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30.06.2016, 10:51 Uhr
Stefan Wirner
Text & Debatte

Warum Rimbaud aufhörte zu schreiben und František Klišík nicht. Über die Nutzlosigkeit von Gedichten (1)

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Wassily Kandinsky (1866-1944): Lyrisches, 1911

Der in Weiden geborene Stefan Wirner lebt seit 1990 als Journalist und Autor in Berlin. Seit Januar 2012 arbeitet er als Redaktionsleiter der „drehscheibe“, des Magazins für Lokaljournalisten der Bundeszentrale für politische Bildung. Wirner schreibt Glossen für verschiedene Zeitungen und Artikel, u.a. für Amnesty International. Als Autor von drei „cut-up-Romanen“ (Verbrecher Verlag, Berlin) und Gedichten (Love to Go, 2011) ist Stefan Wirner belletristisch hervorgetreten. Als Lyriker sieht er sich in der Tradition des französischen surrealistischen Dichters René Char.

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Das Heute-Journal im ZDF vom 4. Dezember 2015 endete mit einem ungewöhnlichen Beitrag. Nach Berichten über den Krieg in Syrien und den islamistischen Terror, nach dem Sport, aber vor dem Wetter, kam Nachrichtensprecher Claus Kleber auf ein Gedicht zu sprechen, Der Panther von Rainer Maria Rilke. Es sei das „dichteste, stärkste Gedicht in deutscher Sprache überhaupt“, sagte Kleber. Rilke war an dem Tag vor 140 Jahren geboren worden. Aus diesem Anlass hatte der Schauspieler Ben Becker das Gedicht eigens für die Sendung eingesprochen. Der Videoclip sei „auf maximale Wirkung inszeniert, herausgekommen ist ein Hammer“, begeisterte sich Kleber. Nun habe seine Zunft zu schweigen, die Bühne gehöre dem „Herrn Rilke und dem Herrn Becker“.

Dramatisierende Akkordeonklänge mit balkaneskem Einschlag heben an. Zeitlupen-Aufnahmen eines Panthers. Die ungezähmte, wilde, schwarze Natur. Becker in einer Großaufnahme, er ist unrasiert, raucht, und mit tiefer, krächzender Stimme trägt er das Gedicht vor – „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt“ – wobei er pathetisch die Augen schließt und den Rhythmus des Vortrags mit der Zigarette in der Hand dirigiert. Vor der letzten Strophe taucht erneut ein Panther auf, das Tier reißt sein Maul auf und zeigt seine blitzenden, scharfen Zähne. Ein tiefer Zug von der Zigarette – Abblende.  

„Ein Hammer.“ Sicherlich, die Urteile über den Videoclip dürften unterschiedlich ausfallen, eine Überraschung aber war es allemal, in einer Nachrichtensendung ein Gedicht vorgetragen zu bekommen. Lyrik in der Welt der medialen Überinformation? Gibt es wirklich einen Platz dafür, ist ein Interesse daran vorhanden, im Anschluss an die täglichen Schauer- und Schreckensmeldungen Verse von Rilke zu hören? Gibt es eine Renaissance des Lyrischen?

 

Überflüssige Wiederkehr der anämischen Verse

Ausgerufen wurde diese Wiedergeburt bereits im Frühjahr 2015, als der Lyriker Jan Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Das Lob war allenthalben groß – für Wagner, aber auch für die Jury, die es gewagt hatte, einen Lyriker auszuzeichnen. Die Süddeutsche Zeitung sprach von einer „Sensation“. Aber nicht alle Beobachter wollten in diesen Jubel einstimmen. Ein Kolumnist von Spiegel online, Georg Diez, hielt mit seiner Kritik an der Entscheidung nicht hinter dem Berg.

Er hatte Wagners Gedichte aus den „Regentonnenvariationen“ gelesen und war den allzu voreiligen Lobhudlern offensichtlich um eine Beobachtung voraus. Seine Lesart dieser Verse ging so: „Man könnte jedes der Gedichte nehmen, es würde nichts ändern: Hier feiert jemand das ganz, ganz Kleine, das Superprivatistische, die Landlust und Versenkung, Verklärung, Verkitschung der Natur auf eine so humorlose und formal öde Art und Weise, dass Langeweile schon gar kein Wort mehr ist, das sich auf diese Gedichte anwenden lässt“, schrieb er. Er sprach von einer „Poetologie der Überflüssigkeit, der Selbstabschaffung, ein Offenbarungseid vor der Gegenwart, zu der es, so scheint es, nichts zu sagen gibt“.

Was war da geschehen? Das bekannteste Gedicht Jan Wagners – annähernd kultisch verehrt in den sozialen Netzwerken – handelt von der Unkrautpflanze Giersch, die „bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch/ schier überall sprießt, im ganzen garten giersch/ sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.“ In Wagners Gedichten werden Deckel einer Regentonne gehoben und Amselgesang „dunkelt“ heraus. Andere handeln von Weidenkätzchen, Mücken, einem Nagel oder einer Seife. Nun kann freilich auch ein Gedicht über ein Weidenkätzchen Aussagen über unser Dasein und unsere Welt enthalten, es käme darauf an. Diez aber konnte darin nur „bürgerliche Beschwichtigungsprosa“ und einen „risikoscheuen Stillstandparcours“ erkennen, eine „Ulrich-Greiner-Literatur“, die „unter Artenschutz“ stehe.

Nebenbei ließe sich aber auch fragen, was der Kritiker Diez sich selbst von Gedichten erhofft. Welche Erwartungen hegt er, wenn er vorhat, eines zu lesen? Zu was soll es ihm nutze sein? „Anämisch“, „pseudo-kunstvoll“ und „aufreizend apolitisch“ sei die Literatur von Wagner und anderen, schrieb er. Bedeutet das – juxtapose –, dass für ihn ein Gedicht zumindest von der modernen Welt der Gegenwart zu handeln habe, dass sie wenigstens vorkommen solle im Gedicht, dass sie angesprochen werden müsse? Aber wozu eigentlich? Was würde das bewirken? Soll das lyrische Produkt die Probleme und Tragödien der Zeit mit all der Umweltzerstörung, den mannigfachen Kriegen und apokalyptischen Aussichten erklären? Soll es intervenieren und versuchen, die verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten, soll es Sand im Getriebe sein? Für Diez jedenfalls ist diese „Feier der Literatur als ewige Eingeweideschau fast schon reaktionär“. Wie eine Lyrik der Zeit auszusehen habe, darüber schwieg er sich aus. Weil er wohl ahnt, dass alles noch viel komplizierter ist.

 

Orakel des kommenden sozialen Aufstands

Ein anderer Beobachter und echter Leser moderner deutscher Lyrik ist Enno Stahl. Selbst Schriftsteller, mehrfacher Stipendiat und Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf, äußert er sich auch gerne in Essays über die deutsche Gegenwartslyrik. Aus seinen Erwartungen an Gedichte macht er keinen Hehl. „Man kann eigentlich nichts sagen gegen die junge deutsche Lyrik: sie ist hand­werklich gut gemacht, ausge­wogen im Ton, ernst­haft, ja hoch reflektiert“, räumt er in dem Essay Risikogesellschaften: Lyrik und ihre Bilder vom Sozialen ein. Hand­werklich gut gemacht, ausge­wogen im Ton, ernst­haft, ja hoch reflektiert. Klingt nach Gedichte-Schreinerei. Und Stahl schleift und sägt: „Das genau ist aber auch das Problem. Denn was ihr fehlt, oder besser: was mir fehlt ist – das Wagnis, das Risiko, die Leidenschaft – sowohl inhaltlich als auch formal.“ Späne kritischer Kritik. Ernsthaft, ausgewogen, alles schön und gut, aber ohne Risiko, ohne Wagnis kein Gewinn, das kennt man aus der freien Wirtschaft. (Bei Diez lautete der Vorwurf, die Leipziger Jury sei „risikoscheu“ gewesen.) Und der Kritiker Stahl entdeckt – was ihm fehlt: „Wo sind die sozialen Bilder in einer Zeit, die eben dieses Soziale bewusst und aus politi­scher Absicht exklu­diert.“

Keine Frage, nur eine rhetorische, deshalb ist auch das Fragezeichen exkludiert. Was Stahl vorschwebt, ist ein „Eingreifender Realismus“, eine Dichtung, die „sozial-realistisch“ ist – „analog zu meinen ähnlich motivierten Prosa-Aktivitäten“, das gesteht er ein. Liest man sich einige seiner Aufsätze durch, denen man zugute halten muss, dass sie durchaus sachkundig sind, was gegenwärtige deutsche Lyrik betrifft, stellt sich alsbald die Ahnung ein, es gehe insbesondere darum, Gedichte daraufhin zu überprüfen, inwiefern sie dem kommenden sozialen Aufstand dienen. Sie sollen sich äußern über die Welt, und zwar „sozial-realistisch“, so als hätten die Dichter im Osten Deutschlands die Diktatur des sozialistischen Realismus nie erlitten, die Schrecken der in Braunkohle gemeißelten SED-Butzenscheibenlyrik. Stahls Forderungen an das Gedicht emergieren aus genau jener unsozialen Welt, der sie just mithilfe der Lyrik beikommen wollen. Ein Transparent soll das Gedicht werden, auf dem die Botschaft des Tages verkündet wird. Wenn Walt Whitmann, Georg Trakl und Dylan Thomas das nur gewusst hätten!

 

Lyrische Ausschreibungsbedingungen

So unterschiedlich Diez und Stahl auch argumentieren, ein Gedanke verbindet sie: Auch Gedichte müssen einen Nutzen vorweisen, müssen von der Welt sprechen, die uns umgibt, müssen sich gesellschaftlich bewähren, den Menschen betreffen und eine Haltung einnehmen. Sie müssen den Test der Realitätstauglichkeit bestehen und „unverwechselbar“ sein (Hölty-Preis), „Bilder evozieren“ (Feldkircher Lyrikpreis), „Innovationskraft“ ausstrahlen (Basler Lyrikpreis), und, by the way, „durchgehende Qualität“ kann auch nicht schaden (Salzburger Lyrikpreis).

Über all diesen Anforderungen, die an Gedichte gestellt werden, als handelte es sich um die Stellenausschreibung für einen schlecht bezahlten Job in einem Callcenter, wird genau das aus den Augen verloren, was Lyrik auszeichnet und aus dem Meer alltäglicher Banalitäten heraushebt: ihre völlige Nutzlosigkeit. Anders gesagt: ihre Nicht-Benutzbarkeit. Lyrik dient nicht dazu, irgendjemanden von irgendetwas zu überzeugen, Revolutionen zu entfachen, Kriege zu gewinnen oder das böse Schicksal der Menschheit abzuwenden. Der Versuch wurde oft unternommen, aber in den Momenten, da sich Gedichte einem politischen Auftrag widmeten, waren sie in schöner Regelmäßigkeit keine Gedichte mehr, sondern Propaganda. Sie gingen ihrer sowieso schon wackeligen Identität verlustig.

Die schlechtesten und unerträglichsten Gedichte von Bertolt Brecht etwa sind diejenigen, in denen er seine politische Gesinnung dialektisch unverbrämt formuliert, etwa im „Spottlied“ über Kurt Schumacher und Konrad Adenauer, wo es heißt: „Schuhmacher, Schumacher, dein Schuh ist zu klein, /In den kommt ja Deutschland gar nicht hinein./ Adenauer, Adenauer, zeig deine Hand,/ Um dreißig Silberlinge verkaufst du unser Land.“ Für das Stück Die Maßnahme (1929/30) verfasste er Lieder wie das „Lob der UDSSR“ oder „Lob der Partei“, in dem es heißt: „Der Einzelne kann vernichtet werden/ Aber die Partei kann nicht vernichtet werden./ Denn sie ist der Vortrupp der Massen/ und führt ihren Kampf.“ Zum Glück hatten diese Lieder keine weitere Wirkung. Die Partei ist tot, Brechts Loblieder auf sie sind vergessen.

Aber was wird nun aus der Welt im Gedicht? Welche Rolle soll sie darin spielen? So sehr die Lyrik des Expressionismus überquoll vor Bildern der Umwälzung, des Krieges, der „Menschheitsdämmerung“ – sie konnte diese Menschheitsdämmerung selbstverständlich nicht verhindern. Sie war nur ihr ehrenhafter, vorausahnender Ausdruck. So sehr der Surrealismus aus den Gefilden der Träume schöpfte, die Realität des Wachbewusstseins schlug eiskalt zu in den eitlen politischen Manifesten, den selbst errichteten ideologischen Schützengräben und in den realen von der Normandie bis nach Stalingrad.

Der Verdacht drängt sich gerade zu auf: Gedichte sind wirkungs- und nutzlos. Ein Knopf dient dem Menschen mehr, ein Reißverschluss, ein Smartphone oder jedes andere Ding des alltäglichen Gebrauchs. All diese Gegenstände werden gerne und rücksichtslos verwendet, Menschen benötigen sie, und das jeden Tag. Das Gedicht aber ist zu nichts zu gebrauchen – wörtlich wie man es einem Taugenichts vorwirft, einem Trinker oder –  Poeten. Und es gibt keinen Grund, das zu bedauern. Denn diese Nutzlosigkeit ist gut für das Gedicht, sie ist sein Emblem, seine unverwechselbare Eigenschaft, sein spezielles Surplus in der Welt des Überflusses.

 

Fortsetzung morgen...