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05.11.2018, 15:44 Uhr
Julian Miksch
Spektakula
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Lesung der Nominierten in der Buchhandlung Lehmkuhl

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Die Bücher der lesenden Nominierten. (Alle Fotos: Julian Miksch)

In der Buchhandlung Lehmkuhl machte dieses Jahr zum ersten Mal die Lesereise der Nominierten des Schweizer Buchpreis Station. Der Geschäftsführer Michael Lemling freute sich über diese Erweiterung der Route und verwies auf die Kooperation mit dem Schweizer Generalkonsulat, ohne die dies nicht gelungen wäre. Nicht zuletzt auch weil die Bücher auf der Shortlist für den Preis sich nicht vor den Nominierten für den Deutschen Buchpreis verstecken müssten. Nur Peter Stamm war leider verhindert. Dafür war aber der letztjährige Gewinner des Buchpreises zugegen, der Autor Jonas Lüscher. Die Schweizer Konsulin in München Chawla-Gantenbein verwies noch auf die Vielfalt der nominierten Bücher und warb darum, doch allen Titeln eine Chance zu geben. Schließlich seien lange Herbsttage zum Lesen gut geeignet.

Der Kulturjournalist Niels Beintker vom Bayerischen Rundfunk führte durch den Abend und begrüßte als erstes die Debütantin Gianna Molinari, der mit ihrem Erstlingswerk Hier ist noch alles möglich über den Einbruch eines Wolfes in eine Fabrik für Kartonagen ein surrealer oder doch hyperrealer Wurf gelungen ist über die Verunsicherung der Menschen im Schatten von Neoliberalismus und Globalisierung.

Eindringlich las die Autorin eine Passage über das gespenstische Verpassen von Wolf und Nachtwächterin auf dem Fabrikgelände. Der Chef der sich im Niedergang befindenden Fabrik hat die junge Frau angeheuert, um den Wolf zu fangen. Eine Fallgrube wird ausgehoben. Die Erzählerin wünscht sich bald, den Wolf doch endlich zu Gesicht zu bekommen, anstatt nur seine Spuren zu finden. Dagegen steht im Text eine Begebenheit, die der vorherige Nachtwächter aufgezeichnet und seiner Nachfolgerin hinterlassen hat und die verbürgt ist in der realen Zeitgeschichte – der sonderbare Fall eines bei Weisslingen aus dem Fahrwerkschachts eines Flugzeugs gefallenen, erfrorenen afrikanischen Flüchtlings.

Die Autorin sprach nach der Lesung über den Topos der Grenze. An diesem interessiere Sie, wer die Grenzen zieht. Der Wolf ist bildmächtig, jeder hat eine Vorstellung von ihm, und es sei spannend zu hinterfragen, wie Bilder in unseren Köpfen entstehen und ob sie auch veränderbar sind.

In einer Welt, in der sich die Menschen bedroht fühlen vom Eindringen des Fremden, hat die Basler Schriftstellerin sprechende Bilder gefunden für das Abgrenzen und Einschachteln, erzählt aber auch vom Zauber des Neulands, der Neugierde und der Frage, ob man wieder die Deutungshoheit erlangen kann über die Bilder, die man sich macht von der Welt.

 

Vincenzo Todisco im Gespräch nach der Lesung

Der in Rhäzüns lebende und bisher auf Italienisch schreibende Autor Vincenzo Todisco hat mit dem Buch Das Eidechsenkind seinen ersten Roman in deutscher Sprache verfasst. Er las Passagen aus der Sicht eines Kindes, welches eingeklemmt scheint zwischen der italienischen Heimat seiner Eltern, deren Sprache und Melodien, und der neuen Schweizer Heimat. Aus der Perspektive des Einwandererkindes, das die Gastarbeiter-Eltern nicht in die Schweiz mitbringen durften, beleuchtet der Autor dabei eine tragische Episode in der Geschichte der Schweizer Zuwanderung.

Das Eidechsenkind darf eigentlich gar nicht in der Schweiz sein, und so muss es unsichtbar bleiben, wenn Fremde kommen, kann die Wohnung nicht verlassen. Nur wenn die Familie im Heimatort ist, kann der Junge mit den anderen Kindern spielen. Das bedrückende Portrait einer Kindheit in den 60er- und 70er- Jahren.

Auf die Frage des Moderators, warum er nun zum ersten Mal auf Deutsch geschrieben habe, sprach der Autor von der Trennung dieser Sprachen in seinem Leben. Er habe das Italienische immer als Sprache des Bauches empfunden und es daher für die Dichtung benutzt; das Deutsche war die Sprache der Schule, der Arbeit.

Es scheint klar, dass er beide Sprachen benutzen musste, um über das Dilemma, zwischen den Sprachsphären zu stehen, schreiben zu können. So bleiben italienische Melodien und Wortfetzen auch im Text erhalten. Zwar sind die Italiener heute die beliebtesten Ausländer in der Schweiz, sagte er, und ist seine Integration und die der Schweizer mit gleichem kulturellen Hintergrund weitestgehend abgeschlossen. Diese sei auch mehr eine Inklusion gewesen, da er ja in der Schweiz aufwuchs und die Sprache von Kindesbeinen an kannte. Was nun aber für neue Generationen aus anderen Kulturkreisen gelten mag, ließ der Autor vielsagend offen.

Sein Text erzählt poetisch vom Versprechen und den Verstrickungen der Integration, indem er plastisch das qualvolle Ausgeschlossensein und die nicht begreifbare Zerrissenheit eines Kindes darstellt.

Mit Julia von Lucadou kam danach eine bedrohliche Vision von Social Media und Überwachungsstaat zur Sprache. In ihrem Roman Die Hochhausspringerin wird eine Heldin der sozialen Medien – ein sich selbst überwachender, ständig optimierender, gläserner Star – zum Aushängeschild des Megakonzerns psysolutions in einer geografisch nicht zuortbaren Megacity. Über den Wolken leben dort die Privilegierten, die aber nur bei ausreichendem Credit-Score bleiben dürfen.

Mit Reminiszenzen an die Vita einer Katharina Witt oder Swetlana Chorkina wird dieser Sportstar der modernen Disziplin des Hochhausspringens zur viralen Heldin eines erschreckend autokratischen Utopia. Als die Heldin nicht mehr springen möchte, wird eine Psychologin engagiert, um dem unerklärlichen Unwillen zur Performance auf den Grund zu gehen.

Im Gespräch zeigte sich der Moderator erstaunt über die Ausmaße dieses Horrorszenarios – was die Autorin veranlasste, auf den Jetztstand der sozialen Wirklichkeit jüngerer Generationen hinzuweisen. Das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen und jeden Schritt des eigenen Lebens dokumentieren zu müssen, sei heute schon recht nahe an den Verhältnissen ihrer fiktionalen Welt.

Der Text gemahnt dabei auch an Folgen aus der Sci-Fi-Anthologie Black Mirror, die technologische Dystopien in eindringlichen Bilderm lebendig werden lässt. Die aus Heidelberg stammende Autorin hat ein gutes Gespür für den Sound der kontinuierlichen Verwertung des eigenen Alltagslebens und kann die Bedrohlichkeit und Verführungskraft der strahlenden Makellosigkeit dieser schönen neuen Welt mit ihrer Sprache plastisch werden lassen.

Heinz Helle liest aus seinem Roman

Der heute in der Schweiz lebende, gebürtige Münchner Heinz Helle las dann den Anfang seines Romans über den Verlust eines Bruders.

Die Überwindung der Schwerkraft dreht sich um die Gespräche zweier Brüder. Der jüngere spürt dem verstorbenen älteren nach und versucht zu begreifen, um was es diesem ging in seinem Leben, warum es ihm entglitt und was das alles mit ihm und seinem eigenen weiteren Leben zu tun haben mag. Den Kern dieses Suchbildes bilden dabei Unterhaltungen der Brüder bei Kneipentouren durch München. Der Jüngere kann sich oft weder der Einladung noch dem Redeschwall des Älteren erwehren, und so wird das Kopfkino eines am Leben hadernden und von der Welt überforderten Trinkers zum Zentrum des Romans.

Im Gespräch mit Beintke sprach der Autor von den Ängsten, die er als junger Vater heute angesichts der modernen Welt habe, und davon, wie er mit der Figur eines fiktionalen Bruders, eines Alkoholikers, eine Stimme für diese gefunden habe.

Der Roman zeichnet sich formal durch das Fehlen von Kapiteln und jeglichen Absätzen aus. Die Unterhaltungen der Brüder stehen atemlos neben philosophischen Diskursen über den Fall des belgischen Kindermörders Dutroux oder die Erschießungskommandos der deutschen Armee im Osten. Diese Unmittelbarkeit und fehlende Hierarchisierung sei aus der Erzählstruktur heraus entstanden, so Helle. Die Unterscheidung zwischen den irrationalen und rationalen Ängsten leisten zu können, bildet dabei den versöhnlichen Ausweg aus den Verirrungen des eigenen Denkens, die dieser vom Autor als Meditation empfundene Text aufzeigen soll.

Nach der Lesung, Zeit für Gespräche und Schweizer Gastlichkeit

Es kann am Ende des Abends nur festgehalten werden, dass die Vielfalt der nominierten Bücher dem Schweizer Buchpreis durchaus zu Ehren gereicht. Die Tatsache, dass viel beachtete aktuelle Veröffentlichungen etwa von Thomas Hürlimann oder Adolf Muschg nicht nominiert sind, zeigt auch den Mut und die Eigenständigkeit der Jury. Selbst ohne den nicht anwesenden Peter Stamm zeigt die Auswahl an Texten doch ein lebendiges Bild der literarischen Schweiz 2018. Poetisch anspruchsvoll, politisch und nah an der sozialen Wirklichkeit.

Zum elften Mal wird im Jahr 2018 der Schweizer Buchpreis vom Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV und dem Verein LiteraturBasel vergeben. Der Preisträger oder die Preisträgerin wird am 11. November in Basel bekannt gegeben.