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11.11.2022, 10:54 Uhr
Kunstministerium
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© Sascha Kokot

Förderstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Ursula Kirchenmayer

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Gruppenfoto der Stipendiat*innen und Stipendiaten mit Kunstminister Markus Blume (8. v. r.) © Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt und einem Textauszug vor.

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Ursula Kirchenmayer, 1984 in Lugoj (Rumänien) geboren, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München. Sie studierte Germanistik und Hispanistik in Potsdam und Lima sowie ab 2010 Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ursula Kirchenmayer wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit einem zweiten Preis beim 17. MDR-Literaturwettbewerb (2012), dem Nachwuchspreis der Jungen Verlagsmenschen (2012) oder einem ersten Preis beim Literaturwettbewerb Prenzlauer Berg (2014). Ihre Texte erschienen in Zeitschriften und Anthologien sowie im Rundfunk, u.a. BELLA triste, poet, STILL und swr2. Im Frühjahr 2023 erscheint ihr erster Roman Der Boden unter unseren Füßen.

Auszug aus Der Boden unter unseren Füßen (Romanvorhaben)

Luca ist verschwunden. Monatelang haben sie genau das befürchtet, es heraufbeschworen in Gesprächen, in Anrufen, Briefen und Träumen. Sie haben die Polizei alarmiert und die Ämter eingeschaltet, sogar die Nachbarn haben sie um Hilfe gebeten, und doch: Jetzt ist es passiert. Sie sind gestolpert, jäh nach unten gestürzt, in eine ungekannte Dunkelheit.

Eben noch sind sie sich am Südkreuz in die Arme gefallen. Luca hat sich kräftig nach Nils ausgestreckt, kaum dass er ihn auf dem Bahnsteig zwischen den Menschenmassen entdeckt hatte. Nils nahm ihn aus der Trage und drückte ihn an sich, „mein Großer“, sagte er leise, dann gab er Laura einen Kuss. Die Abendsonne setzte die Stadt in Brand, die Stimmung in der S-Bahn war gelöst. Das Tempelhofer Feld zog vorbei, bunte Lenkdrachen, Picknickdecken, Grillrauch. Laura lehnte den Kopf an Nils' Schulter. Er hatte Luca auf dem Schoß. So sind sie nach Hause gefahren. Endlich, so schien es, waren sie in Sicherheit.

Das gebrochene Glas der Flasche steht in spitzen Zacken ab. Sie haben sie ihm nicht abgenommen. Man sieht es ja, von Nils geht keine Gefahr mehr aus. Die Hose ist durchnässt mit tiefroten Flecken und an den Fingerknöcheln pellt sich blutig die aufgeschürfte Haut. So sitzt er auf der Bank vor der Tierarztpraxis unter ihrer Wohnung, und die Beamten stehen um ihn herum, riesig, wie aufgeplustert in den Uniformen, mit Schlagstöcken und Schusswaffen im Gürtel. Es ist, als hätte sich irgendetwas verschoben.

Luca ist weg.

Ist er wirklich weg? Laura schlottert am ganzen Körper, ein bisschen wie nach der Geburt, sie hat Luca kaum berühren können damals, so sehr hat sie gezittert. Sie schlottert, aber sie ist still. Vorhin hat sie noch geschrien, verwundet und so laut wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie hat geschrien und innerlich hat sie Nils angefeuert, tritt fester, mach schneller, zeig's ihr, hol ihn da raus. Sie hat keine Sekunde daran gezweifelt, dass er das Richtige tat.

Die Polizisten arbeiten sich an Nils ab. Warum hat er geglaubt, Luca könne nur hier sein, in dieser Wohnung im Erdgeschoss, bei, wie heißt sie noch einmal gleich? Stimmt es, dass sie gar nicht mehr dort lebt, dass sie nur durchs Fenster eingebrochen ist? Warum tun sie nichts, immer noch nicht?

Das angelehnte Fenster, die zerstörte Tür, der Müll überall, den niemand jemals wegräumt. Warum hat er Luca ausgerechnet hier gesucht? Nils bleibt still. Er sitzt einfach so da, in sich zusammengekrümmt. Sein Blick ist leer.