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04.08.2022, 16:16 Uhr
Tania Rupel Tera
Text & Debatte
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(c) Black Ink

Tania Rupel Tera über den neuen Gedichtband „ach so ich bin ja“ von Jörg Neugebauer

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Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

Ach so ich bin ja – was sich selbstverständlich anhört, ist so selbstverständlich nicht. Das weiß die Philosophie, das weiß die Lyrik. Das Selbst und die Umgebung. Der Alltag, Erinnerung, was Zufriedenheit heißt und wie wir in der größeren Zeit stehen. Jörg Neugebauer macht in seinem neuen Gedichtband kein Drama daraus, sondern Gedichte, denen die Verwunderung noch anzumerken ist (Black Ink Verlag). Eine Rezension von Tania Rupel Tera.

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Ich lese gerade ein Gedicht noch mal, als ein junger Mann mich anspricht:

„Optimistisch! Wissen Sie nicht, hier wartet man eine Ewigkeit?“

„Ach so“, antworte ich, wie schon vom Titel angesteckt. Wenn es um die Ewigkeit geht, habe ich ja das Richtige dabei, Lyrik. Ich halte in der Hand den schmalen Gedichtband von Jörg Neugebauer Ach so ich bin ja (Black Ink Verlag, 2022).

„Ich muss oft hierher kommen“, sagt der Mann, „und schleppe immer einen ‚Ziegelstein‘ mit.“

„Tja, keine Ahnung, was Sie da lesen, aber mit guten Gedichten langweilt man sich nie.“

„In der Schule hab ich sie gehasst, entschuldigen Sie.“

„Kein Problem, das kommt vor.“

„Mein Buch ist ein Mystery-Krimi oder so ähnlich, aber nicht ohne Liebe. Alles ziemlich verwickelt, rätselhaft.“

„Also wie bei mir. Wenn Sie mystery erwähnen, muss ich zitieren: ‚Die Eulen sind nicht, was sie scheinen‘. Nur in der Poesie geht’s um die Worte.“

„Wie denn das?“, wundert er sich. „Zufällig weiß ich, die Geschichte ist Kult gewesen. Aber was wollen Sie damit andeuten? Das macht mich neugierig.“

So ungefähr hat unser Gespräch angefangen und dauerte unerwartet lange. Vor dem ersten Termin, ein wenig abergläubisch, habe ich mich extra für so was Schmales entschieden. Ich hatte die Hoffnung, damit flitze ich da durch und bald geht’s mir wieder gut. Aber es zog sich, allmählich wurde ich unruhig, das Wort „pessimistisch“ ging mir durch den Kopf, bis plötzlich etwas passierte, und in einem Moment habe ich mich sogar entschlossen, darüber zu schreiben.

Denn wir sahen uns wieder und wieder mit dem jungen Realisten im Wartebereich. Ich mit dem „Heft“, er mit dem „Ziegelstein“. Er legte ihn flott zur Seite und stellte seine cleveren Fragen zu „meinem“ Buch. Wir unterhielten uns über Dichtung und Prosa. Ab und zu probierte er aus, selbst ein Gedicht zu lesen, um zu erraten, worum es geht. Was wollte der Autor damit sagen? Die bekannteste Frage in der Schule, wenn es um Poesie geht. Ich beichtete, dass ich seit Jahren dichte und eigentlich fast eine Poesieatmende bin. So, im Dialog mit ihm, versuchte ich die Antworten zu finden. Irgendwann konnte ich offensichtlich genug glaubwürdige „Beweise“ liefern, denn der Mystery-Leser gab zu, ernsthaft zu überlegen, wieder zur Lyrik zurückzukehren. Ich fand’s stark. Das Warten hatte sich schon deshalb ausgezahlt. Nun erzähle ich davon, von der Begegnung zwischen zwei Menschen mit diesen Versen, die mir (wahrscheinlich ebenso wie ihm) unbemerkt durch diese nicht leichte Zeit geholfen haben.

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Als eine ziemlich Aufgeregte, sprach mich gleich der unaufgeregte Ton an. Die Hälfte der Gedichte ist kurz, die anderen sind auch nicht sehr lang. Die Sprache alltäglich wie einige Beobachtungen und Gedanken. Auf den ersten Blick scheint alles locker dahergesagt, wie eine innere Rede, man spricht mit sich selbst. Die Lesenden können einfach lauschen, das Lyrische Ich traut uns und teilt sich uns mit. Fast eine Gelassenheit schwebt umher, gibt den Strophen Luft, dennoch gelingt es ihr nicht, die Einsamkeit zu verstecken. Ich darf auch das Ironische nicht verschweigen. Es ist grundlegend und macht das Buch noch anziehender für mich. Oft zwinkert das Ich von den Seiten, sogar das Altwerden wird erträglicher, annehmbarer. Der Humor, das Absurde erfrischen wie eine Brise dazwischen – in den „durchschaubaren“ wie auch in den nicht so leicht zugänglichen Gedichten.

Überhaupt tut diese Art gut. Wie die Seeluft auf S. 4 zum Beispiel. Und dann kommt’s: ach so ich bin ja im Wald / tut aber trotzdem gut ... /. Dazu gesellt sich das andere kluge Mittel. Der Autor wirft manch Wichtiges nur so nebenbei in die Runde: die Luft die tut gut / Herrgottimhimmel / was sage ich da / so einen gibt es doch gar nicht ... /. Neue Räume öffnen sich zwischen den Worten, es melden sich Hintergrundstimmen. Man fragt sich unwillkürlich: Warum? Was tut nicht gut, wenn die Luft so gut tut? Was soll sie lindern?

Aber zurück zum nicht-existierenden Gott, der also nicht helfen kann. Zum Glück ist die Natur da. Und sowieso sind von den Göttern nur Torsi geblieben und die stehen jetzt beim Chinesen (S. 16). Tja, junger Mann, wozu Krimi? Die Lesenden werden auch hier zu Detektiven. Man geht auf Spurensuche mit dem Verfasser, nimmt falsche Abbiegungen, erlebt kleine oder größere Überraschungen und immer wieder das Augenzwinkern des Lebens – das ab und zu vielleicht harmlos ist, ab und zu aber auch nicht.

Auf S. 21 wird es klar, mehrere Onkel hat er und sie sind irgendwie alle tot. Der Keller ist voll von ihnen / ich geh gar nicht mehr gerne hinunter ... /. Das klingt selbstverständlich, dort ist wieder mal eine Leiche, die der Vergangenheit. Noch mehr ... Das Blöde: Im Dachstuhl sind die Tanten. Das Thema Lebensende wird nicht dramatisiert. Nichts ist mehr dramatisch, möchte man meinen. Aber wohin mit dem Lyrischen Ich? Irgendwie sind manche Rechnungen auf dieser Welt doch nur Milchmädchenrechnungen. Obwohl man sich einig ist: Natürlich gibt es Sachen die man endgültig wegschmeißen kann ... / (S. 5). Trotzdem liegt hier eine rum, ganze fünf Jahre alt. Auf der anderen Seite ist nichts aufgeschrieben, das eventuell später irgendwie interessant wäre. Also, wieso sich nicht davon trennen? Und noch mal nebenbei wird erwähnt: Im Adressfeld ist meine Exfrau noch aufgeführt / als ob es sie immer noch gäbe ... /.

Das Wort irgendwie kommt öfters vor. Ich benutze es jetzt ebenso, denn irgendwie bleibt ein komisches Gefühl übrig. Wie beim Gott, der nicht im Himmel ist; hier gäbe es die Frau nicht mehr, dennoch wird ein Zettel aufbewahrt. Das Phantom der Liebe? Ist es eventuell auch mit Gott so eine unsichere Sache? Hören wir das leise Echo von einer noch wunden Stelle? Man hängt an Sachen – angeblich unbedeutend, aber an sie sind tiefe Sehnsüchte gebunden. Diesmal verspricht das Lyrische Ich diese Rechnung endgültig wegzuschmeißen. Ob es wirklich daran glaubt? Einiges hängt irgendwie zwischen Keller und Dach, Himmel und Erde, an irgendwelchen Fetzen der Zeit. Wahrscheinlich mehr als uns selbst bewusst ist. Unser aller Verletzlichkeit offenbart sich so in ganz alltäglichen Dingen. Unerwartet berührend sind diese leicht daherkommenden Verse.

Ich sollte sicher auch die Wiederholung hervorheben. Ein bekanntes Mittel, das hier nicht die Melodie oder den Rhythmus stützt, eher die psychologische Tiefe des Konflikts. Ein ständiger Widerspruch beim Lyrischen Ich wird auf diese Weise gekennzeichnet. Typisches Beispiel wäre das Gedicht auf S. 9. Dabei muss ich erneut schmunzeln. Obwohl ich die einleuchtenden Zeilen einer Lyrikerin nicht vergesse: „Das Gedicht ist kein Ort, an dem wir uns treffen“ (Lydia Daher), erkenne ich mich darin, vermutlich tun es andere auch. Dieses Schwanken zwischen Hin und Her, diese Unentschlossenheit. Nur ein, zwei Strophen vom Anfang und Ende:

Ich könnte eigentlich zufrieden sein also / eigentlich könnte ich zufrieden sein / wenn ich nicht jetzt zufrieden bin wann / ... / ... also wenn man nicht krankhaft krank ist / dann ist man an meiner Stelle zufrieden dann / ist man deutlich mehr als zufrieden ... /.

Selbstironie plus Schmerz – trifft ins Schwarze. Man kann sich kaum zurückhalten, möchte schreien: Ermächtige Dich endlich zum Glücklichsein! Worauf noch warten?

***

Insgesamt hat der Gedichtband eine sanfte Färbung. Vieles klingt in etwa so: Wenn jetzt nicht, wann dann? Es ist Herbst. Es gibt kaum noch was Feuriges oder Aufsässiges mehr. Die Dinge gehen leise ihren Weg. Hin und wieder bewegen sich Sterne anmutig. Das Lyrische Ich ist nur Beobachter. Der Montag (S. 8) bleibt weiterhin der liebste Monat des Jahres / der Dienstag der zweitliebste ... / der September ist da schon ein Abstieg / überhaupt ist der Herbst eine Sauerei. Da hilft es auch nicht, die Müdigkeit in Säcke zu stecken (S. 18). Sie können niemanden täuschen – alles ist brauchbar, wach und gesund ...

Es gibt so Tage / da bist du ein Nichts ... (S. 19). Und die Rettung ist vielleicht auf S. 20: Du jagst de[n] Hund vor d[ie] Tür, denn das bist Du ja selbst. Die Katze gönnt sich wohl noch ihren Schönheitsschlaf. Aber Du: ich geb es auf und / mische mich unauffällig unter die Vögel. Alles dabei – etwas Traurigkeit, etwas Kraft, quasi zwei Finger und dazwischen der Humor. Hunde, Katzen, Vögel ... Der Mensch ist selber Natur, dazu die Natur des Menschen. So entstehen absurd-schöne Bilder, die sicher im Gedächtnis haften bleiben. Ein Hund mischt sich unbemerkt unter die Vögel, wahrscheinlich weil so die eigene Einsamkeit leichter zu ertragen, erbellen, ersingen wäre. Dann heult er gleich in unserem Kopfkino.

Der Autor lenkt den Blick geschickt, der Band ist stimmig. Trotzdem, es bleibt dabei: Insgesamt ist auf nichts Verlass. Die Stimmung ist oft melancholisch und/oder surreal. Im längsten Gedicht des Bandes tauchen große Namen der Kunstgeschichte auf. Vergangenheit – mit ihrem Glanz und ihrer „Verwesung“: Paris, Picasso, Jim Morrison, Baudelaire, Rilke, Chaplin, Poe. Absurdität und Traumwelt, Surreales und Ungreifbares, alles mysteriös und nicht ergründet – wie geheime Waffen. Wenigstens das FBI bleibt allen auf den Fersen ... bis hin zu Julian Assange heute. Man kann einiges entdecken, nur nicht wie eine Pellkartoffel zu schälen ist. Wo liegt das Geheimnis? Die Frage bleibt im Raum. Wie immer weiß der Autor (angeblich) keine Antwort darauf.

Aber nicht ohne eine falsche Spur. Kein Gott oder doch einer? Das lange Gedicht auf S. 28 hat ein Motto vom amerikanischen Dichter Philip Lamantia. Es geht um Anbetung. Man fragt sich gleich: Wen oder was? Ist es am Ende eine Göttin vielleicht? Die Kunst? Die unermüdliche Suche des Menschen ... nach etwas? Nach der Wahrheit? Sich selbst? Welches ist die wahre Spur? Auf jeden Fall hat das Lyrische Ich in einem anderen Gedicht einen langsamen Ferrari: das Wort Ferrari sagen manche ist Kunst ... / Kunst ist mein langsamer Ferrari ... / (S. 6). Die Allusion macht das ihre, man fühlt sich irgendwie bestätigt.

Die Sprache einiger Gedichte ist ganz reduziert, es bleiben nur wenige Worte auf der Seite. Der Autor bewegt sich sicherlich so zu der Vollkommenheit, ein leeres Blatt zu hinterlassen. Das uralte Dilemma. Seit Sokrates bis heute bewegt es uns noch. Mascha Kaléko hat es großartig fast verschwiegen und, zum Glück, doch beschrieben.

Ich möchte hier meine Lieblinge verraten, zwei „Schnee-Gedichte“ auf S. 22 und 23. Das ist für mich Poesie pur! Berührt, geht ohne Umwege ins Herz. Naja, ich revidiere es. Es ist kein Umweg – erst erzeugt es im Hirn Licht, dann zieht das Herz mit. Ich zitiere nicht mehr. Das Schönste entdeckt man selber. Mir tat diese lyrische Begegnung gut und ich bleibe weiterhin optimistisch.

 

Jörg Neugebauer: Ach so ich bin ja. Black Ink Lyrik 2022, 36 S., geheftet, 8 EUR, ISBN 978-3-930654-47-5

 

Tania Rupel Tera (* 1969 in Blagoevgrad) studierte bulgarische Philologie und Journalistik in Sofia und lebt als Malerin und Schriftstellerin seit 2005 in München. Seit 2013 ist sie Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband Bayern und in der Autoren Galerie 1, seit 2017 zudem Mitglied der Kulturplattform „jourfixe-muenchen e.V.“. Zuletzt erschienen von Tania Rupel Tera der Lyrik- und Bildband Der Schrei der Tropfen (2016), die Erzählungen und Impressionen Plötzlich Hunde (2018) sowie die Lyrik- und Jazz Audio-CD Wundebar (2019). 2020 errang die Künstlerin den 1. Platz beim Landschreiber-Wettbewerb „Sprache und Flucht“ in der Sparte Lyrik sowie den Europeans in art-Award beim Münchner Europa-Mai 2020 in der Kategorie „Künstlerinnen und Künstler für Europa“.

Jörg Neugebauer (* 1949 in Braunschweig) studierte in München und Tübingen Philosophie, Germanistik und Geschichte. Bis über die Jahrtausendwende hinein wirkte er in Ulm als Gymnasiallehrer. 1992 wechselte er ins bayerische Neu-Ulm, wo er seither wohnt. Seit 2003 veröffentlicht Neugebauer regelmäßig Lyrik und Kurzprosa in der Münchner Literaturzeitschrift außer.dem, darüber hinaus ist er Mitglied im Münchner Literaturbüro. Wiederholt nahm er am Wettbewerb zum Haidhauser Werkstattpreis teil und erreichte dort jeweils die Finalrunde. 2007 wurde er beim Irseer Pegasus mit dem Preis der Jury bedacht, 2012 belegte er Platz 3 beim Lyrikpreis München und erhielt eine Auszeichnung durch den Bibliotheksverband Oberbayern. Zuletzt sind seine Gedichtbände Kühe spielen Minigolf sowie ach so ich bin ja erschienen (beide 2022).