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Kultur trotz Corona: „Glück gehabt!“. Von Oliver Machander

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Nazar-Amulett, auch als "mavi boncuk" (blaue Perle) bekannt, eingebaut in einem Fußgängerweg in Bodrum (Türkei).

Oliver Machander alias „Olivier“ absolvierte eine Ausbildung zum Märchenerzähler im Märchenzentrum DornRosen e.V., Nürnberg, und besuchte Stimm- und Sprachbildungskurse. Während seiner Arbeit an einer Schule für körperlich und geistig behinderte Kinder und in einem Montessori-Kinderhaus sammelte er reichhaltige pädagogische Erfahrungen. Seit dem Jahr 2000 tritt er als Märchenerzähler, -spieler und Buchautor mit über 1.000 Vorstellungen in Deutschland, Österreich sowie der Tschechischen Republik in Kindergärten, Schulen und bei Festen auf. Darüber hinaus arbeitet er als Dozent der VHS – Regensburg-Land.

Oliver Machander ist Mitglied des Verbands deutscher Schriftstellerinnen- und Schriftsteller, der europäischen Märchengesellschaft und des Märchenzentrums DornRosen e.V. sowie Träger der Ehrenmedaille für innere Sicherheit des Bundeslandes Bayern. Er lebt in Hainsacker, nordwestlich von Regensburg.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Text, der Geschichte eines syrischen Flüchtlings, beteiligt sich Oliver Machander an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Glück gehabt!

Mein Name lautet Azmi. Ich komme aus Syrien, aus der Stadt Aleppo. Ich bin 15 Jahre alt. Viele Leute sagen zu mir: „Azmi, du hast Glück gehabt.“

Hier in Regensburg, wo ich jetzt lebe, ist der Fliegenpilz für die Menschen ein Glückssymbol. Bei uns in Syrien, in der arabischen Welt, nicht. Bei uns ist es das Boncuk (gesprochen: Bondschuk). Ich habe immer eines bei mir. Meine Mutter hat es mir geschenkt. Sie hatte keines. Sie hat kein Glück gehabt. Als eine Bombe explodierte, stürzte in unserem Haus alles ein. Alles war kaputt und meine Mutter und meine kleine Schwester waren tot. Mein Vater wurde wahnsinnig vor Kummer und Schmerz. Tagelang wühlte er mit seinen Händen in den Trümmern. Er suchte wie verrückt nach der Besitzurkunde des Hauses. In seinem Wahn wollte er nicht, dass ihm jemand sein Haus wegnimmt. Sein Haus, das Haus seiner Eltern, seiner Familie. „Es hat unserer Familie schon immer gehört“, sagte Vater und wühlte. Dabei gab es gar kein Haus mehr. Nur Trümmer und Schutt. Dann kamen Männer mit Waffen. Weil mein Vater ein Christ war, schnitten sie ihm die Kehle durch. Ich war unten am Fluss, als es geschah, sonst hätten sie mich auch getötet. Nun war ich ganz allein. Mit dem was ich noch hatte floh ich in den Libanon. In Beirut lebt ein Großonkel von mir. Zu dem ging ich. Mein Großonkel ist ein zorniger Mann, der mich immer wieder schlug. Aber ich hatte wenigstens ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen. Das hatten viele Flüchtlinge nicht. Sie mussten auf der Straße leben. Die meisten lebten in ein paar Kartons und bettelten, um etwas zu essen zu haben. Sie waren neidisch auf mich und sagten ich habe großes Glück. Vielleicht stimmte das. Aber die Schläge taten weh. Am schlimmsten war es, wenn mein Großonkel viel Raki getrunken hatte. Einmal war es besonders schlimm. Er schlug so lange auf mich ein, bis ich bewusstlos war. Als ich wieder erwachte, blutete ich am Kopf. Mein Großonkel aber saß in seinem Stuhl und heulte. Ich wusch mich sauber. Alles tat weh. Plötzlich stand mein Großonkel vor mir. Er sagte es tät ihm leid. Er könne das nicht. Er wolle allein sein. Da gab er mir Geld. 5.000 Euro. Woher das Geld kam, ich weiß es nicht. Er gab mir das Bündel und sagte zu mir, ich solle nach Deutschland gehen. Dort seien die Menschen gut, nicht so schlecht wie er. Man fände in Deutschland auch leicht Arbeit. Wenn ich dort sei, solle ich fleißig sein und ihm das Geld wieder zurückzahlen. Ich versprach es ihm. Er nickte und murmelte, ich sei ein guter Junge. In Beirut konnte ich mir keinen gefälschten Pass besorgen. Daher war mir ein direkter Flug nach Deutschland nicht möglich. Ich musste zurück nach Syrien. Auf dem Highway, der Damaskus mit Homs und Aleppo verbindet, kann man das Land relativ sicher durchqueren. Mit zwei andern Jungen in meinem Alter, die zu Verwandten nach Dänemark wollten, machte ich mich auf den Weg. Wir fuhren mit einem Auto. Der Fahrer fuhr die Strecke bis zur türkischen Grenze oft. Er kannte sich aus. Er wollte 100 Dollar von jedem für die Fahrt. Das Schmiergeld für die Soldaten mussten wir auch bezahlen. An den unzähligen Straßensperren entlang der 350 km langen, von unterschiedlichen Bürgerkriegsparteien kontrollierten Strecke bekamen die Soldaten mal 20, mal 50 Euro. Nur einmal wurde es gefährlich. An einem Checkpoint hielten die Milizionäre ihre Kalaschnikows auf uns. Doch sie ließen sich von einer Lüge überzeugen, dass ich und meine Freunde ihre kranke Oma in Aleppo besuchen wollten. Und von 50 Euro extra. Von Aleppo fuhren wir die letzten 70 Kilometer weiter in Richtung der türkischen Grenzstadt Reyhanli. Zehn Kilometer vor dem Schlagbaum ließ uns der Fahrer am Straßenrand zurück. Wir versteckten uns stundenlang, bis es dunkel wurde. In der Türkei konnten wir uns als Syrer frei bewegen. Mit dem Bus ging es zunächst bis nach Mersin am Mittelmeer, dann weiter nach Bodrum im Südwesten der Türkei. Keine zehn Kilometer entfernte liegt die griechische Insel Kos. Mit meinen eigenen Augen konnte ich sie sehen. Europa ist dort ganz nah. In Bodrum einen Schlepper zu finden war ein Leichtes. Die Schmuggler sprechen die Flüchtlinge gezielt an. So war es auch bei uns. Ich musste für einen Platz im Schlauchboot 1.000 Euro abgeben. Nachts versteckten wir uns mit 15 anderen Syrern und Afghanen in einem Lagerhaus. Boot um Boot verließ die Türkei Richtung Kos, die meisten überfüllt, einige kenterten. Keiner half ihnen. Unser Boot kam an. Wir hatten Glück. Kos ist eine von Migranten in Beschlag genommene Insel. So viele Menschen. Aber man bekam zu essen, wurde satt. Nach unserer Registrierung und einer Woche Aufenthalt wurden wir mit Fähren auf das Festland transportiert. In Griechenland wollte ich nicht bleiben, ich träumte von Deutschland, meine Freunde von Dänemark. In Thessaloniki fanden wir neue Schlepper, besser gesagt sie fanden uns. Wir buchten ein „All-Inclusive-Paket“ nach Deutschland. Kostenpunkt: 3.000 Euro pro Person. Das war fast mein ganzes restliches Geld. Es ging in Kleintransportern oder Lkw weiter. Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland. Immer nach dem Grenzübertritt wurden wir an den nächsten Schlepper übergeben. Das Netzwerk der Schlepper ist groß, bestens organisiert und gierig auf Profit. Aber ich hatte wieder Glück. Ich schaffte es nach Deutschland und kam nach Regensburg. Regensburg ist eine schöne Stadt. Die Leute sind freundlich. Ich lebe im Michlsstift. Mir geht es dort sehr gut. Dort lerne ich Deutsch und ich gehe wieder in die Schule. Lernen ist gut, aber in der Schule verdient man kein Geld. Aber mein Onkel wartet auf sein Geld. In einer Allee traf ich Rüdiger. Er ist sehr nett und sauber. Für eine Stunde Zärtlichkeit zahlt er mir 50 Euro. Die meisten bekommen von den anderen nur 30 Euro. Sie sind neidisch auf mich und schimpfen: „Du hast doch nur Glück gehabt!“

Dann kam Corona, der Lockdown. Ich konnte Rüdiger nicht mehr treffen. Somit bekam ich kein Geld mehr. Mein Onkel meinte, das geht alles bald vorbei und er warte auf sein Geld. Ich bin doch ein guter Junge. Ende April suchte ich nach Rüdiger, aber ich fand ihn nicht. Wenn ich ihn anrief, lief nur sein Anrufbeantworter. Schließlich erfuhr ich, dass er im Krankenhaus St. Josef lag, aber ich durfte ihn nicht besuchen. Er hatte Corona. Er hat es nicht geschafft. Er hatte kein Glück gehabt. Meine Freunde und ich sind gesund. Neulich traf ich Peter. Er ist nicht so wie Rüdiger und meint, ich solle froh sein, dass er mir 30 Euro gibt, viele seien seit Corona mit 10 Euro zufrieden. Aber ich bin nicht froh und vermisse Rüdiger. Peter zeigte mir Rüdigers Grab. Ich sagte, er fehle mir. Ich weinte auch ein bisschen. Peter aber sagte, komm, er habe keine Zeit und Zeit sei Geld. Alle sagen, Geld mache glücklich. Vielleicht haben sie recht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht was Glück ist.