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Kultur trotz Corona: „In der Ruhe liegt die Kraft“. Von Tania Rupel Tera

Tania Rupel Tera (* 1969 in Blagoevgrad) studierte bulgarische Philologie und Journalistik in Sofia und lebt als Malerin und Schriftstellerin seit 2005 in München. Seit 2013 ist sie Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband Bayern und in der Autoren Galerie 1, seit 2017 zudem Mitglied der Kulturplattform „jourfixe-muenchen e.V.“. Zuletzt erschienen von Tania Rupel Tera der Lyrik- und Bildband Der Schrei der Tropfen (2016), die Erzählungen und Impressionen Plötzlich Hunde (2018) sowie die Lyrik- und Jazz Audio-CD Wundebar (2019). 2020 errang die Künstlerin den 1. Platz beim Landschreiber-Wettbewerb „Sprache und Flucht“ in der Sparte Lyrik sowie den Europeans in art-Award beim Münchner Europa-Mai 2020 in der Kategorie „Künstlerinnen und Künstler für Europa“.

Mit dem folgenden Text, in dessen Mittelpunkt die persönliche Reaktion der Ich-Erzählerin auf Corona, ihre Gefühle, Ängste und Wunden, stehen, beteiligt sich Tania Rupel Tera an Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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In der Ruhe liegt die Kraft

Es war Frühling, Sommer, der Herbst ist da. Die Jahreszeiten wechseln sich unbeeindruckt weiter ab. Lockdown ist ein wichtiges Wort geworden. Die Drehtür der Zeit kreist ununterbrochen um sich und lässt uns rein ... bevor wir wieder raus müssen. Hoffentlich nicht so schnell! Sonst wollen wir heutzutage doch flott sein, und springen, reisen, bauen, träumen, essen, vergessen, verschwenden, zerstören; und bluten, tränen, lachen, und schaffen, und fühlen ... und, und, und ... lieben und leben.

Immer langsamer, unsicherer kommen die Frühlinge zu mir, die Sommer sprinten mir stets davon. Ich stehe irgendwo in einer vagen Zwischenzeit, in einer vagen Mitte. Ihr, da drüben, seid schon ziemlich betagt. Du und sie, und noch viele draußen, seid jung. Wie lösen wir das? Ach, die Welt war immer krank, das ist nichts Neues. Und immer musste sich der Mensch in Geduld üben. Nie war die Zukunft sicher. Außer vielleicht früher, im Sozialismus, wo auf uns eine unerschütterlich strahlende Zukunft wartete. Sicher wird was Ähnliches jetzt in Nordkorea und China versprochen. Dort glauben fast alle, eine Partei wird einen Virus besiegen. Woanders sind viele für immer „first“, nicht wenige vertrauen da vermutlich auf Wunder, Egoismus und Dickhäutigkeit. Vor Kurzem hörte ich hier, bei uns, einige dem Virus danken, denn sie hoffen auf ein neues, bibelgerechtes christliches Land.

Tja, bis jetzt schafft es Corona, uns und das Leben zu ändern. In diesen Zeiten müssen wir alle mehr oder weniger Opfer bringen. Manchmal frage ich mich, wie hätte ich gefühlt, gedacht, getan, wäre ich junger und lustiger gewesen. Aber ich bin so alt wie ich bin. Im März musste ich meinen Flug nach Bulgarien und die Hotelreservierung stornieren, so konnte ich nicht meinen Vater besuchen, und plötzlich hat das Schicksal zugeschlagen. Papa wurde krank, starb bald danach im Altersheim, und wir konnten uns nicht mehr sehen.

Jetzt bin ich nicht lustig. Ich sehe noch vor mir den Sarg mit den Blumen, mit dem Heft und dem Stift, die ich dazulegte, damit er auch im Jenseits seine Gedichte schreiben kann. Wenigstens standen wir durch das Telefon in Verbindung, sage ich mir, und empfinde so eine Dankbarkeit. Gott sei Dank, wir hatten unsere Stimmen und der Abstand konnte ein bisschen gekürzt werden. Was für ein Trost ...

Ich kämpfe noch mit der Trauer, mit der gnadenlosen Plötzlichkeit der Ereignisse und ... plötzlich liegt ein anderes Mitglied der Familie im Krankenhaus und kämpft mit dem Virus. Gleichzeitig schreien sich draußen Hunderte von Leugnern die Hälse kaputt, ohne die wichtigsten Regeln der Lage zu beachten. Es sieht so aus, als ob das Leben dual sei: Gesundheit gegen Wirtschaft, große Firmen gegen kleine, Wirtschaft gegen Kultur, Pandemie gegen Demokratie, die Alten gegen die Jungen ...

Ich gehe einkaufen und bemerke unterwegs viele verlorene medizinische Masken. Auf den Straßen sind sie fast mehr als auf den Gesichtern. Man lässt leicht das „Fremde“ fallen, so verdrängt man gleich die Gefahr. Wahrscheinlich spielt die Psychologie auch hier eine Rolle. Wollen wir uns gerade jetzt offen zeigen, uns demaskieren? Ja, es ist kein Karneval, es ist eine neue maskierte Gegenwart, eine Ausnahmesituation, die plötzlich dauert und dauert. Wir spüren sie, sie ist existentiell. Aber stehen wir schon vor der Ruine der Freiheit und der Kultur? Was kann man machen? Warum stellen sich manche vor, die Maske sei ein Maulkorb? Keine Ahnung. Mich überfallen Fragen, aber ich bin arm an Antworten.
 
Jeden Tag wird wieder in Zahlen verabschiedet. Die letzte Nachrichtensendung schickt mich bedrückt ins Bett, und irgendwie versuche ich auszublenden, dass es um Menschen geht. Ich bin ein Pendel, ich schwinge wie verrückt: Angst – Zuversicht, große Sorge – großer Glaube, und wieder wird es dual. Nein, nein, nicht schwarz-weiß, es ist nicht so einfach. Ach, die Welt ist krank und weigert sich, es zuzugeben. Was kostet die Ware „Geduld“? Wo gibt es sie zu kaufen? Besser bewaffnen wir uns mit Klopapier! Ich nehme auch Schokolade, gegen jeden Schock – ein Stückchen Glück. Dann schmeiße ich die Hülle weg ... Auf Wiesen und Bürgersteigen liegen Masken herum, Müll, Verpackungen, Zigarettenkippen; im Wasser – Plastik, Mist, Chemie, nur wenig Fisch; in der Luft – Gase und Gift ... krank, krank ... Ich bin ein Pendel und schwinge wie verrückt – hin und her, hin und her ...

Ein Virus geht um wie ein Gespenst. Noch eins, und noch so viele ... Wer hat recht – auf die leichte Schulter oder auf die schwere nehmen? Ich sage mir oft: In der Ruhe liegt die Kraft, vergiss es nicht! Die Saisonen reihen sich, aber etwas ist anders: Angst. Verlust. Doch auch Lust. Ich stehe abseits und zwinkere mit beiden Augen – für beide Seiten, bin gespalten. Im Kopf spuckt es – Zerreißprobe, Spagat, Pendel ... Was soll ich tun? Politiker muss man jetzt sein, schmunzle ich innerlich, sie haben es leichter. Wer will das Leben aufgeben? Die Sperrstunden kommen und gehen. Trotzdem möchte die Jugend aufs Feiern nicht verzichten. Ich will ebenso in der Zukunft Feste erleben, eine Zukunft haben.

Die Welt steht Kopf. Als ob jemand sie wie einen Stein umgedreht hat, und plötzlich kommt aller mögliche Irrsinn heraus. Ich schwöre es! Ein Pendel, hin und her, hin und her ... Zum Glück zeigen sich auch einige herrliche Sachen – Solidarität, Kreativität, Dankbarkeit, Menschlichkeit, Humor ... Doch, die Hoffnung lebt.

Ach, ein winziges Ding, unsichtbar mit bloßem Auge, macht mir so viele Sorgen. Ist die Zeit sichtbar? Ich sehe ihre Spuren an mir und das bedrückt mich. Auf einmal will ich mich jung fühlen, lebendig, mich amüsieren, gerade jetzt! Ich will nicht so traurig sein. Aber wie? Wie in dieser Zeit? Ein Pendel, das sich nicht mehr bewegt. Ich schwinge nicht weiter zwischen Heiterkeit und Betrübtheit. Ich stehe still, um mich herum ist Nebel. Mir wird klar, wie kostbar alles ist, was ich noch habe. Erst jetzt, als ich einiges verlor ... Nun muss man wieder auf Kulturleben verzichten. Dabei wollte ich bald auf ein Konzert, danach an einer Lesung teilnehmen. Ich muss meine Freunde, Kolleginnen und Kollegen treffen.

Kann man vorsichtig feiern und überhaupt leben? Ist so was möglich? Ohne mindestens eine Grenze zu überschreiten? Ein Glas kaputt zu machen? Ohne Rebellion? Ohne sich eine neue Freiheit zu erlauben? Oder Frechheit? Ah, das ist nicht das richtige Wort ... Eigentlich suche ich die richtigen Worte. Seit Langem, schon immer. Tief in mir versammeln sie sich, gruppieren sich, befreunden sich, oder befeinden und trennen sich, manche formieren sich zu Gedanken, Versen und pausenlos zu Fragen. Seit wann ... Seit wann gedulden sie sich? Seit wann wartet ihr? Feiert ihr unbeschwert? Wollen wir abwarten? Sie lassen es krachen. Heult ihr? Wir schimpfen. Kinder weinen. Erwachsene schluchzen mit. Balkone und Fenster klatschen ... Wer ist dankbar? Wer übermüdet? Wer einsam? Wer verantwortlich? Wer hört uns überhaupt? Wer erklärt; kontrolliert? Wer stirbt? Wer? Wer? Wer ... Ist alles nur Glück oder Pech?

Glück – Pech, Glück – Pech, das Pendel ... Ich spüre es, die Einsamkeit tötet. Mich lässt das Gefühl nicht los – Papa war einsam. Zu lange konnte/durfte niemand aus der Familie ihn besuchen, deswegen wurde er krank, zuerst hoffnungsvoll – dann verzweifelt ... Ein paar Tropfen Wein auf den Boden kippen – für alle, die gegangen sind. Und Abstand halten. Weiter weinen ist nicht zu vermeiden, die Trauer sitzt so tief. Trotzdem marschieren wir von Galerie zu Theater. Das Leben bleibt ein großes Kino! Schunkeln von Kneipe zu Kneipe. Für jeden verpassten Zug. Von Tag zu Nacht. Der Durst ist mächtig. Gespenstisch-schön die Zeit ... mit Abstand die gespensterhafteste seit Langem. Zurück zu den Museen, zur Kunst. Zur Natur sowieso. Für jeden unerfüllten Traum; für jeden gefällten Baum – zwei neue pflanzen und gießen. Zum Wohl! Immer weiter ... Wir sind doch noch da.

In der Unterwelt tanzen sie jetzt auch. Trinken aus unseren Trauerergüssen. Wühlen, graben Schmerz aus. Wühlen, graben Wärme aus. Lachen über sich selbst, über uns, mit uns. An der inneren Seite der Erde kleben Maulwurfsohren in das Leben hinein. Wir horchen von hier, beharrlich versuchen wir die Verbindung wiederherzustellen, die Verbindung mit uns selbst. Etwas rauscht und kracht. Die Winde verschieben die Luftebenen, Herzbeben bewegen die Erdschichten ... Wohin gehen wir? Was wird passieren? Ich weiß es nicht. Wir singen, klatschen, schreien, leiden, hoffen ...

Hört, hört uns zu! Lauscht der Freude, dem Elend. Wir lieben und brennen, als ob es der erste und gleich der letzte Tag wäre. Wir leben und trotzen dem Tod. Ade oder Servus, wir haben die Ehre ...