„Der Weg ist das Ziel“. Zum Gedenken an Angela Baumann
Die fränkische Autorin Angela Baumann, zeitweise im Vorstand des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland, ist in der ersten Ausgabe der Literatur in Bayern vom Juli 1985 mit einem Prosa-Beitrag vertreten, einer Meditation zu einem Objekt des Nürnberger Künstlers Dietmar Pfister. Das Literaturportal Bayern gibt diesen Text hier wieder und erinnert damit an die 2020 verstorbene Schriftstellerin.
*
Der Weg ist das Ziel
Immer häufiger bedrängen mich Fragen nach der Zwangsläufigkeit meiner Lebensumstände. Anfangs umkreiste ich vorsichtig meinen gewohnten Lebensraum mit Ausbruchsversuchen der Phantasie:
Auf einer einsamen Insel im Mittelmeer gingen zwei schwarze Gestalten – mit schwarzen Schirmen gegen die Mittagssonne geschützt – eine staubige Uferstraße entlang. Von der Straße aus war nur die Weite des Meeres zu sehen und die Weite des Landes – keine menschliche Ansiedlung. Die Zeit stand still – die Stunde Pans –, und ich war von der plötzlichen Gewißheit erfüllt, daß ich dort gehen müßte, unter dem dunklen Schirm, dieses Land unter den Füßen, daß ich immer dort gegangen sein müßte, und ich begreife bis heute nicht, warum es anders ist.
Heute bin ich mutiger – warum bin ich kein Zeltbewohner?
Es gibt sie noch, die hochgewachsenen blauen Krieger in weißen Mänteln, die mit ihren Herden und Zelten die Gebirge Nordafrikas durchstreifen. Sie werden wegen ihrer imponierenden Gestalten noch immer Krieger genannt, obwohl sie zu allen Zeiten eher Dichter und Sänger waren.
Warum sitze ich nicht mit hennagefärbten Fußsohlen und Handflächen allabendlich am Feuer, um die Lied-Erzählungen meines Volkes zu hören, das leise Klingeln meiner Arm- und Ohrgehänge und das satte Grollen verdauender Kamelleiber?
Ich erinnere mich an ein Spiel der Kindheit: alleine gelassen, bemächtigte sich das Kind – obwohl es verboten war – der Bettdecke, einiger Mäntel und Kleider der Mutter, häufte sie auf einen Tisch und kroch darunter. Durch Ziehen und Zupfen gelang es langsam, an allen Seiten des Tisches dichte Wände aus Wolle, Stoff und Pelz zu schließen. Ein Zelt, eine Höhle, ein Bauch. Das Kind saß im Dunkel, summte und wiegte sich selbst sanft im Kreis.
Die Vorstellung, ein Zeltbewohner, Hirte und Nomade zu sein, machte mich unabhängig von der Zeit. Sie leben heute, wie sie vor Jahrhunderten gelebt haben.
Warum ziehe ich nicht mit dem Troß Jakobs aus den Ebenen Kleinasiens in das Land Kanaan, lausche den Geschichten über Abraham und Isaak und werde Zeuge, wie Jakob, der zeltfromme Hirte, Gott neu aus dem Universum hervordenkt?
Soviel weiß ich sicher: wie schön, tugendhaft und berühmt Joseph auch sein mag, ich lasse mich nicht in das Land der Ägypter locken: einen zivilisierten Staat der Schreiber und Verwalter. Ich bleibe in meinem Zelt und übersiedle weder in ein ärmliches Haus aus gestampften Lehmziegeln, noch in einen Palast mit Marmorsäulen.
Ich bin frei, nicht auf Tontafeln erfaßt, mit komplizierten Namen genannt. Ich lebe nach dem Recht der Natur, diene den Bedürfnissen meiner Herden und den Erfordernissen der Jahreszeiten. Ich bin nicht zinspflichtig und sinke nicht vor einem Oberhaupt mit künstlichem Knebelbart und Perücke, dessen Macht nur die des Goldes ist, in den Staub.
Vielleicht kehre ich zurück nach Kleinasien, nach Anatolien, mit all meinen Schafen und Ziegen. Der Weg ist das Ziel – eine Wahrheit, die den Nomaden vom Seßhaften unterscheidet, körperlich und geistig.
Vielleicht wandere ich im Laufe der Jahrhunderte hinauf in den Himalaja, neuen Göttern dienend, ziehende Hirten sind überall Brüder. Oder bin ich ein Zigeuner, fremd überall, wohin er kommt, mißtrauisch beäugt? Er hat Erfahrungen von Wegen gesammelt, die weder ein Hirte, noch ein Seßhafter je begeht. Deshalb ist er allen verdächtig: der Schweifende, Erfahrene, durch keinen Besitz dingfest zu machen.
Warum bin ich kein Zeltbewohner, schlafe, gebäre und sterbe auf der mütterlichen Erde liegend, durchdrungen vom einzigen Sinn, den sie mir mitzuteilen hat: alles wird und vergeht, das macht es Dir leicht.
Erschreckt es mich, durch kein festes Haus geschützt zu sein vor wilden Tieren, unberechenbaren Elementen und meinesgleichen?
Es schreckt mich nicht. In mir ruhen die Kräfte meiner Ahnen. Ich weiß, was sie wußten, sobald ich mich darauf besinne, ein Zeltbewohner zu sein.
Ich breche mein Haus ab, schlage mein Zelt auf, wo ich neue Nahrung finde, und niemand hat ein Anrecht darauf, mich dort wiederzufinden, wo er mich verlassen hat.
Mein Zelt steht in keiner Straße, trägt keine Nummer, ist nicht möbliert, und jedes neue Land nennt mich bei einem anderen Namen.
Ich bin ein Zeltbewohner –
trage die Gebete und Lieder, Beschwörungen und Rituale der Eingeweihten überall mit mir: alle Zeltbewohner sind Brüder, ihr Ziel ist der Weg, und ihre einzige Gewissheit ist das Ungewisse.
**
Dietmar Pfister, 1943 in Nürnberg geboren, ist von Beruf Jurist und lebt in Großgeschaidt bei Nürnberg. Er stellte bisher in zahlreichen Museen und Galerien aus, u.a. in Würzburg, Worms, Salzburg, Nürnberg, Zürich und, im Mai und Juni 1985, in Schaffhausen.
„Der Weg ist das Ziel“. Zum Gedenken an Angela Baumann>
Die fränkische Autorin Angela Baumann, zeitweise im Vorstand des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland, ist in der ersten Ausgabe der Literatur in Bayern vom Juli 1985 mit einem Prosa-Beitrag vertreten, einer Meditation zu einem Objekt des Nürnberger Künstlers Dietmar Pfister. Das Literaturportal Bayern gibt diesen Text hier wieder und erinnert damit an die 2020 verstorbene Schriftstellerin.
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Der Weg ist das Ziel
Immer häufiger bedrängen mich Fragen nach der Zwangsläufigkeit meiner Lebensumstände. Anfangs umkreiste ich vorsichtig meinen gewohnten Lebensraum mit Ausbruchsversuchen der Phantasie:
Auf einer einsamen Insel im Mittelmeer gingen zwei schwarze Gestalten – mit schwarzen Schirmen gegen die Mittagssonne geschützt – eine staubige Uferstraße entlang. Von der Straße aus war nur die Weite des Meeres zu sehen und die Weite des Landes – keine menschliche Ansiedlung. Die Zeit stand still – die Stunde Pans –, und ich war von der plötzlichen Gewißheit erfüllt, daß ich dort gehen müßte, unter dem dunklen Schirm, dieses Land unter den Füßen, daß ich immer dort gegangen sein müßte, und ich begreife bis heute nicht, warum es anders ist.
Heute bin ich mutiger – warum bin ich kein Zeltbewohner?
Es gibt sie noch, die hochgewachsenen blauen Krieger in weißen Mänteln, die mit ihren Herden und Zelten die Gebirge Nordafrikas durchstreifen. Sie werden wegen ihrer imponierenden Gestalten noch immer Krieger genannt, obwohl sie zu allen Zeiten eher Dichter und Sänger waren.
Warum sitze ich nicht mit hennagefärbten Fußsohlen und Handflächen allabendlich am Feuer, um die Lied-Erzählungen meines Volkes zu hören, das leise Klingeln meiner Arm- und Ohrgehänge und das satte Grollen verdauender Kamelleiber?
Ich erinnere mich an ein Spiel der Kindheit: alleine gelassen, bemächtigte sich das Kind – obwohl es verboten war – der Bettdecke, einiger Mäntel und Kleider der Mutter, häufte sie auf einen Tisch und kroch darunter. Durch Ziehen und Zupfen gelang es langsam, an allen Seiten des Tisches dichte Wände aus Wolle, Stoff und Pelz zu schließen. Ein Zelt, eine Höhle, ein Bauch. Das Kind saß im Dunkel, summte und wiegte sich selbst sanft im Kreis.
Die Vorstellung, ein Zeltbewohner, Hirte und Nomade zu sein, machte mich unabhängig von der Zeit. Sie leben heute, wie sie vor Jahrhunderten gelebt haben.
Warum ziehe ich nicht mit dem Troß Jakobs aus den Ebenen Kleinasiens in das Land Kanaan, lausche den Geschichten über Abraham und Isaak und werde Zeuge, wie Jakob, der zeltfromme Hirte, Gott neu aus dem Universum hervordenkt?
Soviel weiß ich sicher: wie schön, tugendhaft und berühmt Joseph auch sein mag, ich lasse mich nicht in das Land der Ägypter locken: einen zivilisierten Staat der Schreiber und Verwalter. Ich bleibe in meinem Zelt und übersiedle weder in ein ärmliches Haus aus gestampften Lehmziegeln, noch in einen Palast mit Marmorsäulen.
Ich bin frei, nicht auf Tontafeln erfaßt, mit komplizierten Namen genannt. Ich lebe nach dem Recht der Natur, diene den Bedürfnissen meiner Herden und den Erfordernissen der Jahreszeiten. Ich bin nicht zinspflichtig und sinke nicht vor einem Oberhaupt mit künstlichem Knebelbart und Perücke, dessen Macht nur die des Goldes ist, in den Staub.
Vielleicht kehre ich zurück nach Kleinasien, nach Anatolien, mit all meinen Schafen und Ziegen. Der Weg ist das Ziel – eine Wahrheit, die den Nomaden vom Seßhaften unterscheidet, körperlich und geistig.
Vielleicht wandere ich im Laufe der Jahrhunderte hinauf in den Himalaja, neuen Göttern dienend, ziehende Hirten sind überall Brüder. Oder bin ich ein Zigeuner, fremd überall, wohin er kommt, mißtrauisch beäugt? Er hat Erfahrungen von Wegen gesammelt, die weder ein Hirte, noch ein Seßhafter je begeht. Deshalb ist er allen verdächtig: der Schweifende, Erfahrene, durch keinen Besitz dingfest zu machen.
Warum bin ich kein Zeltbewohner, schlafe, gebäre und sterbe auf der mütterlichen Erde liegend, durchdrungen vom einzigen Sinn, den sie mir mitzuteilen hat: alles wird und vergeht, das macht es Dir leicht.
Erschreckt es mich, durch kein festes Haus geschützt zu sein vor wilden Tieren, unberechenbaren Elementen und meinesgleichen?
Es schreckt mich nicht. In mir ruhen die Kräfte meiner Ahnen. Ich weiß, was sie wußten, sobald ich mich darauf besinne, ein Zeltbewohner zu sein.
Ich breche mein Haus ab, schlage mein Zelt auf, wo ich neue Nahrung finde, und niemand hat ein Anrecht darauf, mich dort wiederzufinden, wo er mich verlassen hat.
Mein Zelt steht in keiner Straße, trägt keine Nummer, ist nicht möbliert, und jedes neue Land nennt mich bei einem anderen Namen.
Ich bin ein Zeltbewohner –
trage die Gebete und Lieder, Beschwörungen und Rituale der Eingeweihten überall mit mir: alle Zeltbewohner sind Brüder, ihr Ziel ist der Weg, und ihre einzige Gewissheit ist das Ungewisse.
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Dietmar Pfister, 1943 in Nürnberg geboren, ist von Beruf Jurist und lebt in Großgeschaidt bei Nürnberg. Er stellte bisher in zahlreichen Museen und Galerien aus, u.a. in Würzburg, Worms, Salzburg, Nürnberg, Zürich und, im Mai und Juni 1985, in Schaffhausen.
