"Bücher der Kindheit" – Ein Abend in der Internationalen Jugendbibliothek mit Lena Gorelik und Niels Beintker
Internationale Jugendbibliothek: Am 29. Oktober sprach die Autorin Lena Gorelik mit dem Journalisten Niels Beintker über ihre Lieblingsbücher aus Kindertagen. Das Literaturportal Bayern war vor Ort dabei.
*
Bei stimmungsvoller Beleuchtung lässt sich dem Gespräch zwischen der Autorin und Journalistin Lena Gorelik und Niels Beintker, Literatur- und Kulturredakteur beim BR, auch mit geschlossenen Augen gut folgen. Der Jella-Lepman-Saal der Internationalen Jugendbibliothek bietet dafür ein angenehm-gemütliches Ambiente. Das Thema der Reihe lautet „Bücher der Kindheit“ und an diesem Abend sind es die Kindheitsbücher Lena Goreliks. Schnell entsteht ein Gesprächsfluss und die Interviewte braucht lediglich einzelne Stichwörter von Niels Beintker, um ins Erzählen zu kommen. Wie bei einer Podcast-Folge kann sich die Zuhörerschaft von den Anekdoten davontragen lassen und in den Erinnerungen an die Bücher ihrer eigenen Vergangenheit schwelgen.
Ausgehend von Lena Goreliks autobiographischem Roman Wer wir sind (2021 bei Rowohlt erschienen) erfährt das Publikum von ihrer Kindheit, aus der Bücher nicht wegzudenken sind. Es ist insbesondere eine Autorin, die den kindlichen Alltag Goreliks in Sankt Petersburg bestimmt: Astrid Lindgren.
Ihr ist ein ganzes Bücherregal gewidmet: Astrid Lindgren
Obwohl Niels Beintker zunächst feststellt, dass man doch als Kind vielmehr die Bücher und die Geschichten als einen Autor/eine Autorin als Person lesen würde, behauptet Lena Gorelik das Gegenteil. Es ist Astrid Lindgren, die sie vor ihrem inneren Auge sieht, obwohl in der heilig gewordenen Sammelausgabe aus der Sowjetunion kein Autorenbild Lindgrens enthalten ist. Hinter Pippi Langstrumpf oder Carlson auf dem Dach erscheint immer die große Erzählerin. Heute ist Astrid Lindgren, bei Lena Gorelik zuhause, ein ganzes Bücherregal gewidmet. Es war unter anderem die Erzählkunst Lindgrens, die Gorelik als noch junges Mädchen dazu brachte zu schreiben. Sie wollte ihrem großen Vorbild nacheifern und sich eigene Welten erschaffen. Während ihre Eltern ihr rieten doch lieber mit Gedichten zu beginnen, wie auch schon Puschkin, wollte sie von Anfang an „den großen Roman schreiben“, wie sie es selbst formuliert.
In ihren Romanen hat sie dieses Versprechen an sich selbst erfüllt. Eine winzige Schwachstelle ihrer Texte ist jedoch, ganz und gar nicht nach der Manier Astrid Lindgrens, die Beschreibung von Orten. Wie Lena Gorelik selbst erklärt, sind Orte und das Visuelle überhaupt im Schreiben eine große Herausforderung für sie. Humorvoll berichtet sie dem Publikum von einer vorsichtigen Aussage ihrer Lektorin zu einem ihrer Manuskripte: „Es wäre gut, wenn wenigstens ein Ort vorkommen würde.“
Auf diesem Stück Wiese konnte ihr die Welt nichts anhaben
Dennoch sind Orte, wie im Gespräch zwischen Niels Beintker und Lena Gorelik klar wird, durchaus relevant in ihrer Beziehung zur Literatur und umso mehr in einer kindlichen Beziehung zur Literatur. Orte sind dabei sowohl Welten, in die Leserinnen und Leser eintauchen können, als auch physische Räume des Lesens. Im Gespräch tritt in dieser Hinsicht besonders ein Ort hervor: ein Stückchen Gras, auf dem Lena Gorelik so manches Buch verschlang. Der Fleck zwischen Stacheldrahtzaun und Flüchtlingswohnheim, in dem sie, nach ihrem Weggang aus Sankt Petersburg, mit ihrer Familie in Deutschland lebte. Auf diesem Stück Wiese konnte ihr die Welt nichts anhaben. Wie durch ein geheimes Portal gelangte sie zu den Büchern, die selbst zu einem Ort wurden, an den sie sich zurückziehen konnte. Wohl das, was man heute einen Safespace nennen würde.
Mit Astrid Lindgren lernte sie Deutsch
Ein weiterer Ort des Lesens wird für die jugendliche Lena die Bücherei in Ludwigsburg, die sie noch heute vor ihrem inneren Auge rekonstruieren kann. Diese Bibliothek bedeutet, wie auch Deutschland selbst, einen neuen Sprachraum. Hier erobert sich die lesedurstige Lena ihre Geschichten zurück. Zunächst sind es die Bücher, die sie schon kennt: Erzählungen Astrid Lindgrens und Erich Kästners und natürlich alle russischen Texte, die sie finden kann. Eine Erfahrung, die anfangs beruhigend wirkt; etwas Bekanntes im Unbekannten. Denn während sich alles im Außen verändert, bleiben wenigstens die Geschichten die gleichen. (Oder zumindest fast: Der Schock darüber, dass Michel als Lönneberga nicht wie im Russischen und auch im schwedischen Original Emil heißt, trifft schwer.) Parallel ermöglichen es ihr diese Bücher sich dem Unbekannten immer mehr zu nähern. Mit Astrid Lindgren lernt Lena Gorelik Deutsch. Und mit der neuen Sprache verschafft sie sich Zugang zu vielen, vielen neuen Büchern.
Kinder lesen mit Leidenschaft
Die neu entdeckten Lektüren sind auch deshalb so wichtig, weil die elfjährige Lena viele ihrer eigenen Bücher zurücklassen musste. Zwei durfte sie mitnehmen, eines davon die große Ausgabe von Astrid Lindgren, das andere „ein Dostojewski“. Daran, welcher Titel es denn nun war, kann sie sich bezeichnenderweise nicht mehr erinnern. Umso konkreter ist hingegen die Erinnerung an das Buch, welches sie für „den Dostojewski“ zurücklassen musste. Der Protagonist dieser Geschichte ist eine kleine Zwiebel. Er ist Teil eines von sozialistischer Propaganda getränkten Kinderbuchs, das in einer Revolution des unterdrückten Gemüses endet. Nicht die Propaganda, die sie erst später als solche erkannte, faszinierte Lena Gorelik als Kind, sondern viel mehr die ausgleichende Gerechtigkeit, die am Ende des Buches steht.
Kinder haben laut Lena Gorelik nicht nur einen besonderen Sinn für Gerechtigkeit, sondern auch ein ganz eigenes und einmaliges Leseverhalten. Inzwischen selbst Mutter, ist sie fasziniert von der Intensität, mit der Kinder lesen, mit der sie in Geschichten eintauchen können und alles um sich herum vergessen. Ein wenig desillusionierend ist dabei die Folgerung auf der Bühne, dass erwachsene Leserinnen und Leser diese Fähigkeit verlieren und gegen eine neutralere und distanziertere Leseweise eintauschen. Vielleicht muss aber auch einfach nur das richtige Buch auftauchen, damit „die Erwachsenen“ wieder mit der Taschenlampe unter der Decke lesen, bis sie beim Umblättern der letzten Seite von ihren Emotionen überwältigt werden: vom Verlangen, der Spannung nachzugeben, der Angst vor dem Verlust der liebgewonnenen Figuren und natürlich der Trauer um das Ende der Geschichte.
Nach Schlussworten und den letzten Schnappschüssen in Richtung Bühne klingt der Abend mit ruhigen Gesprächen und dem leisen Klirren der Weißweingläser aus. Während Einige gleich zurück in die herbstliche Kälte eilen, verweilen Andere, führen das Gespräch fort und verhelfen ihm dazu noch etwas länger zwischen den Mauern von Schloss Blutenburg widerzuhallen.
"Bücher der Kindheit" – Ein Abend in der Internationalen Jugendbibliothek mit Lena Gorelik und Niels Beintker>
Internationale Jugendbibliothek: Am 29. Oktober sprach die Autorin Lena Gorelik mit dem Journalisten Niels Beintker über ihre Lieblingsbücher aus Kindertagen. Das Literaturportal Bayern war vor Ort dabei.
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Bei stimmungsvoller Beleuchtung lässt sich dem Gespräch zwischen der Autorin und Journalistin Lena Gorelik und Niels Beintker, Literatur- und Kulturredakteur beim BR, auch mit geschlossenen Augen gut folgen. Der Jella-Lepman-Saal der Internationalen Jugendbibliothek bietet dafür ein angenehm-gemütliches Ambiente. Das Thema der Reihe lautet „Bücher der Kindheit“ und an diesem Abend sind es die Kindheitsbücher Lena Goreliks. Schnell entsteht ein Gesprächsfluss und die Interviewte braucht lediglich einzelne Stichwörter von Niels Beintker, um ins Erzählen zu kommen. Wie bei einer Podcast-Folge kann sich die Zuhörerschaft von den Anekdoten davontragen lassen und in den Erinnerungen an die Bücher ihrer eigenen Vergangenheit schwelgen.
Ausgehend von Lena Goreliks autobiographischem Roman Wer wir sind (2021 bei Rowohlt erschienen) erfährt das Publikum von ihrer Kindheit, aus der Bücher nicht wegzudenken sind. Es ist insbesondere eine Autorin, die den kindlichen Alltag Goreliks in Sankt Petersburg bestimmt: Astrid Lindgren.
Ihr ist ein ganzes Bücherregal gewidmet: Astrid Lindgren
Obwohl Niels Beintker zunächst feststellt, dass man doch als Kind vielmehr die Bücher und die Geschichten als einen Autor/eine Autorin als Person lesen würde, behauptet Lena Gorelik das Gegenteil. Es ist Astrid Lindgren, die sie vor ihrem inneren Auge sieht, obwohl in der heilig gewordenen Sammelausgabe aus der Sowjetunion kein Autorenbild Lindgrens enthalten ist. Hinter Pippi Langstrumpf oder Carlson auf dem Dach erscheint immer die große Erzählerin. Heute ist Astrid Lindgren, bei Lena Gorelik zuhause, ein ganzes Bücherregal gewidmet. Es war unter anderem die Erzählkunst Lindgrens, die Gorelik als noch junges Mädchen dazu brachte zu schreiben. Sie wollte ihrem großen Vorbild nacheifern und sich eigene Welten erschaffen. Während ihre Eltern ihr rieten doch lieber mit Gedichten zu beginnen, wie auch schon Puschkin, wollte sie von Anfang an „den großen Roman schreiben“, wie sie es selbst formuliert.
In ihren Romanen hat sie dieses Versprechen an sich selbst erfüllt. Eine winzige Schwachstelle ihrer Texte ist jedoch, ganz und gar nicht nach der Manier Astrid Lindgrens, die Beschreibung von Orten. Wie Lena Gorelik selbst erklärt, sind Orte und das Visuelle überhaupt im Schreiben eine große Herausforderung für sie. Humorvoll berichtet sie dem Publikum von einer vorsichtigen Aussage ihrer Lektorin zu einem ihrer Manuskripte: „Es wäre gut, wenn wenigstens ein Ort vorkommen würde.“
Auf diesem Stück Wiese konnte ihr die Welt nichts anhaben
Dennoch sind Orte, wie im Gespräch zwischen Niels Beintker und Lena Gorelik klar wird, durchaus relevant in ihrer Beziehung zur Literatur und umso mehr in einer kindlichen Beziehung zur Literatur. Orte sind dabei sowohl Welten, in die Leserinnen und Leser eintauchen können, als auch physische Räume des Lesens. Im Gespräch tritt in dieser Hinsicht besonders ein Ort hervor: ein Stückchen Gras, auf dem Lena Gorelik so manches Buch verschlang. Der Fleck zwischen Stacheldrahtzaun und Flüchtlingswohnheim, in dem sie, nach ihrem Weggang aus Sankt Petersburg, mit ihrer Familie in Deutschland lebte. Auf diesem Stück Wiese konnte ihr die Welt nichts anhaben. Wie durch ein geheimes Portal gelangte sie zu den Büchern, die selbst zu einem Ort wurden, an den sie sich zurückziehen konnte. Wohl das, was man heute einen Safespace nennen würde.
Mit Astrid Lindgren lernte sie Deutsch
Ein weiterer Ort des Lesens wird für die jugendliche Lena die Bücherei in Ludwigsburg, die sie noch heute vor ihrem inneren Auge rekonstruieren kann. Diese Bibliothek bedeutet, wie auch Deutschland selbst, einen neuen Sprachraum. Hier erobert sich die lesedurstige Lena ihre Geschichten zurück. Zunächst sind es die Bücher, die sie schon kennt: Erzählungen Astrid Lindgrens und Erich Kästners und natürlich alle russischen Texte, die sie finden kann. Eine Erfahrung, die anfangs beruhigend wirkt; etwas Bekanntes im Unbekannten. Denn während sich alles im Außen verändert, bleiben wenigstens die Geschichten die gleichen. (Oder zumindest fast: Der Schock darüber, dass Michel als Lönneberga nicht wie im Russischen und auch im schwedischen Original Emil heißt, trifft schwer.) Parallel ermöglichen es ihr diese Bücher sich dem Unbekannten immer mehr zu nähern. Mit Astrid Lindgren lernt Lena Gorelik Deutsch. Und mit der neuen Sprache verschafft sie sich Zugang zu vielen, vielen neuen Büchern.
Kinder lesen mit Leidenschaft
Die neu entdeckten Lektüren sind auch deshalb so wichtig, weil die elfjährige Lena viele ihrer eigenen Bücher zurücklassen musste. Zwei durfte sie mitnehmen, eines davon die große Ausgabe von Astrid Lindgren, das andere „ein Dostojewski“. Daran, welcher Titel es denn nun war, kann sie sich bezeichnenderweise nicht mehr erinnern. Umso konkreter ist hingegen die Erinnerung an das Buch, welches sie für „den Dostojewski“ zurücklassen musste. Der Protagonist dieser Geschichte ist eine kleine Zwiebel. Er ist Teil eines von sozialistischer Propaganda getränkten Kinderbuchs, das in einer Revolution des unterdrückten Gemüses endet. Nicht die Propaganda, die sie erst später als solche erkannte, faszinierte Lena Gorelik als Kind, sondern viel mehr die ausgleichende Gerechtigkeit, die am Ende des Buches steht.
Kinder haben laut Lena Gorelik nicht nur einen besonderen Sinn für Gerechtigkeit, sondern auch ein ganz eigenes und einmaliges Leseverhalten. Inzwischen selbst Mutter, ist sie fasziniert von der Intensität, mit der Kinder lesen, mit der sie in Geschichten eintauchen können und alles um sich herum vergessen. Ein wenig desillusionierend ist dabei die Folgerung auf der Bühne, dass erwachsene Leserinnen und Leser diese Fähigkeit verlieren und gegen eine neutralere und distanziertere Leseweise eintauschen. Vielleicht muss aber auch einfach nur das richtige Buch auftauchen, damit „die Erwachsenen“ wieder mit der Taschenlampe unter der Decke lesen, bis sie beim Umblättern der letzten Seite von ihren Emotionen überwältigt werden: vom Verlangen, der Spannung nachzugeben, der Angst vor dem Verlust der liebgewonnenen Figuren und natürlich der Trauer um das Ende der Geschichte.
Nach Schlussworten und den letzten Schnappschüssen in Richtung Bühne klingt der Abend mit ruhigen Gesprächen und dem leisen Klirren der Weißweingläser aus. Während Einige gleich zurück in die herbstliche Kälte eilen, verweilen Andere, führen das Gespräch fort und verhelfen ihm dazu noch etwas länger zwischen den Mauern von Schloss Blutenburg widerzuhallen.
