Info
22.06.2022, 12:36 Uhr
Uwe Kullnick
Text & Debatte

„Onkel Dai – Mensch und Kormoran“. Erzählung von Uwe Kullnick

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2022/klein/Guilin_Fuss_Lie_Karst_500.jpg
Li-Fluss bei Guilin im Nordosten des Autonomen Gebiets Guangxi/China © Uwe Kullnick

Uwe Kullnick ist freier Schriftsteller, Journalist und Chefredakteur des Literatur Radio Hörbahn in München. Der promovierte Biologe forschte und lehrte an den Universitäten Braunschweig, Duisburg-Essen, Havard (School of Public Health), Boston, und Neapel Federico II. Er war Vice President bei Siemens Communication, verantwortlich für Risiko-Kommunikation und -Management Gesundheit, Pandemie, Katastrophen-, Umwelt- und Arbeitsschutz, außerdem Troubleshooter für 150 Länder, wovon er mehr als 60 bereiste. Als Präsident steht er dem European Chinese Culture Exchange e.V. (ECCE) vor. Uwe Kullnick schreibt Romane, Satiren, Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher, Flash Fiction, medizinische Sachbücher sowie Hörspiele. 2015 erhielt er den Haidhauser Werkstattpreis. Darüber hinaus ist er als Sprecher für Hörbücher (Lyrik, Prosa) und Informations-Apps wie zu TELITO tätig.

Sein neuestes erzählerisches Buchprojekt unter dem Arbeitstitel Bienenschlaf zeigt das Verhältnis des Tieres Homo sapiens zum Rest der tierisch belebten Wesen dieses Planeten. Die Kompositionen über Mensch und Tier haben mehr mit Tierlichkeit zu tun, als diesen oft lieb ist. Die Ruhe, Gelassenheit, Dramatik, Duldung und Faszination, die aus den Tierbegegnungen im doppelten Sinn des Autors aufscheint, macht betroffen, neugierig und nachdenklich. Oft wechselt die Perspektive, und die Standpunkte des Lesers verschwimmen mit den betrachteten Tieren. Ein Fazit: Das erfolgreichste Tier der Welt beherrscht alles, nur sich selbst kaum. Im Folgenden bringen wir einen Auszug aus Bienenschlaf.

*

Onkel Dai – Mensch und Kormoran

 

Manchmal geschieht Ungewöhnliches, wenn man gar nicht damit rechnet. Vor einigen Jahren hatte ich eine Einladung der WHO zu einer Tagung in China. Ich kannte Shanghai, Beijing Hongkong, Lanzhou und etliche andere Millionenstädte, aber diesmal ging es nach Guilin im Südosten Chinas. Ich hatte von Fischern gehört, die Kormorane zum Fischen abgerichtet haben und damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Man hatte mir gesagt, wo am Fluss ich auf diese Fischer stoßen würde, und ein chinesischer Bekannter hatte mir gesagt, wir könnten uns sehr früh morgens dort treffen. Das Taxi kam und ich war pünktlich am Treffpunkt.

Ich befand mich am Rande eines kleinen Dorfes. Die Menschen schienen noch nicht erwacht zu sein. Vor mir floss der Li-Fluss sehr langsam und ruhig und dunkel. In der Nacht hatte es geregnet, es war noch recht dunkel und sehr kühl. Ich fröstelte und legte meine Arme um meinen Oberkörper. Im März sind die Nächte noch kalt und am frühen Morgen liegen Nebel oder Dunst über dem Fluss und den Uferbereichen. Irgendwann wurde mir richtig kalt und ich begann auf und ab zugehen. Ein alter Mann mit dem typischen Hut der Fischer ging an mir vorbei und freute sich, dass ich ihn höflich grüßte. Er sah, dass ich fror und offenbar auf etwas wartete. Er bot mir etwas von seinem warmen grünen Tee an, den er in einem Behälter dabeihatte. Der Mann sprach auf mich ein, aber ich konnte nur fragend blicken und auf meine Uhr zeigen und späte herum, so dass er wohl verstand, dass ich schon länger auf jemanden wartete. Wir standen eine Weile stumm beieinander. Es war, als könne er mich nicht einfach so stehen lassen und weitergehen, als wolle er mir Gesellschaft beim Warten leisten, bis meine Verabredung kam.

Dann hatte er einen Entschluss gefasst. Er sah mich noch einmal prüfend an, ging ein paar Schritte zu einem Haus, öffnete die Tür, sagte etwas hinein und kam zu mir zurück. Noch einmal blickte er sich um, dann machte er mir Zeichen, ihm zu folgen. Wir erreichten den Fluss und einen einfachen Bretterverschlag, einen Stall.
Hier stellte sich heraus, dass er ein Kormoranfischer auf dem Weg zum Fischen war. Es war schon ein Erlebnis zu sehen, wie er die Kormorane aus ihrem Stall holte und sie einzeln, jedem eine kleine Ansprache haltend und fast zärtlich über den Kopf streichelnd, auf die ihnen offenbar angestammten, über den Rand des Bootes hinausragenden Äste setzte. Er erklärte mir alles sehr genau und wusste zu jedem Vogel etwas zu erzählen. Leider verstand ich kein Wort, aber es schien mir, als hätte jeder Vogel einen Namen und der Fischer schilderte mir seine besonderen Eigenschaften. Es war wunderschön, die Tiere anzusehen, ihre wachsamen intelligenten Augen zu beobachten und ihre langen scharfen Schnäbel zu sehen. Mir fiel auf, dass sie noch keinen Ring bzw. keine Schnur um den Hals hatten. Das geschah erst, als wir auf dem Boot waren. Ja, er hatte mich tatsächlich auf sein Boot eingeladen. Es war nicht sehr groß, ich musste mich auf ein Querbrett setzen, und er machte mir deutlich, dass ich ganz ruhig sitzen müsse, sonst würden wir kentern. Es war ungewohnt und doch beruhigend, seine braunen, alten Hände auf meinen Händen und Knien zu spüren. Es war reine Fürsorge, wie ich sie vor Jahrzehnten von meinem Großvater erhalten hatte, als ich auf seinem übergeschlagenen Bein reiten durfte und vor dem Herunterfallen bewahrt werden musste. Das flache Boot war an seiner breitesten Stelle keinen Meter breit und verjüngte sich nach vorn und nach hinten. Auch stand etwas Wasser zu unseren Füßen, so dass meine Schuhe sofort durchnässt waren. Aber das war mir egal. Mein Fischer war ohnehin barfuß. Ich war glücklich, dabei sein zu dürfen. Hatte ich doch genau das sehen wollen.

Die Kormorane saßen inzwischen ganz ruhig auf den herausstehenden Ästen an den Seiten des Bootes. Vier Vögel hockten auf der einen und zwei auf der anderen Seite des Bootes. An einem Fuß der Vögel befand sich je eine Schnur, durch die sie mit dem Boot verbunden waren. Bevor es losging, bot mir der Fischer mit seinem breitesten Lächeln eine Zigarette der Marke „Rote Bohne“ an. Zuerst wollte ich ablehnen, da ich zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr rauchte, dann aber nahm ich sie an und er reichte mir mit einem Streichholz Feuer. So rauchten wir ein paar Züge und bliesen den Rauch in den Nebel, als bäten wir den Flussgott um Erlaubnis zur Fahrt. Er stieß vom Ufer ab und der Fluss nahm uns eine Strecke mit sich fort, bis wir fast das andere Ufer erreicht hatten. Dann holte der alte Fischer seine am Boot befestigte Stange von der Halterung an der Seite des Kahnes und stellte unser Boot gegen den langsam dahinfließenden Fluss und stakste uns flussaufwärts.

Es war die ruhigste Flussfahrt meines Lebens. Der Nebel schluckte alle Geräusche. Die Kormorane hatten aufgehört zu zanken und zu schnattern, und so hörte ich nur den leisen Sog des Wassers und das Geräusch des Stakens. Erst nach einer ganzen Weile wurde der Nebel durchsichtiger und nach und nach traten die berühmten Karstberge von Guilin ans Ufer und blickten auf den mäandernden Fluss auf uns herab. Es war eine Märchenlandschaft. Ich vergaß meine nassen Füße ebenso wie meine feuchte Kleidung. Die Kühle des Morgens war nichts gegen die Magie dieser Fahrt. So könnte es auf dem Styx sein, wenn ...

© Uwe Kullnick 

Nach einer Weile hielten wir an. Der Fischer fragte mich nach meinem Namen. Das hatte ich erraten, nachdem er mir mehrmals seinen Namen gesagt hatte und auf sich deutete. Ganz automatisch sagte ich „Uwe Bosche“, so nannten mich meine chinesischen Kollegen der Einfachheit immer, es heißt Doktor Uwe, denn mein Familienname ist für chinesische Zungen nicht so einfach. Und so nannte mich Dai Zhenong von nun an.

Dai machte den Kahn mit seiner Stakstange am Ufer fest und legte den Kormoranen eine Schlinge um den Hals, so dass sie den zu fangenden Fisch nicht schlucken konnten. Zwei Tiere saßen neben mir an der Bordwand. Um sie zu versorgen, musste er zu mir an mein Ende des Bootes kommen. Das Boot schaukelte ziemlich. Dai legte mir seine Hand auf den Kopf, um mich zu beruhigen oder um sein Gleichgewicht zu halten. Doch unter einer Art Singsang gelang es ihm, die Tiere mit den Schlingen für den Fischfang zu versehen. Bevor es losging, rauchten wir noch genüsslich eine „Rote Bohne“.

Es war beeindruckend, mit welchem Geschick der Fischer die vier Vögel der einen Seite ins Wasser warf und wie lange sie mit ihren langen Schnüren am Bein tauchten, um Fische zu fangen. Wenn sie wieder auftauchten, zog Dai einen Kormoran zum Boot, schnappte ihn sich geschickt und presste den gefangenen Fisch aus dem Schlund des Vogels direkt in einen in der Mitte des Bootes stehenden Korb. So ging es eine Weile. Die Wellen, die Vögel, die glitzernden Fische und das gleichmäßige Arbeiten des Fischers hatten etwas Archaisches. Nachdem die Kormorane einige Male getaucht waren, durften sie auf ihren Ästen pausieren und bekamen aus einem anderen Korb jeder einen kleinen Fisch, der durch die Einschnürung des Halses hindurch passte und verschluckt wurde. Das war ihre Belohnung. Nun kamen die anderen Kormorane dran. Auch die beiden neben mir sitzenden Vögel mussten nun ins Wasser. Normalerweise würde Dai wohl nun da sitzen, wo ich saß. Er ermunterte mich, mir doch jeweils einen der beiden Vögel aus dem Wasser zu holen und ihm den Fisch aus dem Hals zu drücken. Ich wedelte abwehrend mit den Händen und protestierte lauthals. Aber Dai ließ keine Ausflüchte gelten und bestand wortreich, wenn auch unverständlich, aber sehr bestimmend darauf, dass ich meinen Job machte.

Ach, es war ein Gefühl, als würde ich mein Abitur und meine praktische Führerscheinprüfung auf einmal machen müssen. Doch es half nichts, vor mir schwammen gleich zwei der Kormorane mit fischdickem Hals und warteten, von den Fischen befreit zu werden. Ich dachte mir, wenn ich mit Spinnen, Löwen, Schlangen, Bären und Krokodilen zurechtgekommen war, dann sollte das bei Kormoranen doch wohl auch möglich sein.

Ich schnappte mir den kleineren Vogel, griff beherzt zu und hatte ihn auf meinen Knien. Dai blickte mich aufmunternd an, ich griff an die Stelle über der Halsschnur und drückte kurz zu, aber das war gar nicht nötig. Das Tier würgte den Fisch heraus. Der fiel durch meine Ungeschicklichkeit neben dem Korb ins Boot. Doch schon zappelte der Vogel sich frei, um wieder ins Wasser zu springen. Dai schnappte sich den Fisch und warf ihn in den Korb. Sein strahlendes Lachen war mir großer Lohn.
Der zweite Vogel war schon einfacher zu behandeln. Das größte Abenteuer war, die Vögel aus dem Wasser zu bekommen, ohne völlig nass zu werden, oder selbst ins Wasser zu fallen, denn ich brachte das Boot immer ganz schön ins Schaukeln. Dann machten wir Pause, aber nicht ohne dass ich „meine Vögel“ mit kleinen Fischen gefüttert hatte.

Ich muss bei meiner Tätigkeit sehr glücklich ausgesehen haben. Dai kam zu meiner Seite des Bootes herüber, lächelte mich an, strich mir über das Gesicht und gab mir seine brennende Zigarette. Wortlos rauchten wir sie eine Weile. Wir blickten auf die Vögel, den Fluss, die wunderschönen Berge und den immer blauer werdenden Himmel. Ein unvergesslicher Moment. Nach einer Weile löste Dai das festgesteckte Boot und ließ es flussab treiben.

© Uwe Kullnick 

Als wir nach Stunden zurückkehrten, gingen wir zu Dai Zhenong nach Hause. Dort tranken wir den von seiner Frau bereiteten heißen süßen Tee und aßen eine Kleinigkeit. Ich erfuhr wieder einmal, wie man mit Menschen schweigen und sich doch so viel erzählen kann.

Als ich aufbrechen wollte, kam Dais Enkelin. Sie sprach etwas Englisch und ich bat sie, mir ein Taxi zu rufen. Sie bestand darauf, mich mit ihrem Wagen selbst zum Hotel zu bringen. Bevor wir abfuhren, wickelte Dai noch zwei unserer gefangenen Fische in eine Zeitung und schenkte sie mir.
Ich bedankte mich, nannte ihn Onkel Dai und wünschte ihm ein langes Leben. Seine Enkeltochter übersetzte und ich sah, wie er strahlte, als sie ihm meine Anrede übersetzte. Wir schieden unter vielen Verbeugungen. Als wir im Auto saßen, kam Onkel Dai noch einmal zur Beifahrertür, streichelte mein Gesicht und steckte mir seine brennende Zigarette zwischen die Lippen. Dann fuhren wir über die schmale Dorfstraße Richtung Stadt. Die „Rote Bohne“ zwischen den Lippen und mit seltsamer Wehmut in meinen Gedanken, ging diese Begegnung zu Ende. Mein Ausflug zum Li-Fluss, zu Onkel Dai, zu den Kormoranen, zu den Karstbergen und zu diesem schwindenden Stück China verging wie der Rauch meiner letzten „Roten Bohne“.