Deutsch-jüdische Gespräche (7): Dagmar Leupold und Slata Roschal

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(c) Dagmar Leupold

Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutschjüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Das siebte Gespräch führten die Autorinnen Slata Roschal und Dagmar Leupold. 

*

DAGMAR LEUPOLD: Liebe Slata, ich freue mich, dass wir zueinander gefunden haben, dass ich mit dir dieses Gespräch führen darf. Aber ich habe mich in Bezug auf unser Gespräch gefragt – weil in deutsch-jüdischen Gesprächen ist klar, ich stelle die Fragen als Deutsche und Du antwortest als Jüdin –, ob Dir diese Kopplung überhaupt zusagt, weil sie tatsächlich suggeriert, dass man aufgrund bestimmter Merkmale, lebensgeschichtlicher Merkmale, die man gar nicht selber verantwortet, auch ein gewisses Expertentum in Bezug auf bestimmte Fragestellungen hat. Beziehungsweise, das mag emotional auch zutreffen, eine größere Betroffenheit empfindet.

Ich spreche Dich in allererster Linie als Schriftstellerin an. Meine Quelle sind Deine Bücher, und ich glaube, dass unser Gespräch deswegen auch einen hohen poetologischen Anteil haben sollte, um zu erfahren, wie Du mit den eben genannten Fragen schreibend umgehst.

SLATA ROSCHAL: Ja, das war auch meine erste Reaktion. Ich habe gedacht, wer hier denn deutsch ist, wer jüdisch, schließt das eine denn das andere aus. Und mein Reflex ist dann immer auf Distanz zu gehen und abzuwehren und zu sagen ‒ nein, nein, ich bin ja gar nichts davon, warum sollte ich nicht deutsch sein usw.

LEUPOLD: Und wie? Wie hast du das empfunden? Du hast ja selbst ja auch Initiativen organisiert bzw. nimmst an ihnen teil. Auf welchem Blatt steht das für Dich? Und vielleicht schilderst Du auch kurz die Initiative. Ich habe jetzt den Namen unterschlagen.

ROSCHAL: Genau, es fing letzten Herbst an, als Israel überfallen wurde und erstmal eine Schockstarre herrschte, auch unter den mir bekannten Autoren. Und dann haben Alexander [Estis] und ich auf Facebook geschrieben, wir haben überlegt, was man denn machen könnte. Eigentlich müsste das Gleiche passieren wie damals, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, alle müssten ihre Flaggen hissen, es müssten Lesungen stattfinden, überall, jedes Literaturhaus müsste etwas posten usw. und dann war irgendwie gar nichts. Wir haben gewartet und gewartet und wurden immer frustrierter und trauriger.

Dann gab es einen offenen Brief von Björn Kuhligk und Marcus Roloff in der FAZ, den wir unterschrieben. Und wir beschlossen, Benefizlesungen zu organisieren, bei denen es auf irgendeine Weise um die Solidarität mit Israel geht. Wobei wir „Israel“ nicht nur als Staat wahrnehmen, sondern Solidarität mit dieser Situation meinen, mit jüdischen Mitbürgern und allen Menschen, die jetzt wieder antisemitische Vorfälle erleben oder direkt davon betroffen sind usw.

LEUPOLD: Also wäre es richtig zu sagen, das hast Du als Bürgerin gemacht und als jemand, der sich zivilgesellschaftlich engagiert?

ROSCHAL: Eher beides, es sollten schon vorrangig literarische Abende sein, an denen jüngere Autoren beteiligt sind. Also vor allem solche, die jüdisch sind auf irgendeine Weise und ein wichtiger Teil der deutschen Literatur heute, also dieses Selbstverständliche daran. Ich glaube, im Deutschen ist es etwas schwierig, überhaupt dieses Wort Jude oder jüdisch, Judentum erzeugt irgendwie so einen komischen Effekt, als wäre es etwas Exotisches.

LEUPOLD: Es ist sehr aufgeladen, das glaube ich. Und es gibt auch eine große Furcht, dass man das Wort benutzt oder falsch benutzt. Und etwas Behutsamkeit ist ja auch gut.

ROSCHAL: Einerseits natürlich ja. Wenn dieses ganze Antisemitische wieder anfängt, jetzt denke ich mittlerweile auch, es ist sehr gut, dass es diese Ehrfurcht gibt. Andererseits ist das nicht etwas rein Historisches, Seltsames usw., sondern Juden leben unter uns und jeder von uns könnte auch Jude sein. Das ist auch eine Frage von Definitionen. 

LEUPOLD: Absolut. Ich glaube, dass Ehrfurcht nicht die richtige Reaktion oder die produktivste Reaktion ist, sondern Respekt. Es gibt eben Merkmale, die ganz offensichtlich stärker zu Diskriminierung führen als andere. Ich kenne Deine anderen Stellungnahmen, in denen Du das ansprichst und auch verweigerst, als Expertin für irgendwas zu gelten und Dich partikularisieren zu lassen: dies frage ich Dich als Mutter, jenes frage ich Dich als Jüdin. Drittes frage ich Dich als jemand, der den Hintergrund in Slawistik hat oder was auch immer. Es ist sicherlich ein Unterschied, ob man selbst eine Initiative ins Leben ruft, wie eben diese Benefizlesung, oder ob man als Gesprächspartner ständig in dieses Koordinatensystem eingezwängt wird.

Ich möchte auf Deinen neuesten Roman Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten zu sprechen kommen: Mir sind die Ähnlichkeiten zwischen diesem Titel und dem des Gedichtbandes Ich schreite en passant und tue deutsch aufgefallen, der noch seiner Veröffentlichung harrt, und ich hoffe sehr, dass es dazu kommt. Es geht um die Verbindung zweier Hauptsätze mit „und“: Ich habe das Gefühl, Du arbeitest Dich in Deinem gesamten Werk ab an der Unvereinbarkeit zeitgleicher und eigentlich sich ausschließender Zustände. Das kommt in diesen Titeln für mich programmatisch zum Ausdruck. Also das fast zersplittert werden in diesen vielen Ansprechmöglichkeiten, was sich auch in der Figur der Maria Nowak im Roman niederschlägt. Ist das eine halbwegs zutreffende Beobachtung, dass man ständig mit heftigen Widersprüchen, Kollisionen befasst ist?

ROSCHAL: Ja, ich denke, das kann gut sein. Dieses jüdische Thema ist, glaube ich, in jedem Buch bei mir wichtig und wird es wahrscheinlich auch bleiben. Wir verzichten auf das Gelobte Land und quasi auch nicht, weil es diesen Wunsch gibt, doch endlich so ein Land zu haben, wo man hingehört, zu einem festen Ort. Davon träumt auch Maria Nowak in diesem Roman. Und gleichzeitig, wenn man dieses Land hat, wird wahrscheinlich nichts Gutes herauskommen dabei, dann wird man wieder anfangen, an Dinge zu glauben wie Zugehörigkeit, Nationalität, Abstammung, Heimat, dann wird es wieder Kriege, neue Ausgrenzungen geben, wieder andere Menschen, die von diesem Amerika träumen oder von Israel usw. Das ist so ein Teufelskreis und die Frage, ob man das aushalten kann, also ohne diese Heimat zu leben vielleicht oder mit dem ständigen Gefühl, Außenseiter zu sein.

Wobei sich verschiedene Probleme vermischen, also diese Maria Nowak kann natürlich nicht sagen ‒ ich bin unglücklich, weil ich von allen ausgeschlossen werde, weil ich jüdisch bin, oder weil ich eine jüdische Großmutter habe. So funktioniert es natürlich nicht, es sind viele ganz unterschiedliche soziale Faktoren in einem Knäuel, sie erzählt auch von einer jüdischen Großmutter, die dann einsam stirbt in einer Klinik.

LEUPOLD: Das ist das sehr ergreifende Schlussbild.

ROSCHAL: Und nach einem Schlaganfall, wo diese Großmutter quasi nichts mehr von der Außenwelt bemerkt, beginnt sie dann auf Jiddisch zu reden, weil sie auf einmal denkt, nur auf Jiddisch wird sie verstanden.

LEUPOLD: Und kannst Du Dir nicht vorstellen, dass Dein Schreiben „jiddisch“ ist, eine Art Kunstsprache?

ROSCHAL: Möglicherweise. Also ich kann natürlich nicht sagen, ich schreibe jiddisch, aber es würde sich sehr schön anfühlen, glaube ich, und beruhigend auch. Aber dann schäme ich mich so ein bisschen dafür und denke, ich kann ja gar kein Jiddisch, und habe ich denn das Recht, überhaupt so etwas in Anspruch zu nehmen. Es gibt doch andere Menschen, die viel mehr ein Recht darauf haben, weil sie nicht nur irgendwelche Großeltern vorweisen können, sondern von allen Seiten, genetisch, jüdisch sind.

LEUPOLD: Ich meinte es gar nicht als Aneignung, da würde ich Dir recht geben, sondern als Stoffwechsel mit dem Vorgegebenen – nicht, dass dabei die natürliche Sprache Jiddisch herauskommt.

ROSCHAL: Auf irgendeine Weise ist es wahrscheinlich schon so eine komische Mischsprache mit diesem Gebrochenen und eigentlich Falschen, von den einzelnen Sprachen aus betrachtet ist es immer fehlerhaft und zusammen ist es trotzdem etwas sehr Schönes.

LEUPOLD: Es gibt eine Beobachtung, die ich in allen Rezensionen oder eben auch im Radio in Anmerkungen zu diesem Roman gelesen habe. Ganz oft fiel das Wort atemlos. Es wird immer verbunden mit Deiner Vorliebe für unvollständige Sätze, die, selbst wenn sie lang sind, oft Ellipsen oder eben Anakoluthe sind, also Sätze, die inkorrekt fortgeführt werden, weil die Anschlüsse nicht funktionieren. Was ich für ein wunderbares formales Mittel halte, die Unschlüssigkeit. Warum muss man eigentlich immer in Richtung vollständiger Satz wollen? Warum muss man Richtung Heimat wollen? Warum soll man in Richtung ich möchte eine Sprache, die mir aus dem Herzen spricht, schreiben. Ja, warum hat nicht das unvollständige, zögerliche, vorläufige Sprechen eine eigene Schönheit und Berechtigung?

ROSCHAL: Genau das denke ich auch, dass gerade dieses Fehlerhafte, Gebrochene das Interessantere ist.

LEUPOLD: Für mich ist das ein großer Reiz bei der Lektüre von Büchern, dass ich nicht dauernd das Gefühl habe, ich bekomme Ergebnisse präsentiert. Sondern ich nehme an einem Prozess teil, an einer Suchbewegung.

ROSCHAL: Ja, wenn die Sprache schon zu fertig ist, zu glattgeschliffen, dann weiß man  schon, in welche Richtung sie geht. Dann wird es sehr zielstrebig und ideologisch wahrscheinlich auch.

LEUPOLD: Genau. Ich würde ganz gerne mal eine Passage vorlesen, die auch Andreas Platthaus in der FAZ zitiert. Da geht es auch um das, was du schon gestreift hast. Diese Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Sicherheit und Rettung:

Es muss ein Land geben, wo man mich annimmt, bedingungslos, unabhängig von der Höhe des monatlichen Gehaltes oder der Fähigkeit, witzig und charmant zu sein, mit braunen oder blauen oder geschorenen Haaren, wo man mich schätzt für meine deprimierte Art und meine Gestik und alles auf so natürliche und ehrliche Weise, dass ich daran zu glauben und fremde Leute auf der Straße anzulächeln beginne. Dann erscheint Christus auf einer Wolke, verteilt Glitzer und alle singen Halleluja. Also gut. 

Platthaus hat resümiert, dass hier die Zuwanderin spricht. Ich glaube, es sprechen noch viel mehr als die Zuwanderin. Ich finde die Fusion der religiösen Bilder hier ganz großartig. Es wird ja das Christentum aufgerufen. Und der Holocaust, in den geschorenen Haaren. Da ist so viel drin, aber mit sehr, sehr feinem Strich. Ich hatte aber auch das Gefühl, dass es um die grundsätzliche Bitte geht, das Individuum in seiner Unvorhersehbarkeit und in seinen Ausdruckswelten zu akzeptieren.

ROSCHAL: Ja, das hat auch etwas mit dem Muttersein zu tun.

LEUPOLD: Nicht dauernd von etwas auf etwas zu schließen, oder nicht? Muttersein, darum geht es ganz, ganz stark in dem Roman.

ROSCHAL: Ja, da ist auch immer Angst dabei, und das ist, denke ich, ein roter Faden, so eine Angst, dass man jederzeit ausgewiesen werden kann, in ein Lager kommen oder vernichtet werden kann, weil sich ein Gesetz ändert oder ein neues eingeführt wird. Das muss nicht unbedingt immer etwas mit dem Jüdischen zu tun haben, aber beim Jüdischen ist es natürlich besonders präsent.

Zum Beispiel im Oktober war mein erster Gedanke, warum ich angefangen habe, meine Ersparnisse in Festgeld anzulegen, ein großer Fehler, ich hätte alles entweder als Bargeld behalten sollen zuhause, dann könnte ich das sofort mitnehmen und fliehen, oder ich hätte Gold kaufen müssen. Und dann habe ich mich mit einer anderen Autorin darüber unterhalten, die auch jüdisch ist, und sie meinte, es war genauso ihr erster Gedanke, Goldmünzen hätte man kaufen müssen. Danach habe ich zwei Freunden darüber erzählt, und sie meinten beide auch, dass sie die ganze Zeit darüber nachdenken, es muss immer Bargeld geben Zuhause, wir müssen immer bereit sein zu irgendwas.

LEUPOLD: Um bei der Passage zu bleiben, dem „Witzig-und-charmant-Sein“, die blauen oder braunen Haare. Das formuliert eine universale Forderung, selbst in all seinen Verwerfungen, Schrägheiten, Unvorhersehbarkeiten, so wie man ist, akzeptiert zu werden.

ROSCHAL: Ja, und ob man immer für etwas stehen muss, automatisch als Vertreter von etwas. Irgendeine Art von Verantwortung ist immer dabei, denke ich, das kann man nicht umgehen, andererseits muss man nicht alles in diese fertigen Muster reinpacken. Die Erzählerin in diesem Buch ist auch keine Heldin.

LEUPOLD: Nein, aber sie ist jemand, die sich mit einem massiven Assimilationsdruck auseinandersetzt. Also wie bestimmte Mütter wollen, dass sie sich verhält. Es gibt permanent Anfragen an ihre Person sich in irgendeiner Hinsicht anzupassen, entweder dem Deutschsein oder eben dem Muttersein, wie es sich vorgestellt wird. Die Werbung spielt da auch eine große Rolle. Du tauchst auch sehr tief in einen weiblichen Alltag ein, mit sehr vielen Aufrufen von Produkten. Die können einen ja wahrhaftig tyrannisieren. Dieser Assimilationsdruck ist etwas ganz Wesentliches, mit dem sich Maria in ihrer Hotelklausur, in ihrem Hotelexil auseinandersetzen muss. Und das tut sie, finde ich, auf sehr, sehr witzige Weise; es gibt sehr viel Komisches. Sie hat eine wunderbar spitze Zunge, ist überhaupt nicht wehrlos.

ROSCHAL: Das ist kein Opfernarrativ.

LEUPOLD: Es ist absolut kein Opfernarrativ. Dennoch: wie wesentlich sind Überlegungen für Dich in Bezug auf die Aufsplitterung des weiblichen Körpers in seine Funktionen? Es geht zentral auch um Geburtsvorgänge, um Narben, um die Spuren, die Geburten hinterlassen. Sinnfällig das Matroschkabild, das Du einführst. Ja, man steckt immer schon in etwas, und irgendwie setze ich mich dann aus all diesem Hineingesteckten zusammen.

ROSCHAL: Genau. So ein bisschen diese Auflösung, je mehr Teile es gibt, aus denen man besteht, desto höher die Gefahr, dass eines verlorengeht oder kaputtgeht. Und dann geht man ganz verloren. Sie sagt ja auch, ich lege Horkruxe an wie Voldemort...

LEUPOLD: Da muss ich erst mal wieder Harry Potter aufschlagen …

ROSCHAL: Ich habe Harry Potter sehr spät gelesen, deshalb taucht das Buch oft auf bei mir gerade. Genau deshalb mag ich es zum Beispiel so sehr, da gibt es nicht dieses Gut und Böse, alles ist vermischt. Man denkt ab und zu, das ist das Gute, also Liebe, Freundschaft, und es gibt Hass, Gewalt, das ist das Böse, aber das stimmt gar nicht. Wenn man Voldemort erschlägt, dann stirbt halt Harry Potter und umgekehrt auch, alles ist miteinander verwandt und die Grenzen sind eigentlich sehr vage.

LEUPOLD: Das ist mir völlig entgangen. Vielleicht ist es auch wirklich ein generationeller Unterschied. Ich habe mich sehr gequält beim Vorlesen, aber das ist ein interessanter Aspekt. Warum hast du Deine Protagonistin Übersetzerin sein lassen?

ROSCHAL: Bei den 153 Formen des Nichtseins kann man sagen, dass jedes Kapitel eine Form des Nichtseins ist, wo die Erzählerin Erwartungen nicht entspricht, enttäuscht ist von sich selbst und nicht weiß, wer sie denn überhaupt ist. Und hier war die Frage, welchen Beruf die Erzählerin  haben sollte, die meisten Übersetzer sind Frauen, das heißt, es gibt wenig Geld dafür und es ist sozial nicht wirklich angesehen. Und die Erzählerin nimmt das so wahr, dass sie an zweiter Stelle steht, unsichtbar sein soll, um ihre Arbeit gut zu machen, und da wird dieses Unsichtbarsein oder Nichtsein nochmal gesteigert.

LEUPOLD: Eine Form von Ghostwriting.

ROSCHAL: Ja, genau. Und dann versucht sie doch irgendwie in Kleinigkeiten das zu machen, was ihr gefällt, Sätze neu zu schreiben …

LEUPOLD: Ja, ich fand es eine sehr interessante Wahl. Besonders interessant ist, was sie übersetzt. Nämlich Briefe von deutschen Auswanderern, die sämtlich an Namensvetterinnen, nämlich an Mary, Marie, Mari gerichtet sind. Nichts ist zufällig in so einem Artefakt wie ein Roman und in so gestalteter Sprache. Für mich ist Maria dann die Chiffre auch der weiblichen Conditio.

ROSCHAL: Ja, es ist eine bayerische, bäuerliche Marie, die Mutter Gottes Maria oder die jüdische Maria usw. Und die Briefschreiber verändern ihren Namen und ihren eigenen, sind zuerst alle Josef, dann werden sie zu Joe, und die Sprachen vermischen sich immer mehr, das Bayerische, das Deutsche mit dem Amerikanischen, es tauchen Wörter auf wie Fahrwell, ich habe die Briefe auch kaum überarbeitet, solche Stellen sind wirklich originell.

LEUPOLD: Sie sind, finde ich, auch extrem tragfähig. Sie weisen auf etwas sehr Wichtiges hin.

ROSCHAL: Sie sind ästhetisch sehr ansprechend und sie werden auch nicht kommentiert, es gibt hier keinen historischen Exkurs dazu, kein Nachwort eines Historikers, der uns nochmal auf die Geschichte der deutschen Auswanderer im Detail hinweist usw. Es gibt die Briefe und die stehen halt da und sprechen für sich. Texte umgeben uns und bestimmen, wer wir sind, was wir kaufen, für wen wir uns ausgeben, etwa welche Werbung wir uns anschauen, welche Werbung uns wieder vorgeschlagen wird.

LEUPOLD: Also würde man von Maria ausgehen und auch natürlich von den unterschiedlichen Protagonistinnen in 153 Formen des Nichtseins, die mit Bestimmungen, wer wir zu sein haben, versuchen umzugehen. Aber es gibt durchaus auch eine subversive Kraft in allen Deinen Büchern. In einer hybriden Sprache, wie die der Briefe, in denen aus Josef Joe wird und aus der bayerischen Marie Mary. In dieser hybriden Fusion bist Du die Regisseurin, da gibt es keine Zuschreibung, alles verdankt sich einer auch poetologisch bedeutsamen Selbstbehauptung. Das finde ich sehr bemerkenswert an der Wortwahl, an der Namenswahl.

ROSCHAL: Maria, ja, überspitzt gesagt, ist sie eine Jüdin, die den christlichen Retter gebiert und im Bayernland lebt, zurückkommt nach Mecklenburg ins 21. Jahrhundert und sich Kleider und Schuhe bei Zalando bestellt.

LEUPOLD: Ja, genau. Es ist eine Fusion auf allen Ebenen, geografisch, sozial, religiös. Und das meine ich mit subversiv, dass sich da einfach etwas zusammenschließt, wie wenn unter Wasser etwas legiert zu ganz neuen Verbindungen, die, sagen wir mal, von der Chemie nicht vorgesehen sind.

ROSCHAL: Spielerei klingt vielleicht etwas abwertend, als ob das nicht genügen würde, aber es ist auch vielleicht nicht postmodern oder so, weil es trotzdem irgendwie so eine Sehnsucht gibt.

LEUPOLD: Ja, ich habe es überhaupt nicht als Spielerei gelesen. Ich habe es als raffiniert gelesen, aber nicht als Spielerei. Vielmehr als etwas Substanzielles und als eine Auseinandersetzung mit all diesen Zumutungen, Zuschreibungen, mit all diesen Additionslisten, die die Summe ziehen, dessen was man angeblich ist. So habe ich es gelesen.

ROSCHAL: Vielleicht besteht das Prinzip ein wenig darin, dass man nicht alles negiert, sondern indem man alles vermischt und sich dabei auf Abstand hält, es entsteht etwas Neues, aber man hat halt keinen festen Namen dafür.

LEUPOLD: Stimmt. Aber es ist autonom. Also es ist vielleicht nicht dauerhaft, aber es ist ab dem Moment der Erschaffung ein autonomes Gebilde, und aus meiner Sicht und zu meiner Lesefreude auch durchaus wehrhaft.

ROSCHAL: Ja, es ist lustig manchmal, also das hoffe ich.

LEUPOLD: Ich habe mich oft schiefgelacht!

ROSCHAL: Brad Pitt töpfert, Gil Ofarim trägt Ketten und ich binde mir eine Flinte um den Hals.

LEUPOLD: Ja, alles amalgamiert. Ein bisschen wie mit Plankton. Das schwimmt ja alles in unserer Gegenwartsbrühe herum. Und wird schön aufgefischt.

ROSCHAL: Sie liest am Anfang in der Jüdischen Allgemeinen von einer Frau, die Marathon gelaufen ist, schwanger im siebten Monat, und fragt sich, ob sie denn das Ganze wiederholen muss.

LEUPOLD: Das ist außerordentlich lustig zu lesen. Vielleicht zum Schluss noch mal eine Frage zur Interpunktion. Die ist sehr auffällig entweder durch Fehlen oder durch Eigenwilligkeit. Sehr viele Gedankenstriche. Ich habe es gelesen als eine Variante dessen, was im Film Fade Out genannt wird. Also die Dinge offenlassen, nichts erzwingen, nichts als beschlussfähig zu beschreiben.

ROSCHAL: Ja, klar, man kann alles endlos weiterführen und wieder relativieren und es gibt immer ein „aber“ und „trotzdem“ und „gleichzeitig“, usw. Diese eine Stelle zum Beispiel mit Amerika, wo sie sagt, dass es dieses eine Land geben sollte, „Es wird was kommen, sage ich dir. Wir müssen bereit sein und dann sofort, sofort nach ‒“, dann ist die Frage, wohin man denn man fliehen soll. Würde man hier nur ein Wort dazuschreiben, wäre alles klar, dann würde das ganze Buch eine andere Aussage bekommen.

Und so steigert sie sich rein, aber es gibt nur diese Leerstelle. Möglicherweise Australien, sagt sie dann, weil über Australien redet ja keiner, nur wenn wir Weißwein kaufen bei Penny usw. Es gibt heute halt nicht mehr Amerika, wir haben keinen unentdeckten Kontinent mehr.

LEUPOLD: Nein, absolut nicht. Ich meine, es würde nicht nur die Aussage des Romans, es würde auch die Figur sehr verändern.

ROSCHAL: Und dann ist das letzte Amerika sowas wie der Tod, wahrscheinlich der einzige Ort heute, über den wir nicht nachdenken, die letzte Reise. Das läuft es ein wenig parallel mit dieser Geschichte der einen jüdischen sterbenden Großmutter, das ist auch ein Thema, wie wir Lebende mit Toten verbunden sind die ganze Zeit.

LEUPOLD: Und auch die junge Generation, die Kindergeneration, es wird viel über Laura und Eliah, die beiden Kinder der Hauptfigur, gesprochen und nachgedacht – über Mitgift.

ROSCHAL: Wörter wie Erinnerung, Erinnerungskultur, kollektive Erinnerung sind heute auch sehr aufgeladen, es ist schwierig, sie zu benutzen.

LEUPOLD: Sie sind nicht mehr leitungsfähig.

ROSCHAL: Es ist nicht nur Erzählen als Erinnerung, das ist eher prosaisch, sondern der Gedanke, dass wir alle von Toten umgeben sind, von allen Seiten, die quasi unsichtbar um uns herumstehen die ganze Zeit, dass ist eigentlich gar kein Vakuum gibt, sondern alles schon belegt ist mit diesen Erwartungen der Toten und unseren Erwartungen den Toten gegenüber.

LEUPOLD: Also ich habe die Beziehung auch als Stoffwechsel gelesen. Das Metabolische geht in beide Richtungen, in die der Großmutter, aber auch in die der Kinder. Bitte noch einen Satz zur Wahl des Ortes. Alles findet ja statt in einem Hotel, das ist ja der klassische transitäre Raum. Es ist nicht wirklich ein Wohnraum, es ist ein kontingenter, beliebiger Raum. Entspricht das auf der Handlungsebene der fehlenden Interpunktion auf der formalen?

ROSCHAL: Ja, klar. Sie hat kein richtiges Zuhause, sie hat zwar ein eigenes Haus in Mecklenburg, auf dem Land mit einem großen Grundstück und zwei Kindern und alles sehr klassisch. Aber sie nimmt es nicht als ihr eigenes Haus wahr, es bereitet eher Stress und Sorgen, sie muss sich um den Garten kümmern, ständig Kinder hinbringen, abholen, und es ist auch keine gute Lage, um aktiv berufstätig zu sein, neue Kontakte zu knüpfen im Literaturbetrieb usw. Sie ist sehr isoliert in diesem Dorf in Mecklenburg und dann kommt sie in ein Hotel in Berlin.

Dieses Hotel hat sie für ein paar Tage bezahlt, muss dann wieder raus, das Zimmer ist auch ziemlich schäbig, mit dreckigem Teppichboden, komischerweise fühlt sie sich da fast besser als bei sich zuhause, wo sie theoretisch alles gestalten könnte nach ihren Wünschen. Und dann hat sie ein Übersetzungsseminar am LCB, wo sie sich auch fehl am Platz fühlt, alle tun ernst und wichtig und glauben an das, was hier sind, nur sie sitzt da und glaubt nicht an das, was sie vorgibt zu sein, hat zwar eine Namensplakette und einen Blazer, aber das reicht nicht aus. Der Wannsee ist für sie ein Ort im Nirgendwo und kommt ihr vor wie ein Synonym für Verdammnis.

LEUPOLD: Ja, ich glaube, das Thema ist auch Unfassbarkeit. Von Orten, von Menschen, von Zugehörigkeit. Eines fand ich noch sehr lustig in Bezug auf Namenswahl. Das mag vielleicht auch gar nicht von dir so beabsichtigt gewesen sein, aber ich lese immer so etwas immer mit, ich suche gewissermaßen die blinden Passagiere in den Worten. Der Name von Marias Ehemann lautet Gernot. Da stecken „gern“ und „Not“ drin, je nachdem, welche Silbe man weglässt. Das ist für mich die Chiffre für eine konstitutive Ambivalenz.

ROSCHAL: Ja, Gernot ist ein sehr schöner Name, finde ich, aber auch schwer, da steckt irgendwie eine Art von Verbundenheit dahinter.

LEUPOLD: Ja, es ist auch ein bisschen heraldisch, glaube ich. Also es ist nicht ganz von dieser Welt.

ROSCHAL: Migranten werden ihre Kinder wahrscheinlich so nicht benennen.

LEUPOLD: Nein, sicherlich nicht. Slata, ich danke Dir sehr für das Gespräch. Und für den guten Roman.