Deutsch-jüdische Gespräche (8): Thomas Lang und Boris Schumatsky

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(c) Thomas Lang

Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Das achte Gespräch führte Thomas Lang mit dem Schriftsteller und Publizisten Boris Schumatsky in Berlin.

*

Thomas Lang: Lieber Boris, ich möchte damit beginnen, dass du als deutschsprachiger Schriftsteller und Publizist ein Mann bist, durch den die großen Konfliktlinien der Gegenwart gewissermaßen hindurchlaufen, weil du auch russisch, auch jüdisch bist. Wie erlebst du im Moment den Kulturbetrieb?

Boris Schumatsky: Ich erlebe im Moment eine Explosion des Anitsemitismus, die ich so nie erwartet hätte. Erst jetzt wird mir jedoch klar, dass dieser Ausbruch nicht erst nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 geschah. Wenn ich heute zurückblicke, waren es die Debatte um Achille Mbembe und die sogenannte Initiative Weltoffenheit vor vier Jahren, als ich merkte, dass etwas aus den Fugen geraten war. Aber damals sah ich nur die Erinnerung an den Holocaust bedroht und mein erster Impuls war, diese Erinnerung zu retten. Ich Ich habe ein Projekt ins Leben gerufen, literarische Lesungen an den Stolpersteinen (gemeint ist die Reihe Stolperworte; die Red.).

Doch bald kam die Debatte um die antisemitischen Karikaturen auf der Documenta 15, ich hörte Stimmen von Autorinnen, Kulturfunktionären oder Kuratorinnen, die den Hass auf Israel rechtfertigten, Verschwörungsglauben als politische Position legitimierten oder Antisemitismus für harmlos erklärten. Erst da wurde mir klar, dass es um mehr ging als um die Abschaffung der deutschen Erinnerung. Heute überrascht mich der weltweite Ausbruch von Antisemitismus ebenso wenig wie die fast ausbleibende Solidarität unmittelbar nach dem Pogrom in Israel. Noch bevor die ersten Bomben auf Gaza fielen, war der antisemitische Wahnsinn längst da. 

Lang: Du bringst einen Kunstskandal und einen Krieg in enge Verbindung …

Schumatsky: Weil die Verharmlosung des Antisemitismus ihn immer begleitet hat. Antisemitismus ist ja vor allem eine Verschwörungserzählung. Ich habe erst vor kurzem wirklich verstanden, warum Adorno ihn als „Gerücht über die Juden“ definiert hat. Ich hatte ja gedacht, er sei einfach eine Form von Rassismus. Erst als ich hörte, wie all diese guten, humanistischen, linken Personen in Kultur und Wissenschaft mörderische Lügen beschönigten, erkannte ich endlich die Gefahr.

Vielleicht noch ein Gedanke zu Kultur und Medien, warum sie so wichtig sind. In fast allen Städten der Welt, auch in meiner Stadt, marschieren Menschen durch die Straßen und rufen dazu auf, alle Juden in Israel zu töten oder zu vertreiben. Sie verprügeln Juden, die sich nicht verstecken, und im Vergleich dazu erscheint die Rolle der Autorinnen, die das alles als Solidarität mit den Opfern des israelischen Kolonialismus abtun, eher unbedeutend. Für mich sind sie aber schlimmer als die offenen Gewalttäter auf der Straße. Denn die meisten westlichen Gesellschaften haben recht gut gelernt, Gewalt oder Gewaltaufrufe zu unterbinden. Aber nur, wenn sie die Gefahr erkennen können. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die zum Beispiel Terror als legitimes Mittel des Befreiungskampfes, Vergewaltigung als Widerstand akzeptieren, die sagen, Mörder sind eigentlich keine Mörder, weil auf der angeblich richtigen Seite der Geschichte stehen, sorgen dafür, dass die Gesellschaft die Gefahr nicht erkennt und die fanatische Gewalt sich ausbreiten kann. 

Lang: Ja, das sind Leute, die wahrscheinlich von sich selbst sagen würden, dass sie die Mitte der Gesellschaft bilden. Leute, die nicht irgendwo am Rand stehen, die explizit ein anderes System oder einen gewaltsamen Umsturz wollen. Es sind Leute, die sich als die Norm empfinden. Es sind solche Menschen, die hier relativieren, oder?

Schumatsky: Ja, sie relativieren oder geben vor, für die Meinungsfreiheit zu kämpfen. Aber in Wirklichkeit kämpfen viele gegen das, was sie den Westen nennen. In der postkolonialen Blase empfinden viele diesen politischen Westen als das Weltböse. Das fügt sich dann nahtlos in das antisemitische Narrativ ein, in dem das Böse auch sehr leicht zu verorten ist. Also „Der Westen“, „Das Kapital“, „Die Ostküste“, „Die Weltregierung“ – das geht alles nahtlos ineinander über. Dieses Narrativ, diese Sprache ist wieder in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Aber es ist noch nicht alles verloren, ich glaube, Widerspruch ist noch nicht zwecklos.

Lang: Könnte man das so zuspitzen, dass die Erzählung von der „jüdischen Weltverschwörung“ eigentlich die gleiche ist wie die vom „tiefen Staat“? Salopp gesagt: Es gäbe irgendwelche Leute, die ihre Finger überall haben, und wir wüssten es bloß nicht … Das ist eigentlich das Gleiche, oder?

Schumatsky: Genau, und das ist eine alte Geschichte, die die Juden seit Jahrtausenden begleitet und die heute wieder Menschen auf die Straße treibt. Ich frage mich, warum all die Schriftstellerinnen und Lyriker, die das heute schönreden, nicht merken, was das für eine miese Literatur ist.

Lang: Ich habe eine arte-Dokumentation gesehen über die Geschichte des Antisemitismus. Sie begann mit der Römerzeit. Im Alexandria gab es damals ein antijüdisches Pogrom. In Europa herrschte der Doku zufolge sehr lange „Ruhe“. Das Jüdische oder das Bild vom „Juden“ ist demzufolge im 15. Jahrhundert konstruiert worden. Auf einmal hieß es, Juden müssten sich besonders kleiden oder besondere Kennzeichen tragen. Das war nicht so weit weg vom Judenstern der Nazizeit. Und in der Bildsprache kann man sehr gut nachweisen, dass die jüdische Hakennase als Topos damals entstanden ist.

Vielleicht liegt der Unterschied zu Phänomenen wie Q-Anon darin, dass man das Jüdische als Feindbild schon vor langer Zeit personifiziert hat, es an Menschen festgemacht und diese Menschen dann in der Gesellschaft kenntlich gemacht hat. Die Kenntlichmachung braucht es, weil man die jüdischen Leute eben nicht unterscheiden konnte in der Gesellschaft. Sie waren bis dahin einfach ein Teil der Gesellschaft. Das beschreibt den Prozess einer Diskriminierung. Die antijüdischen Klischees haben sich über die Jahrhunderte in der Gesellschaft festgesetzt. Beim „tiefen Staat“ ist das vielleicht anders. Man kann diese Verschwörungstheorie noch nicht an jemandem festmachen, den man auf der Straße erkennt oder zu erkennen glaubt. Aber das könnte theoretisch noch geschehen. 

Schumatsky: Dann sind sicher wieder die Juden dran. Im Grunde ist es immer dieselbe Erzählung. Es gibt sie vielleicht schon in vorchristlicher Zeit, sie nimmt immer wieder neue Formen an, und es wäre sicher sehr spannend, das literaturgeschichtlich aufzuarbeiten. Im Mittelalter hieß es, die Juden brauchten das Blut christlicher Babys für ihre bösen jüdischen Rituale. Dann hat diese Geschichte mehrere Wandlungen durchgemacht und ist heute in dem Slogan „Kindermörder Israel“ verpackt. Früher wurde sie von christlichen Mönchen oder religiösen Fanatikern erzählt, heute ist es zum Beispiel der New Yorker, wo man lesen kann, dass Israel nur nach Gründen sucht, um Kinder zu töten (Anm. der Red.: gemeint ist der Artikel „In the Shadow of the Holocaust“ im New Yorker Online vom 9.12.2023).

Lang: Am Anfang unseres Gesprächs hast du gesagt, dass es gerade keine antisemitische Explosion gibt, sondern all das bereits vorhanden war. Darüber habe ich nachgedacht. Einerseits gebe ich dir Recht. Ich war vor einigen Jahren in München bei einer Demo, wahrscheinlich infolge der antisemitischen Anschläge in Chemnitz. Damals haben die Jüdinnen und Juden in München bereits gesagt: Kommt mit uns zum Demonstrieren. Wir waren damals wenige Hundert Leute auf dem Münchener Platz der Opfer des Nationalsozialismus. Und die Angst vor der Gleichgültigkeit der „Mehrheitsgesellschaft“ war bereits genauso so da wie heute.

Aber seit dem 7. Oktober 2023 habe ich sehr viel nachgedacht über die Situation der Synagoge in der Münchner Innenstadt. In der Nähe steht schon immer ein Polizeiauto. Jahrelang bin ich daran vorbeigegangen und habe nicht mal drüber nachgedacht. Oder ich dachte: Vielleicht wäre es gar nicht nötig. Nach diesem 7. Oktober gehe ich an der Stelle vorbei und denke: Was für ein Skandal ist es, dass dieses Polizeiauto da stehen muss! Das geht vielleicht in die Richtung dessen, was du gesagt hast: dass man bestimmte Dinge zu leicht integriert. Man denkt: ok, das Auto steht da, aber es passiert eh nichts. Jetzt denken wir anders. Der Antisemitismus ist immer da gewesen und mit ihm die Gefahr der Gewalt gegen jüdische Einrichtungen und Menschen. 

Schumatsky: Vieles ist heute sichtbar geworden. Du hast aber einmal gesagt, dass du selbst Angst oder Berührungsängste mit dem Thema hast. Woher komm diese Angst?

Lang: Ich bin in gewisser Weise „zweite Generation“. Meine Eltern waren beide Jahrgang 1930. Sie sind im Nationalsozialismus sozialisiert worden. Sie waren sicher keine bewussten Antisemiten. Aber es gab es in ihrem Denken antisemitische Klischees. Deshalb ist ein Teil meiner Angst, dass ich etwas Antisemitismus sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen habe. Natürlich möchte ich kein Antisemit sein und Ich glaube, ich bin es auch nicht. Antisemitismus widerspricht meinem Gefühl und meinem Weltbild. Der Argwohn gegen mich selbst bleibt dennoch vorhanden. Vor Jahren habe ich einen Film angeschaut, eine Verfilmung von Dickens‘ Oliver Twist, glaube ich. Es geht darin um eine Räuberbande in England, arme Jungen, die stehlen müssen, um durchzukommen. Es gibt einen Hehler, der die „Ware“ entgegennimmt. Dieser Mann hat ein bestimmtes Äußeres, ein bestimmtes Verhalten. Als ich den Film sah, dachte ich, dass er genau dem Bild von einem raffgierigen, eigentlich bösen, irgendwie schmierigen Juden entspricht, ohne dass das im Film benannt worden wäre. Ich erinnere mich aber nicht, dass er als Jude „identifiziert“ worden wäre. Darüber habe ich mich sehr erschreckt. Ich merkte: ich habe so ein Bild in mir und ich kann es abrufen. So etwas beschäftigt mich sehr ...

Schumatsky: ... und ich finde es wichtig, dass du das erzählst. Denn dein Erschrecken und deine Reflexion sind das Gegenteil von dem, was ein moderner Antisemit mit solchen Klischees macht. Er oder sie würde nämlich dieses alte, mit der Muttermilch eingesogene Bild neu verpacken, in eine modische Erzählung einbauen und so weiter verbreiten. Dein raffgieriger Jude wird heute zum Beispiel als „Siedlerkolonialist“ beschrieben.

Lang: Lass uns dann nochmal auf das Thema der Angst zurückkommen. Im Dezember 2023 war ich in Berlin und bin die Brunnenstraße raufgegangen. Da gibt es eine jüdische Schule. Ich habe zuerst nicht verstanden, warum, als ich sah, dass der ganze Gehweg dort gesperrt ist. Es gab da schon immer ein Wachhäuschen. Auf einmal wird mir klar: Das ist keine Baustelle, sondern es ist eine zusätzliche Absperrung errichten worden, um die Sicherheit zu erhöhen, es unwahrscheinlicher zu machen, dass man Mollis in den Innenraum werfen kann oder was auch immer man sich vorstellen muss. Jetzt bist du ja Berliner, und ich möchte dich fragen, wie es im Alltag für dich ist – bewegst du dich anders in der Stadt als früher? Beobachtest du eine Anspannung oder atmosphärische Veränderung? In den Medien heißt es ja, dass zum Beispiel Leute, die gern Kippa tragen oder den Davidsstern, sich das nicht mehr trauen, weil sie sonst angefeindet werden. Spürst du so eine energetische Veränderung?

Schumatsky: Hier in Mitte, wo ich wohne, ist alles weiß und touristisch und ziemlich safe. Mein Atelier liegt aber 15 Fahrradminuten von hier entfernt in einem problematischen Teil des Wedding. Dort fühle ich mich als Russe, als deutscher Autor natürlich genauso wenig bedroht wie zuvor. Aber als Jude bin ich nach dem 7. Oktober nur noch undercover in solchen Gegenden unterwegs. Wenn ich zu meinem türkischen Friseur gehe oder beim Pakistani ein Butter Chicken kaufe, habe ich das Gefühl, als würde ich mich verstecken. Als könnte ich auch auffliegen…

Lang: Es geht Freiheit verloren …

Schumatsky: Ja.

Lang: Wenn dir das nicht zu persönlich wird, würde ich da gern nochmal noch weiter fragen. Wir kennen uns schon lange und eigentlich hat das Jüdische zwischen uns nie eine Rolle gespielt. Ganz selten sind wir mal darauf gekommen. Jetzt reden wir schon aufgrund des Weltgeschehens mehr darüber. Wie geht es dir aber persönlich, fühlst du dich „jüdischer“, mehr an diese Identität gebunden, mehr im Kontakt damit, als du es sonst warst? Du bist ja meinem Eindruck nach kein superreligiöser Mensch, der diesen Glauben praktiziert. Bist du da jetzt mehr in der Auseinandersetzung?

Schumatsky: Es gibt ja im Jüdischen sehr viele Diskussionen, wer ein richtiger Jude ist und wer nicht. Deswegen ist es für mich auch ein kleines Minenfeld.

Lang: Das ist die Paternalismus-Debatte. Du bist ein „Vaterjude“.

Schumatsky: Genau. Dass Identitäten auch von außen auf einen zukommen können, das ist gar nicht so selten und das ist auch legitim. Deine Frage klang ein bisschen so, als würde ich sozusagen unter Druck oder als Widerstand diese Identität entwickeln. –

Lang: So meinte ich es nicht, sondern eher: Was macht es emotional mit dir, nimmst du dich anders wahr?

Schumatsky: Emotional bin ich vor allem angewidert. Ich habe persönlich keine besondere Angst vor antisemitischer Gewalt, zumindest jetzt noch nicht. Aber Personen, die sie rechtfertigen oder schönreden, ekeln mich an. Etwa die feministischen NGOs oder Wissenschaftlerinnen, die den israelischen Frauen die Stimme verbieten, wenn diese von der sexuellen Gewalt der „Freiheitskämpfer“ der Hamas erzählen wollen.

Lang: Ich verstehe.

Schumatsky: Das macht mich leider noch nicht zu einem guten Juden. Andererseits: Ist es nicht auch jüdisch, ein Unbehagen mit der eigenen Identität zu empfinden? Zu betonen, wie kompliziert alles sei? Ich bin sogar froh, dass ich eine sehr komplizierte Familiengeschichte habe, in die ich immer tiefer eintauchen kann und die ich schreibend schon ein Stück weit öffentlich gemacht habe. Ich glaube immer noch, dass jeder Mensch mehrere Identitäten haben kann, und heute zieht mich das Jüdische immer mehr an. Aber zu sagen: Ich bin Jude, ist für mich ein politisches Statement. Ein Zeichen des Widerstands. 

Lang: Vielleicht können wir noch mal überlegen, was wir in dieser Situation eigentlich positiv tun können. Angesichts der Kriege, angesichts der aufgeheizten Stimmung, die wir gerade in der Gesellschaft haben – was kann man tun, um zum Beispiel die Freiheit zu bewahren?

Schumatsky: Nicht vergessen. Diese Gesellschaft hier hat drei Generationen lang hart gekämpft für ihre Erinnerung, die heute wieder unter Beschuss steht. Ich meine die Erinnerung an die Shoah, die Jahrzehnte gebraucht hat, um sich durchzusetzen. Erinnerung ist kein Geschenk, sie ist das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung. Ich glaube, dass Deutschland, zunächst mit Hilfe von außen, dann aber auch aus eigener Kraft, sich eine – bei aller Kritik – würdige Erinnerung geschaffen hat.

Ich kenne das auch anders. Mein Geburtsland hat es nie geschafft, eine wahrhaftige Erinnerung an seine Vergangenheit gegen die politischen Lügen durchzusetzen, und es ist kein Wunder, dass diese Vergangenheit Russland jetzt eingeholt hat. Auch bei uns gibt es heute die Tendenz, die deutsche Erinnerung zu demontieren. Besonders perfide finde ich übrigens, dass zur Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus andere historische Verbrechen ins Feld geführt werden, allen voran die Verbrechen der Kolonialzeit. Wo Erinnerung stirbt, gibt es keine Freiheit.

Es gibt auch keine Freiheit, wenn politische Lügen herrschen. Ich glaube, dass Gewalt ohne ein schützendes Netz von Lügengeschichten nicht möglich ist. Seien es die Geschichten von den bösen Juden, vom teuflischen Israel oder von der edlen Befreiung vom Kolonialismus. Ist das wirklich Freiheit, wenn eure Freiheitskämpfer Folterer, Mörder und Vergewaltiger sind? 

Lang: Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich nicht entmutigen zu lassen. Man kann auch kleine Dinge tun und, um deine Worte zu benutzen, sich bemühen, die Wahrheit zu sagen. Es ist dabei unglaublich einfach geworden zu lügen. In den sozialen Medien sitzen alle quasi hinterm Busch und trompeten raus was sie gerade wollen. Ich bin eigentlich ein Vertreter der Anonymität im Internet. Es Kontexte, in denen es extrem wichtig ist, dass man anonym unterwegs sein kann. Aber hier frage ich mich tatsächlich manchmal, ob man sich nicht mit einem Facebook- oder Instagram-Account wie auf der Straße im Zweifelsfall ausweisen müssen sollte.

Schumatsky: Übrigens, lange bevor Algorithmen Menschen, die an den gleichen Mist glauben, in ihren Blasen einkapselten, haben wir das selbst sehr erfolgreich getan. Alle politischen Sekten unserer Zeit gab es schon vor dem Internet. Wir sind selber schuld, nicht die bösen Algorithmen. Ja, die Schuld. Das ist kein neues Thema für uns beide. Vielleicht erinnerst du dich, wir haben schon mal darüber gesprochen und du hast, glaube ich, gesagt, dass du als Deutscher Schuld empfindest, oder?

Lang: Damals habe ich dir eine sehr persönliche Antwort gegeben und ich will versuchen, sie auch wieder zu geben. Wie reden jetzt über den Holocaust, über die Shoah. Für mich als Deutschen geht es dabei sofort um die Frage der Schuld. Persönlich empfinde ich keine Schuld deshalb. Ich habe niemanden umgebracht, ich bin einfach danach geboren. Aber ich empfinde eine große Verantwortung. Ich empfinde Entsetzen und Trauer – und Wut manchmal auch – über das, was geschehen ist. Und darüber, dass man es nicht rückgängig machen kann, denn das möchte man ja am liebsten tun oder man möchte, dass es nicht geschehen wäre. Aber es ist geschehen. Die Verantwortung dafür empfinde ich. Es ist nicht wieder gutzumachen. Ich sehe es als eine große Aufgabe an, sich vor diesem Hintergrund bewusst zu machen, was in einem Staat oder in einer Bevölkerung passieren kann. Wir sollten das wissen und wir müssen aufpassen, dass es nicht wieder geschieht. Wir müssen uns bewusst machen, dass es für einen Genozid niemals eine Rechtfertigung gibt. In keinem gesellschaftlichen Zusammenhang darf es so weit kommen, dass Gruppen ausgegrenzt werden, dass Menschen ermordet werden, dass ganze ethnisch oder sonstwie definierte Einheiten vernichtet werden sollen. Das ist eine Verantwortung.

Schumatsky: Als jemand, der freiwillig nach Deutschland gekommen ist und Deutsch schreibt, glaube ich nicht, dass Schuld genetisch vererbt wird, etwa in einer Familie. Aber ich spüre so etwas wie Schuld, die ich auf mich geladen habe, als ich Teil dieser Gesellschaft wurde und in die deutsche Sprache eingewandert bin. Genauer gesagt: Ich spüre noch die Spuren der alten Verbrechen in der Sprache, im Alltag, in den Familien, wie die noch sichtbaren Einschusslöcher aus der Kriegszeit in den Berliner Häusern der 1990er-Jahre. Für mich ist es wichtig, in einer Gesellschaft zu leben, die zumindest versucht hat und immer wieder versucht, sich der alten Schuld und der neuen Verantwortung dafür zu stellen. Trotz der immer wiederkehrenden Versuche, sich im Namen irgendwelcher Ismen – während des ersten Historikerstreits war es der deutsche Patriotismus, heute ist es der Postkolonialismus - von einer German Guilt zu befreien.

Lang: Ich finde den Aspekt der Sprache auch sehr wichtig. Das Deutsche hat sich sehr verändert seit 1945. Viele Einflüsse kommen da hinein. Ist das nun eine postfaschistische Sprache oder vielleicht doch nicht so postfaschistisch? Es sind viele Diskussionen geführt worden – darf man noch Gedichte schreiben nach Auschwitz usw. Ich denke auch an Paul Celan. Darüber kannst du viel besser sprechen, weil du dich mit ihm sehr beschäftigst. Ihm wurde, glaube ich, auch vorgeworfen, dass er die deutsche Sprache überhaupt benutze.

Bis heute hat eine Entwicklung stattgefunden, die manche Leute als eine Art unbotmäßige Lockerung empfinden. Das alte, rigide grammatische Korsett des Deutschen wackelt. Heute benutzen die Leute den Genitiv falsch oder gar nicht, so was war früher ein Skandal. Das zum Beispiel finde ich spannend. Manchmal bin ich irritiert, weil ich in der Schule noch gelernt habe, es ordentlich zu machen. Es gibt auch viele Einflüsse von anderen Sprachgruppen, die das Deutsche verändern. Ich denke, dieses Strikte, das zum Teil im deutschen, vielleicht auch spezifisch preußischen militaristischen Charakter dieser Kultur lag und das zumindest über die Jahre von 1871 bis 1945 in gewisser Weise auch Staatsdoktrin war, sich manifest verändert hat. Nietzsche hat sich über den Kasernenton beklagt, der ins Deutsche Einzug gehalten hätte. Dieser Ton verschwindet wieder und das ist ein Fortschritt.

Schumatsky: Ich muss an Paul Celan denken, der ganz bewusst versucht hat, die Sprache seiner Dichtung sozusagen parallel zu einem Deutsch zu schreiben, das die Mörder seiner Mutter gesprochen haben. Für mich hat er die deutsche Sprache über den Abgrund dessen gerettet, was er die „todbringende Rede“ nannte. Er war da übrigens nicht allein, ich denke an die Lingua Tertii Imperii von Victor Klemperer, der sich als Philologe mit dem NS-Jargon auseinandergesetzt hat, und in der nächsten Generation waren es Hunderte und Tausende. Das ist eine einzigartige Entwicklung in der deutschen Sprache, die viel zu wenig wahrgenommen oder gewürdigt wird. Das fällt mir besonders aus der Perspektive meiner Muttersprache auf, die seit Stalin und dem Gulag immer mehr verroht.

Lang: Wenn man versucht, es in einem Satz zusammenzufassen, beschreibst und kritisierst du eine unglaubliche Verrohung deiner Muttersprache im öffentlichen Diskurs, also in politischen Statements oder Talkshows oder auf YouTube. Dass ins heutige Russisch sehr viele Schimpfwörter eindringen und die Art, mit dieser Sprache umzugehen, sehr grob geworden ist. Man könnte sie auch anders handhaben.

Schumatsky: Das kann mit jeder Sprache geschehen, auch wieder mit dem Deutschen. Die todbringende Sprache ist ein Spiegel, aber auch ein Vehikel der Gewalt. Es ist die Sprache selbst, die Lüge und Gewalt bis in den letzten Winkel der Gesellschaft trägt. Es kann überall so weit kommen wie heute in Russland, wo der Präsident wie ein Schurke spricht und die Grundschullehrerin tödliche Lügen unterrichtet.

Lang: Das wird das Schlusswort. Danke dir!

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