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02.11.2022, 09:08 Uhr
Kunstministerium
Text & Debatte
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© Andreas Andrej Peters

Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Andreas Andrej Peters

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Andreas Andrej Peters mit Kunstminister Markus Blume. © Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt, der Laudatio und einem Textauszug vor.

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Andreas Andrej Peters, 1958 in Tscheljabinsk-Ural (UdSSR) geboren, Lyriker, Erzähler, Kinderbuchautor und Liedermacher. 1977 Ausreise nach Deutschland. Studium der Evangelischen Theologie, Philosophie und Krankenpflege in der Schweiz, Gießen und Frankfurt am Main. Bis 2001 an der Universitätsklinik Gießen auf einer Leukämie-Intensivstation als Pfleger und Seelsorger tätig und arbeitet zurzeit als Gesundheitspfleger an einer Klinik in Salzburg. Daneben Pastorentätigkeit in verschiedenen evangelischen Gemeinden. Andreas Andrej Peters wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds (202/2021), den Irseer Pegasus (2022) und stand im Finale beim Dresdner Lyrikpreis (2022). Zuletzt erschienen sind seine Gedichtbände Mitteilungen einer Saatkrähe (Brot & Kunst Verlag, 2017) und RUM & ÄHRE (chiliverlag, 2018).

Laudatio von Christine Knödler

Das Leningrader Poem von Andreas Andrej Peters ist ein gewagtes Unterfangen: Nichts und niemanden zu vergessen ist einer der An-Sprüche – Sprich-Wörter, Sprach-Bilder, Gedanken-Sprünge ergeben ein spannungsgeladenes Bezugssystem. Denken & Gedenken, Vorsätze & Versatzstücke & das stilbildende & eröffnen Freiräume für das Unaussprechliche und das Unausgesprochene. Sie sind zugleich Abbild des assoziativen Einkreisens von Erinnerung, dieses kunstvoll-artifiziellen Auf-Lesens historischer Leiderfahrung. Denn für engellose Zeiten braucht es die Engelszungen der Lyrik, auch und gerade derer, die dabei waren und gegen das Entsetzen anschrieben – etwa einer Alma Achmatowa oder Olga Bergholz. Mit ihnen tritt der Dichter in Dialog, um den Toten der Leningrader Blockade (s)eine Stimme zu geben. Im Rück-Blick in und mit Gedichten entstehen neue Gedichte und Ein-Sichten. Die sind Hin-Gabe an die und der Poesie: ein Mahnmal, das bleibt.

Auszug aus Namenlose Stimme aus Liebe und Hunger (Lyrikvorhaben)

NAMENLOSE STIMME

Und mehr noch, mehr!
– Die Netzhaut: sie ist hungrig …

Ossip Mandelstam

Ich steh morgens auf. keinem, zu keiner zeit
bin ich eine rechenschaft schuldig, über keinen,
zu keiner zeit fälle ich ein urteil. keiner zieht
mich am ärmel. ich gehe wohin ich will. nach
nowgorod, da habe ich ein altes häuschen gekauft,
so reich bin ich geworden in meinem kreml.
nach moskau, entlang der kremlwand, am
mausoleum vorbei, am roten platz auf einer bank
lese ich das jahrhundert der wölfe von nadeschda.
als zugabe ein gedicht von mandelstam. dann
schnell zum eishockeyspiel: zska gegen dinamo:
soldaten gegen den kgb. charlamow gegen
malzew. gehe nach leningrad. wohin ich heute
unterwegs bin? nach der kirche auf dem marsfeld
statte ich der bluterlöserkirche einen besuch ab.
stolziere am gribojedowkanal entlang, halte an
am krankenhaus, da starb ein junge. bleibe stehn
an der kasaner kathedrale, da starb meine schwester,
sie hinterließ ein kind. zu fuß marschiere ich den
newski entlang. ich schaue allen in die augen –
vielleicht begegne ich jemand? ich sehe nur
riesige netztaschen voller apfelsinen. ich gehe
weiter … ich kann jedem in die augen schauen.
am friedhof am rande der stadt schließe ich die
augen. sehe 125 gramm brot auf dem tisch,
warmes wasser auf der burschujka & als zu-
waage: apfelsinen; augennetze voller apfelsinen.