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26.08.2015, 13:31 Uhr
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Gespräche
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© Daniel K. Zegnalek

Der Lyriker Federico Italiano über die bleibende poetische Kraft von Dante Alighieri

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Michelino-Fresko, Dom Santa Maria del Fiore

Federico Italiano, 1976 in Novara geboren, lebt als Autor, Übersetzer und Herausgeber in München und Innsbruck, wo er Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft unterrichtet. Er hat u.a. über Paul Celan promoviert und Autoren wie Jan Wagner, Durs Grünbein und Lutz Seiler ins Italienische übersetzt. 2003 erschien sein erster Gedichtband Nella costanza. Es folgten I Mirmidoni (2006), L’invasione dei granchi giganti (2010) und L’impronta (2014). Zusammen mit Michael Krüger gab er 2013 das Buch Die Erschließung des Lichts heraus, eine Sammlung italienischer Dichtung der Gegenwart. Wir sprachen mit ihm anlässlich eines Jubiläums: Vor 750 Jahren wurde der große italienische Dichter Dante Alighieri geboren.

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Wann und wie haben Sie Dante und sein Werk kennengelernt – und was bedeutet es Ihnen heute?

Ich habe Dante, wie jeder Italiener, der ein Gymnasium besucht hat, als Schüler zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Drei Jahre lang, ein Jahr pro Cantica und einmal wöchentlich, haben wir Verse aus der Divina Commedia in der Klasse kommentiert. Dante war eine fixe Stunde im wöchentlichen Unterricht. Seitdem habe ich nicht mehr aufgehört, Dante zu lesen. Die Commedia ist bis jetzt immer noch das Größte, was die Italienische Sprache produziert hat und zusammen mit den Dramen von Shakespeare bildet sie das Zentrum des westlichen Kanons. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden ist, dass Shakespeare den Menschen erfunden hat, um die Welt zu verstehen, während der andere eine ganze jenseitige Welt entworfen hat, um sich die Menschen zu erklären. Nebenbei erschuf Dante aber auch eine literarische Sprache, die Sprache, die ich heute mit meinen Kindern spreche, eine Sprache die sich im Wesentlichen von Dantes toskanischem Vulgär herleitet – wobei von den stärksten lokalen Prägungen des Toskanischen gereinigt und korrigiert durch meinen Piemontesischen Akzent. Als erster italienischer Dichter hat Dante an die Potentialität der italienischen Sprache geglaubt und ihre Kapazität wie ein Gummiband ausgedehnt: von den grausamsten, vulgärsten und diabolischsten Schimpfwörtern zu der kristallinen, lichterfüllten Sprache der Engel. Das lehrt mich Dante noch heute: Poesie ist nicht eine schöne Sequenz von gut klingenden Wörtern, sondern die Suche nach dem unabdingbaren Wort, nach dem Wort, das wie kein anderes etwas beschreibt oder bewegt ... Und sehr oft ist dies überhaupt kein „schönes“ Wort.

Ist Dante für die zeitgenössische italienische Dichtung denn allgemein noch eine Bezugsgröße?

Dante ist wie kein anderer Dichter in der zeitgenössischen italienischen Dichtung eine Bezugsgröße. Das hat insbesondere, so glaube ich, mit der unerreichten Dichte und Musikalität seiner Sprache zu tun, die noch das schwierigste Konzept, sei es theologisch, wissenschaftlich oder erotisch, in eine „terza rima“ [Terzine oder Dante’sche Reime] bündeln und für die Ewigkeit als Bild prägen kann. Das möchte doch jeder Dichter erreichen, nicht wahr? Außerdem besaß Dante ein absolutes Ohr für die Sprache: Die Art und Weise, wie er mit den Lauten Bilder malen kann, gilt unter alten und jungen Dichtern immer noch als poetische Errungenschaft, die zum Teil moderner als jede modernistische Operation dieser Art wirkt.

 

           

 

Dante feiert gerade seinen 750. Geburtstag, und man kann sagen: Sein Werk ist gut und ziemlich staubfrei gealtert. Gerade sein Hauptwerk, die Göttliche Komödie, ist überraschend sinnlich, auch unerwartet lustig. Worin liegt für Sie persönlich die spezifische Kraft seiner Dichtkunst, die all diese Zeit überdauert hat?

Obwohl Dante, als Mensch des Mittelalters, an eine klare, bereits enthüllte Wahrheit glaubt und in diesem Sinne ideologisch-dogmatisch ist, besitzt er als Dichter eine präzedenzlose Beobachtungsfähigkeit für das Alltägliche und schafft es immer wieder, sowohl im Paradies als auch im Inferno, das Reale in all seiner Schönheit und Komplexität zu besingen. Dante vermag noch immer die jüngsten Dichter zu begeistern, weil seine Vision gleichzeitig menschlich und göttlich, kritisch und inspiriert, politisch und erotisch ist.

Was ist eigentlich ‚göttlich‘ an seiner Komödie? Das Attribut im Titel geht ja auf Boccaccio zurück. Ist das Erstaunliche nicht gerade, wie geerdet sie ist?

Das stimmt: Das Attribut „Divina“ stammt ursprünglich aus Boccaccios Trattatello in laude di Dante aus dem Jahre 1373, und so wird Dantes Werk erst ab der Mitte des XVI. Jahrhunderts genannt, genauer gesagt ab der venezianischen Ausgabe aus dem Jahre 1555. Dante verwendet den Begriff „comedia“ nur ein paar Mal, und im Paradiso nennt er sein Werk „poema sacro“, also „heiliges Poem“. Er wollte den Namen Tragödie, der vielleicht dazu besser gepasst hätte, vermeiden, weil Vergil die Aeneis so beschrieben hatte, als „Hohe Tragödie“… Vor Vergil hatte Dante wirklich Respekt, er macht fast eine ehrerbietige Reverenz vor ihm, würde ich sagen, obwohl meiner Meinung nach Dante der bessere Dichter bleibt. Zurück zur Frage: Was ist göttlich an seiner Commedia? Abgesehen von der theologischen Inspiration vielleicht die mathematische, immer noch nicht völlig sondierte Perfektion ihrer Architektur.

Dante schreibt nicht nur als Dichter und ‚Götterliebling‘, sondern auch als Philosoph, Wissenschaftler, Chronist und Politiker. Er schafft damit gewissermaßen überhaupt erst den Typus des künftigen Schriftstellers. Zugleich erfindet und etabliert er eine neue eigene Literatursprache. Woher kam dieser immense Innovationsschub?

Ich versuche mich sehr kurz zu fassen, da diese Frage eigentlich Bände benötigt. Wie nicht wenige Zeitgenossen zwischen Palermo und Mailand am Anfang des vierzehnten Jahrhunderts, insbesondere in Florenz, hatte Dante eine immense Bibliothek im Kopf, die aber fast nur aus literarischen, wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Büchern bestand, die auf Latein geschrieben waren (selbstverständlich auch zahlreiche Übersetzungen aus dem Griechischen, Arabischen und Hebräischen). Seine Komödie ist u. a. eine Reise durch diese wundervolle, fast zweitausend Jahre alte Bibliothek. Dantes Geniestreich war, seinen persönlichen Reisebericht durch diese Bibliothek in seiner eigenen Muttersprache zu verfassen. Und Muttersprache bedeutete selbstverständlich auch politische Überzeugung, Liebessprache, Idiosynkrasien, Geschmack, Kadenzen, Melodien, Witz, Unterbewusstsein usf.

Was können Sie – Ihrerseits Lyriker – heute noch von Dante lernen?

Oh, vieles! Die Alchemie der Gleichnisse, die chromatischen Nuancen der Wörter, das Innenleben eines einzelnen Verses und sein Mitwirken im gesamten Konzept, die Präzision der Sprache, die reziproke Mitwirkung von Versmaß und Vision, usf. Aber insbesondere hat Dante uns alle gelehrt, dass Poesie, auch wenn das Thema eine Reise im Jenseits ist, sich der Verantwortung des Realen nicht entziehen kann; dass Poesie sogar eine Art Reparation eines Ungleichgewichtes ist. Vergessen wir nicht, dass Dante sein Meisterwerk im Exil schrieb.

In vielem wirkt, wie Sie sagten, Dantes Werk ungeheuer modern, etwa in der Konstruktion/Autofiktion des lyrischen Ichs. War er seiner Zeit singulär voraus – oder kennen wir hier einfach zu wenig italienische Dichtung aus dieser Zeit?

Beides.

  

Gustav Doré, Dante und Vergil im neunten Kreis der Hölle; William Bouguereau, Dante und Vergil

Wusste Dante, dass er etwas Bahnbrechendes schuf?

Wie jeder große Dichter wusste er Bescheid über die Einzigartigkeit seiner Commedia. Anders geht es einfach nicht. Wunderschöne Sonette und Canzoni hatten auch andere vor ihm geschrieben – der zehn Jahre ältere Guido Cavalcanti zum Beispiel, ein grandioser Dichter übrigens. Aber die Komödie war wirklich etwas Neues, Unerhörtes und Bahnbrechendes. Und Dante war sich darüber bewusst; so sehr, würde ich sagen, dass er sogar das Reimschema (die „terza rima“), das er selbst erfunden hatte, für ein Zeichen von Transzendenz hielt, also für etwas Göttliches. Ein bisschen Arroganz tut nicht weh und hilft dem Künstler sekundäre Probleme an die Seite zu schieben … Andererseits, was bei Dante wirklich interessant ist, ist die Art und Weise, wie er sich selber als Hauptfigur seiner Erzählung inszeniert, und zwar nicht als „Ich bin Dante: Ich-weiß-alles“, sondern eher als unsicheren Wanderer zwischen den Welten, einen Wanderer, der ständig stolpert, etwas Blödes sagt oder eine gaffe macht und immer wieder von seinen Jenseitsführern, Vergil oder Statius (aber insbesondere von Vergil), korrigiert oder gemahnt werden muss. Um diese unbeholfene Autoprojektion durch Hölle und Himmel zu bringen, muss man als Autor schon ziemlich selbstsicher sein.

Dantes Leben war von politisch schwierigen Zeiten geprägt, auch von Entbehrung und Heimatverlust. Bei aller Schönheit und Leichtigkeit liegt vielleicht auch deshalb oft ein wehmütiger, sehnsüchtiger Unterton in seiner Sprache. Gerade die Göttliche Komödie erzählt ja letztlich vom Leiden und Irren eines Liebenden, von Verdammung und Erlösung – vielleicht der Urplot aller Literatur. Da Dante sein ‚Ich‘ wie kaum ein Dichter vor ihm literarisierte, mag also diese letzte Frage erlaubt sein: Wie stellen Sie sich den realen Dante vor? Als glücklichen Menschen? Als Melancholiker, der beschreibend noch im Unglück Schönheit findet?

Ich kann mir Dante als realen Menschen sehr schwer ausmalen. Zu komplex, stark und nuanciert ist seine Autofiktion, um dahinter einen realen Menschen zu erahnen oder zu erkennen. Meine Mutmaßung wäre am Ende eine Projektion seines Werks. Wie jeder Dichter war er sehr wahrscheinlich melancholisch und lunatisch, vielleicht leicht depressiv? Außerdem hat er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens im Exil verbracht, was sicher seine Stimmung nicht versüßt hat. Seine Ehe mit Gemma Donati war offenbar miserabel. Mit Beatrice, seiner großen Liebe, die sehr jung starb, sprach Dante nie ein Wort (ein einziges Winken ihrer Hand gab es angeblich), und am mondänen Austausch hat er auch nie wirklich Spaß gefunden. Den antiken Helden, den er vielleicht am meisten respektiert hat, Odysseus/Ulisse, hat er ganz tief in die Hölle geschickt … Also: Ein perfekt glücklicher Mensch war er sicher nicht. Aber wenn man unbedingt auf der Suche nach einem mehr oder weniger wahrheitsgetreuen Bild von Dante als realem Menschen ist, würde ich das Purgatorio als Lektüre empfehlen. Dort zelebriert Dante das Wandern, das Laufen, das Hinaufsteigen. Sagen wir so: Ich kann mir Dante beim Sitzen gar nicht vorstellen: Ich sehe ihn als Wanderer, als Bergsteiger. Und auch beim Schreiben sehe ich ihn immer in Bewegung, in seinem Schreibzimmer oder auf den Straßen von Verona oder Ravenna, das Leben beobachtend und in einen Elfsilber übersetzend.