“.
Albert von Schirndings Sprache nimmt viele altmodische Wendungen auf und modifiziert sie durch humorvolles Überspitzen, ohne sie zu negieren. Nicht selten begegnet man beim Lesen einem „nebst“, „freilich“ oder „sogleich“. Die Figuren „wandeln nach Herzenslust“, „machen ihre Aufwartung“ oder „können nicht umhin, etwas zu tun“. Diese Sprache mit vielen Genitiven und verschachtelten Attributkonstruktionen nimmt das Opulente seiner Kindheitswelt auf, während sie sich selbst mit einem feinen Lächeln davon distanziert und geistig in die Höhe schwingt.
In der Sprache offenbart der studierte Altphilologe auch seine „dem Lösen anspruchsvoller Kreuzworträtsel verwandte“ Lust am Übersetzen. Als sprach-affine Leserin folge ich fasziniert den Ausführungen und Exkursen zu den Tücken des Griechischen, zu Ovids Philemon und Baucis, dass „Kosmos“ zugleich Schmuck und Weltall bedeutet. Es finden sich nicht selten Begriffe wie „Kalokagathie“ oder „autoerotische Apotheose“. Sogar Aufzählungen von Namen, die in einer Lebensrückschau nicht fehlen dürfen, lesen sich auf eine klangliche Weise anregend, ohne dass der Anspruch an die Lesenden herangetragen würde, all diese Personen und Anspielungen kennen zu müssen.
In dieses Schuljahr gebannt
Die Liebe zur Sprache schien es auch zu sein, aufgrund derer sich Albert von Schirnding schon früh zum Gymnasiallehrer für Griechisch und Latein berufen fühlte. Eine Lebensaufgabe, die er über viele Kapitel hinweg ausführt:
Als Schüler und Lehrer erlebte ich das humanistische Gymnasium in seiner Spätblüte, um dann die Fatalität seines Untergangs teilen zu müssen. Heute ist es tot. Die trauernden Hinterbliebenen pflanzen auf seinem Grab Orchideen. Da existiert Griechisch punktuell noch als rasch dahinwelkende Wunderblume. Latein ist zum Trainingsgerät im Fitness-Studio für Denksportler verkommen.
Albert von Schirndings Begeisterung für die Sprache steckte vermutlich an, sodass schon beim morgendlichen Betreten der Schule ein Chor aus griechischen Vokabeln über den Flur hallte. Denn griechische Worte „sind Neugier stiftende Geheimnisträger“, die ursprünglich Jugendlichen zugedichtet waren. Der Erzähler widerspricht vehement der grausamen schwarzen Pädagogik der damaligen Zeit, beklagt das Ausgeschlossensein der Mädchen vom Schulunterricht. Er ist ein Lehrer, der auf der Seite der Schüler*innen steht und sich mit ihnen solidarisiert:
Es ging vielmehr darum, das jugendliche Lebensalter beider Geschlechter statt als Stufe zu etwas Höherem, Eigentlichen als etwas Absolutes zu verstehen. […] Sein Sinn, sein Wert lagen in ihm selbst. Was danach kam, war nicht „das“ Leben, für das man angeblich lernte, sondern waren verschiedene Lebensformen, die sich zu ihrer Zeit jeweils konstituieren würden – freilich nicht ohne gewisse Abhängigkeiten von dem, was vorausging.
Und so ist es nur logisch, dass sich der einzige Moment, an dem sich der Erzähler räumlich und zeitlich als da bezeichnet, in einer Schulstunde ereignet:
Jahrtausende waren vergangen und würden vergehen ohne uns; jetzt aber waren wir beide da: hier ich, euer Lehrer, dort ihr, meine Schüler, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, in dieses Schuljahr gebannt.
In diesem Text sind sogar fast hundert Jahre gebannt, die sich in der Erinnerung zu einem großen Urbild – wie eine Prinzregententorte – übereinanderlegen. Über die ganze Erzählung hinweg bleibt von Albert von Schirnding der Eindruck eines alterslos Lernenden und Lehrenden bestehen, der schreibt und reflektiert, mit Freude am Disput und Argumentieren an sich.
Selbstverständliche Menschlichkeit
Woher wissen wir, ob das Ich in diesem Text wirklich da gewesen ist? Die großen Lebensfragen, wie sie im Klappentext aufgeworfen werden, spiegeln sich viel kleinteiliger im Text wieder. Philosophische Betrachtungen schließen sich natürlich an die Handlung an, ohne dass ein moralischer Zeigefinger erhoben würde. Immer ist da ein unausgesprochenes Staunen darüber, welche Wege das Leben nehmen kann. Die Kommentarebene ist sich dabei ihrer Ausschnitthaftigkeit wohl bewusst. Sie versucht gar nicht alles auszudeuten.
Die Frage nach der Privilegierung, die sich mir als junger Münchnerin von Anfang an stellt – wie verhält man sich in Krisenzeiten, wie setzt man sein Geld und seine Möglichkeiten für andere Menschen ein? – verschwindet beim Lesen nach und nach. Sie wird von der bescheidenen Grundhaltung und großen Menschlichkeit vollständig befriedigt, die aus der Erzählung spricht. Menschen in Not leben so selbstverständlich in den Villen und Schlössern der Familie, dass es hierzu keinerlei Erläuterung braucht. Zuletzt wird auch die Kollektivschuld der Familie und Parteimitgliedschaft des Vaters während der Nazizeit ausführlich befragt. Eine Perspektive, mit der es sich Albert von Schirnding nicht einfach machen will.
Gerade die stilvolle Unaufgeregtheit beeindruckt bei dieser Lektüre. Es macht Spaß, in diesen prunkvollen Kosmos einzutauchen, München zur Zeit der Salons und Blütezeit der Theater zu entdecken, wo Heidegger zu Besuch kommt, Therese Giehse zu den Kammerspielen eilt, und Hindenburg vor nicht allzu langer Zeit seinen Tee schlürft. Dieses Buch ist eine Zeitreise im Zeitraffer. Was musste alles geschehen, um ein Dasein zu ermöglichen? Auch wenn es schwerfällt daran zu glauben, dass alles auch ohne einen selbst existieren wird: „Aufklärung kann nur erfolgen im Angesicht unserer Sterblichkeit.“
Albert von Schirnding: „War ich da? Von Ankünften und Abschieden“, C. H. Beck textura 2025, 128 S., ISBN 978-3-406831720.