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25.11.2022, 12:50 Uhr
Kunstministerium
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© Robert Haas

Förderstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Birgit Müller-Wieland

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© Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt und einem Textauszug vor.

Birgit Müller-Wieland, 1962 in Schwanenstadt/Oberösterreich geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und promovierte über Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. Sie schreibt Lyrik, Prosa, Libretti und Essays. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit einem Jahresstipendium des Landes Salzburg, dem Harder Literaturpreis und dem Adalbert-Stifter-Stipendium des Landes Oberösterreich. Zweimal wurde ihr das österreichische Staatsstipendium zuerkannt. 2015/16 erhielt sie vom Österreichischen Bundeskanzleramt das Projektstipendium für Literatur. Ihr Roman Flugschnee (Otto Müller Verlag, 2017) wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2021 erschien der Roman Vom Lügen und vom Träumen, ebenfalls im Otto Müller Verlag.

Auszug aus Der leichteste Weg (Romanvorhaben)

Den oberen Stock habe ich mir noch nie angesehen.

Seit dem Umbau. Und auch in den Jahren davor nicht.

Mir genügt die Schilderung meiner Mutter.

Ich helfe ihr auch nicht, wenn ich zufällig im Frühling zu Besuch bin und sie oben am Balkon rote Geranien und lila Petunien pflanzt, weil das alle in unserer Gegend machen, die Fremdenzimmer vermieten. Es heißt nicht mehr so, korrigiere ich meine Mutter, und sie reißt erschrocken die Augen auf. 

„Richtig,“ nickt sie, „du musst mir immer sagen, wenn ich was Falsches rede.“

Sie streicht sich eine Silbersträhne aus dem Gesicht, befestigt sie hinter dem linken Ohr, und ich sehe das kleine faltige Ohrläppchen. Aus irgendeinem Grund will eine Fingerspitze es berühren, aber auf halbem Weg bleibt meine Hand in der Luft stehen. Meine Mutter sieht mich an.

In ihren dunklen Augen ist ein Schreck.

Mit klopfendem Herzen drehe ich mich in die andere Richtung. 

Hole die Säcke mit Bio-Erde aus der Garage, trage sie bis zum Treppenaufgang, stelle die vielen Töpfe mit den noch kleinen leuchtenden Blüten auf den Boden, kehre später die Erdbrocken weg, sauge und wische. 

Bin ich fertig, setze ich mich in den Garten und lese. 

Meistens bereite ich mich auch auf die nächste Reise vor und tausche Mails mit Vita. Am liebsten wäre ich dann bei ihr, in Lemberg oder Iwano-Frankiwsk oder Mucachevo. 

Wir würden uns an den Händen fassen und durch die Gassen flanieren, und Vita würde sagen: 

„Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod“, weil sie das gerade bei Hofmannsthal gefunden hat, oder sie würde mir Verse vorlesen, zum Beispiel von Selma Meerbaum-Eisinger. 

„Komm, schließe die Augen, / ich will dich dann wiegen, / wir träumen dann beide vom Glück. / Wir träumen dann beide die goldensten Lügen, / wir träumen uns weit, weit zurück.“

Vita ist Huzulin, „ein zähes Weib“, wie sie sich selbst bezeichnet, was mich erheitert. Denn alles Äußere an ihr ist klein und zart, als könnte sie ein Windstoß jederzeit in die Luft heben. Sie trägt Schuhe aus der Kinderabteilung und wünschte sich, als wir uns als junge Frauen kennenlernten, viele Falten, damit sie endlich als Erwachsene erkannt wird. 

Wenn wir uns jetzt treffen, in der Ukraine oder in Berlin oder bei einem der Kongresse in Wien oder München, kippen wir Schnaps, den sie aus den Karpaten mitgebracht hat und streiten über die Bücher, welche wir soeben lesen, mit blitzenden Zähnen und Augen, die mittlerweile gut eingebettet sind in faltiger Haut. 

„Leucht- und Kampfspuren“, wie Vita sie nennt.