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13.07.2022, 20:40 Uhr
Friedrich Bruckner
Text & Debatte
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Hans Carossa, Fotoarchiv Habermann (Bayerische Staatsbibliothek)

Hans Scholl und Willi Graf als Carossa-Leser

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Links: Hans Scholl, Fotoarchiv Hoffmann (Bayerische Staatsbibliothek); rechts: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, 1936.

Die 147. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Weitergeben. Darin geht der ehemalige Schulleiter des Hans-Carossa-Gymnasiums Landshut Dr. Friedrich Bruckner der Rezeption des Schriftstellers und Arztes Hans Carossa für zwei prägende Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ nach.  

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Es lässt einen staunen, mit welchem Interesse, welcher Hingabe und Leidenschaft die jungen Menschen, die sich im Freundeskreis „Weiße Rose“ zusammenfinden sollten, Lektüre pflegten. Bucher galten ihnen als etwas Wertvolles und Unersetzliches, gehörten zu ihrer Identität. Dabei lasen sie nicht nur allein für sich, sondern lasen gemeinsam, diskutierten ihre Lektüre. Ein intensiver Briefwechsel gehörte untrennbar dazu. Als sie nun staatliche Bücherverbote, zunehmende Gleichschaltung und Unterdrückung des freien Wortes erlebten, eröffneten ihnen Bücher, die sie selbst wählen wollten, einen Weg zu geistiger Freiheit und Eigenständigkeit. Hans Carossa (1878-1956), Arzt und Dichter, gehörte zu den Autoren, die von Willi Graf und den Geschwistern Scholl sehr geschätzt wurden. Briefe und Tagebücher sind heute unsere Hauptquellen für ihre Lektüre. Wir können uns auch ein gutes Bild von ihren „Bibliotheken“ machen. Obendrein: Drei Werke Carossas, Führung und Geleit, Der Arzt Gion, Geheimnisse des reifen Lebens, werden als Handexemplare Hans Scholls im IfZ (München) aufbewahrt.

Hans Scholl liest Führung und Geleit

Sein 1933 erschienenes Lebensgedenkbuch – Führung und Geleit, „eine Geschichte der eigenen Entwicklung“, verstand Carossa „eigentlich [...] als eine Danksagung an Mitlebende“, darunter damals politisch unerwünschte wie Thomas Mann, Stefan Zweig, Pater Rupert Mayer. Geschrieben habe er es „vor allem [für] solche Menschen, die [...] nach innerer Freiheit und Selbstbesinnung trachten“.

Hans Scholls Privatexemplar stammt aus der Auflage von 1938, dem „Jahr der Wende“ in seinem Leben, zugleich das Jahr einer existenziellen Krise. Angeklagt wegen bündischer Umtriebe und unsittlicher Handlungen, wurde er zwar – dank „Österreichamnestie“ – freigesprochen, hatte aber seine innere Sicherheit völlig verloren. Er liest jetzt sehr viel, schreibt sehr gefühlvolle, empfindsame Lyrik, darunter einen Marienhymnus, Gedichte über Natur und Transzendenz, um geistig und seelisch klarzukommen. „Mit dem Willen zum Guten“ will er neu anfangen. In einem bevorstehenden Krieg sucht er kein Heldentum, sondern „Läuterung“. In dieser Situation könnte ihm eine Sentenz, die er in seinem Exemplar unterstrichen hat, Ermutigung gewesen sein: „Beseelte Jugend lässt sich nicht so leicht aufzehren.“

Besonders deutlich hat er Folgendes angemerkt:

„Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!“

„Andern ein Licht auf ihre Bahn zu werfen, indem ich die meinige aufzeigte, dies war also mein Vorsatz; aber es konnte nur durch die traumverwandten Mittel der Kunst geschehen.“

Beide „Leitsätze“ stehen für Weltbild und Selbstverständnis Carossas. Das Licht ist „stärker, gültiger, endgültiger als Chaos und Grauen“, es ist das „unvergängliche Gute, auch wenn es in einer Welt des Bösen nicht mehr sichtbar leuchtet“. Diese Erkenntnis weiterzugeben – und so „anderen ein Licht auf ihre Bahn zu werfen“, darin sieht Carossa seinen Auftrag als Dichter. Gerade in bewegten und gefahrvollen Zeiten sind aber Auftrag und Bestimmung des Dichters vergleichbar mit dem Dienst des Arztes, der auch in höchster Gefahr unbeirrt seinen Dienst tut: Menschen heilen und Leben retten.

Eine Begegnung mit Rilke vor und die persönliche „Bilanz“ nach dem Ersten Weltkrieg sind der Rahmen für Carossas Leitsätze. Hans Scholl sucht – gerade vor dem Hintergrund der eigenen „existentiellen Krise“ – nach einer Persönlichkeit, die sich ihrer Bestimmung bewusst geworden ist. Und die findet er in Hans Carossa als Arzt und Dichter. Für Hans Scholl, der Arzt werden will, weil „der Dienst an den Kranken [...] die große Menschlichkeit“ sei, kann Carossas Lebensgedenkbuch Führung und Geleit zu „innerer Freiheit und Selbstbesinnung“ sein. Der „Weg zum Licht“ ist bei ihm freilich eine sehnsuchtsvolle geistige Suche mit Brüchen, Umwegen und Krisen geworden.

Willi Graf als Carossa-Leser

Willi Graf, der aus der christlichen Jugendbewegung kam, ebenfalls wegen bündischer Umtriebe angeklagt – und amnestiert – worden war, kam erst 1942 über die 2. Münchener Studentenkompanie und dann den gemeinsamen Russlandeinsatz in den Kreis um Hans Scholl. Das Spektrum seiner Lektüre gleicht dem der neuen Freunde.

Er ist ein eifriger, treuer und überlegt urteilender Carossa-Leser, der vom Rumänischen Tagebuch an alles, was bis 1941 erschienen war, einschließlich der Gedichte, gründlich gelesen hat. Carossas Werke gehören für ihn zu den Büchern, über die man „nachher“ diskutieren kann. Dass man ihn in seinen Gedichten besser verstehen lernt, schreibt er aus Russland an seine Schwester Anneliese, die in einzelnen Prosawerken eine „durchweg positive Grundhaltung“ vermisst – und deshalb enttäuscht ist.

Mit feinem Gespür für Autor und Werk entwickelt Willi Graf dann seine Lektüreerfahrungen und macht der Schwester klar, was er Carossa verdankt: „Ich finde, Carossa sagt uns viel, vor allem können wir bei ihm die Ehrfurcht vor ernsten Dingen lernen, die uns oft fehlt.“ Man könnte hinzufügen: Und uns so auf uns selbst besinnen.

Willi Graf und Hans Scholl beim Lesen von Jahr der schönen Täuschungen

Beide Medizinstudenten haben als Sanitäter an der Front bereits Gräuel und Sinnlosigkeit des Krieges erlebt. Das Jahr der schönen Täuschungen haben sie unabhängig voneinander gelesen. Diese Autobiografie Carossas über sein erstes Münchner Studienjahr (1897/8), das von der Selbsterfahrung des Medizinstudenten, den unklaren Vorstellungen von Beruf und Berufung handelt, zugleich aber die Zeit um die Jahrhundertwende sehr farbig schildert, wird eher reserviert aufgenommen.

Willi Graf hatte Anfang Mai 1942 in einer Lesung Carossas in München schon das Kapitel Prüfungen gehört. Als er wenig später gerade noch ein Buchexemplar auftreiben konnte, schreibt er an seine Schwester: „Es ist schon eine Ruhe und eine unvorstellbare vergangene Welt, die aus den Zeilen hervortreten. Eben Vergangenheit.“ Vergangenheit – als Gegenwelt zur eigenen aufgewühlten und inhumanen Gegenwart. Dass Carossa mit diesem „heiteren Buch“ über eine „arglose Zeit“ in Gegenbildtechnik Kritik geübt haben könnte, ist für Willi Graf ohne Bedeutung. Hans Scholl wird noch deutlicher. Er sieht zwar einige Parallelen zur Studienzeit von damals, aber ein „Das geht mich an“ kann auch er nicht empfinden. Dabei wollte Carossa gerade dies die „jugendliche[n] Menschen dieser Tage“ fühlen lassen. Seine Generation, so schreibt Hans Scholl im September 1941 an seine Mutter; habe sich aber früh entscheiden müssen. „Der bessere Teil in uns“, das Gewissen, habe „sich für das Echte, Wahre entschlossen“. Das bedeutet: Widersagen – der Unterdrückung geistiger Freiheit, der Menschenverachtung. Werfen wir noch einen Blick ins Handexemplar des Jahr(es) der schönen Täuschungen, das Robert Scholl, der Vater, bei sich aufbewahrte. Sein Sohn hatte auf der ersten Seite eingetragen: „Virtutum omnium fundamentum pietas – 1941“: Grundlage aller Tugenden ist Frömmigkeit, Ehrfurcht vor Gott, der christliche Glaube. Aus „vielen Täuschungen und Irrwegen“ hat Hans Scholl den Lebenssinn in der christlichen Botschaft gefunden. Christus sei das Ziel der „Sehnsucht nach dem Licht“ – „die einzige helle Stelle, die uns geblieben ist – und bleiben wird“, bekennt er in einem Brief. Zweifel und Ungewissheit begleiteten seinen Weg aber weiterhin. Selbst wenn für Hans Scholl und auch Willi Graf Werke von Augustinus, Dostojewski sowie Autoren des Renouveau catholique wie Claudel und anderen seit der Begegnung mit Carl Muth und den Münchener Gesprächen größere Bedeutung für die Suche nach einem geschlossenen Weltbild gewonnen haben, bleibt doch Carossa eine Art ethischer Basislektüre. Das letzte Carossa-Buch, das zu ihren Lebzeiten erschienen ist, kann ihre Erwartungen nicht mehr erfüllen – angesichts einer Gegenwart, in der „die Macht des Bösen“ Freiheit und Menschenwürde zerstört. Trotz dieser Zurückhaltung bleibt die Wertschätzung Carossas bei beiden Lesern erhalten. Für Willi Graf gehört er weiterhin zu den Autoren, denen man „folgen“ kann. Das rät er auch seiner Schwester. Hans Scholl spricht noch im Januar 1943 von seiner Begeisterung für Carossa.

Und danach ...

Zu seiner treuen und dankbaren Lesergemeinde gehörte auch Inge Scholl. Dass es noch Menschen und Dichter wie Carossa gebe, war ihr „Beruhigung und Genugtuung“. Dieses Vertrauen blieb ihr über den Zusammenbruch hinaus. Gewisse Zweifel an der „lauteren Persönlichkeit“ waren aber Robert Scholl gekommen – wegen Carossas Präsidentschaft bei der „Europäischen Schriftstellervereinigung“. Ein persönliches Gespräch 1949 in Ulm und schließlich der „Lebens- und Rechenschaftsbericht“ Carossas Ungleiche Welten (1951) lösten alle Zweifel auf. Robert Scholl empfahl das Buch dem bayerischen Kultusminister als „Unterrichtsmittel“.

 

Der vorstehende Beitrag greift zum Teil auf einen Vortrag zurück, der am 22. Februar 2017 gehalten wurde, und hier zugänglich ist. Textbelege vom Verfasser über den Verlag erhältlich.

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