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05.10.2022, 14:29 Uhr
Friedrich Ulf Röhrer-Ertl
Text & Debatte
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Mori Ōgai (Oktober 1916)

Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (7)

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Die Bezeichnung "umami" geht zurück auf den japanischen Chemiker Kikunae Ikeda (1864-1936), der neben den vier Empfindungsvermögen noch eine fünfte Grundqualität des Geschmacks vermutete.

Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“. 

In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl. 

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Ohne Shoyu kein Umami

 

Nach einer mageren Woche gibt uns Herr Möwenfern diesmal zumindest fast einiges zu lesen. Am Montag berichtet er kurz, er habe beim Essen in der Pension von Frau Vogel einen Musiker, den „Polen Coupernik“ und dessen Begleiterin, die aus Paris kommende Sängerin „Mirrha“ getroffen und gesprochen, die auf Vergnügungsreise in München waren: „Ihr Benehmen ist höchst skandalös.“ Und wieder fragt man sich: inwiefern? Kulturwissenschaftler, Japanologen, Lesende, wir alle hätten Vergnügen daran gehabt, wenn Herr Möwenfern nur etwas elaborierter gewesen wäre.

Immerhin, ein wenig mag man spekulieren. Es scheint Ôgai nicht so vorgekommen zu sein, als wären „Coupernik“ und „Mirrha“ miteinander verheiratet gewesen, also war vielleicht schon das gemeinsame Auftreten auf einer Vergnügungsreise für ihn skandalös. Vielleicht haben sie aber auch ihre Gefühle füreinander zu deutlich gezeigt? Es bleibt offen. Immerhin scheint es interessant, eine auch intensivere Suche (und ich war sicher nicht der erste) schaffte es nicht, die beiden zu identifizieren. Mirrha, also Myrrhe, könnte ein Künstlername oder Tarnname gewesen sein. Nur wenige Jahre vor Ôgais Aufenthalt in München war in Prag 1883 die Oper Mirra bzw. Myrrha des tschechischen Komponisten Ladislav Zavrtal (1849-1942) aufgeführt worden, auch kannte man damals auf deutschen, vor allem aber auf französischen Theaterbühnen noch das Drama Mirrha von Vittorio Alfieri (1749-1803). Irgendwo dort, in Prag, in Paris, in Polen (Polen und Böhmen dürften Herrn Möwenfern durchaus gleichmäßig unbekannt vorgekommen sein) wird die Wahrheit verborgen bleiben. Herr Coupernik und Frau Mirrha jedenfalls verlassen das Tagebuch und damit die Literaturgeschichte so unbeschrieben, wie er sie einbeschrieben hat. Skandalös vielleicht, aber what happens at Mrs Bird's stays at Mrs Bird's...

Den Rest der Woche ist Herr Möwenfern zu fleißig, zu faul oder zu betrunken, um Tagebuch zu schreiben, denn seine Experimente, wie ich ein andermal erzählen werde, beinhalten eine Menge Bier, aber am Sonntag, schon in Woche sieben, beschreibt er auch Ereignisse vom Samstag. Da trifft er zunächst verschiedene Militärärzte, darunter den herrlich italienisch-bayerisch benamten Freiherrn und Obersten Joseph von Belli de Pino, und es wird über den Kollegen, den Stabsarzt Wilhelm August Roth (1833-1892) in Dresden, mit dem Ôgai während seines Aufenthalts in Sachsen viel zu tun gehabt hatte und in Freundschaft geschieden war, gelästert. Dieser werde „Generaloberstabsarzt des Deutschen Reiches“ werden, denn er könne gut mit dem Kronprinzen Friedrich III. und habe „geniale Unverschämtheit“ – ein Ausdruck, den Ôgai wie recht viele in seinem Tagebuch deutsch vermerkt. Schade, er ist in Japan nicht zum Lehnwort geworden.

Ôgai, der ansonsten seine Freunde gerne verteidigt, schweigt hier, zumindest im Tagebuch ist nicht vermerkt, wie er darauf reagiert hat. Vielleicht kam ihm Roth, obwohl beide beim Abschied recht geweint hatten, tatsächlich genial unverschämt vor?

Dafür berichtet er unvermittelt von seinem Mittagessen. In der Schwanthalerstraße, wo man heute eher Dönerbuden, einen McDonalds und anderes findet, kehrte unser Herr Möwenfern nämlich mutig in einer „Vegetarianerküche“ ein. Er klärt uns auf: „Dieses Lokal ist eigens für Anhänger dieser Lehre eingerichtet worden“, einer Lehre, die er unbegründet und falsch findet. Damit ist er in seiner Zeit nicht alleine. Vegetarier galten tendenziell als Sektierer und Spinner, waren es in manchen Fällen wohl auch. Bis zur normalen Lebensweise unserer Tage war es noch ein weiter Weg. Und was gab es nun für Herrn Möwenfern? „Menü: Kräutersuppe, Erbsenpüree, Hirse, Kaiserschmar: Zwätschen oder Apfelcompot. Fruchtsaft, Apfelwein.“

Eigentlich klingt das alles gediegen – aber freilich: Geschmäcker sind verschieden. Meine Tochter zum Beispiel mag keine Erbsen; Soldaten, wie Armeekochbücher aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen, wollen Fleisch sehen; oder vielleicht war es auch so, wie es in einem Eberhofer-Film mal hieß: „Der Kaiserschmarrn schmeckt scheiße“?

Zum Glück klärt uns Ôgai mit einem lakonischen Nachsatz selbst auf, was ihn gestört hat: „Gemüsegerichte ohne Soyasoße haben logischerweise überhaupt keinen Geschmack.“ Man kann den Stoßseufzer förmlich mitlesen. Es fehlt das Umami, wie man modern sagen würde. In einem Schelmenroman würde Herr Möwenfern stracks in die Küche gehen, eine wahrscheinlich lächerlich große Flasche Shoyu hervorholen und die Speisen selbst verfeinern. Aber in der Realität blieb ihm nur, brav aufzuessen und seufzend nach Hause zu gehen, so könnte man es sich vorstellen.