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06.11.2023, 12:16 Uhr
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(C) Peter Czoik

Offener Brief zum Engagement gegen Antisemitismus

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(c) Peter Czoik

„Literaturbetrieb, jetzt!“  - Die Schriftsteller Björn Kuhligk und Marcus Roloff haben in einem offenen Brief zur Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Deutschland und mit Israel sowie zum Engagement für die allerorts von antisemitischen Übergriffen bedrohten jüdischen Menschen aufgerufen. Bislang, so Roloff und Kuhligk, verharre der Literaturbetrieb „in einem an Bräsigkeit nicht zu überbietenden Schweigen. […] Der Literaturbetrieb könnte machen, was er auch sonst macht: Solidaritätsbekundungen und Solidaritätslesungen. Das alles wäre nicht viel und doch wäre es eine öffentliche Haltung, die der einen oder dem anderen Halt gäbe, und die den jüdischen Autorinnen und Autoren deutlich machen würde: Ihr seid nicht allein, wir sind an eurer Seite. Stattdessen wird geschwiegen, ein Schweigen, das dumpfer und lauter nicht sein könnte.“ Mehr als 1350 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter auch zahlreiche Autorinnen und Autoren in Bayern, sind dem Aufruf gefolgt ( Offener Brief mit den Namen der Unterzeichneten). Die Liste ist inzwischen geschlossen, hat aber ein großes, mediales Echo hervorgerufen. Die Redaktion des Literaturportals hat einige Fragen formuliert, die die beiden Autoren uns wie folgt beantwortet haben. Wir bedanken uns herzlich dafür.

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Lieber Marcus, lieber Björn, was war der Auslöser für euren offenen Brief?

Kuhligk / Roloff: Wir haben uns gewundert, dass nach dem Angriff der terroristischen Hamas auf Israel nahezu keinerlei Solidaritätsbekundungen aus dem Literaturbetrieb kamen, also von Literaturhäusern, Literaturinstitutionen, Literaturfestivals, den Verlagen, den Buchhandlungen. Und das Schweigen wurde lauter und dröhnender. Das wollten wir durchbrechen. Außerdem war es uns wichtig, den in Deutschland, Österreich und der Schweiz lebenden jüdischen Autorinnen und Autoren in diesem offenen Brief deutlich zu machen: Ihr seid nicht allein, wir sind an Eurer Seite.

Schweigen ist vieldeutig. Was sind denn eurer Ansicht nach mögliche Gründe für die bisherige Stille des Literaturbetriebs?

Sicherlich ist auch Unsicherheit dabei und auch die Angst davor, sich auf die falsche Seite zu stellen. Schweigen kann allerdings auch eine Macht herstellen, die Jüdinnen und Juden wiederum Angst macht, weil das Schweigen nichts, absolut gar nichts, gegen das, was ist, setzt. Schweigen und Nicht-Reagieren ist – zumindest nach außen – Haltungslosigkeit. Und wenn so gut wie alle schweigen, könnte es auch sein, diese Frage stellen wir in dem offenen Brief, dass der Antisemitismus im Literaturbetrieb so weit verankert ist, dass das Schweigen beabsichtigt ist?

Ist Schweigen nicht auch Resignation gegenüber den immer komplexer werdenden Vorgängen und Ursachen von Eskalation, vor allen Dingen im Umgang mit Fake News und mit einem Krieg der konkurrierenden Bilder? Oder anders: Ist das eigene Gewissen noch eine Instanz, der wir vertrauen können?

Es geht hier weder um Fake News noch darum, wie in einem Konflikt mit Bildmaterial umgegangen wird. Wir haben die Situation, dass der demokratische Staat Israel von der terroristischen Hamas angegriffen wurde. Menschen sind bestialisch ermordet, Frauen sind vergewaltigt, Kinder und Säuglinge sind getötet und Menschen sind geköpft worden. Darüber hinaus wurden 240 Menschen als Geiseln genommen. Sie alle wurden zu Opfern, weil sie jüdische Israelis sind oder waren. Wir verstehen nicht, wie sich hier die Frage nach dem eigenen Gewissen stellt.

Worin besteht die Gefahr des Relativierens?

Wer relativiert, verdreht das, was ist, durch Abschwächung und Zurücknahme, und setzt den Terror der Hamas in ein Verhältnis und tut damit so, als könnte man ihn begründen. Damit wird ein bekanntes antisemitisches Stereotyp bedient, nämlich dass die Juden selber schuld am Antisemitismus seien.

Das Mitgefühl, die Solidarität der Menschen mit den Opfern von Gewalt ist im Grunde permanent gefragt. Nun engagiert sich nicht jeder für alles. Ihr habt die Solidaritätsbekundungen für die Ukraine erwähnt. Warum, habt ihr gefragt, wurde der Literaturbetrieb hier so umfassend aktiv und in Bezug auf Israels Leiden nicht? Dieser „Abgleich“ hat einigen Unmut ausgelöst. Und so wichtig die Frage nach den Ursachen dafür auch ist: Ist es nicht kontraproduktiv das eine Engagement gegen das andere „auszuspielen“?      

Es ist ein Hinweis darauf, dass der Literaturbetrieb weiß, wie Solidarität funktioniert. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine war die letzte Situation vor der jetzigen, zu der sich jede und jeder in irgendeiner Form verhielt. Der Literaturbetrieb zeigte Haltung. Es fanden Solidaritätslesungen statt, Bücher erschienen in kurzer Zeit, die sich dieses Themas annahmen und eine klare Position vertraten. Nun fehlt dies alles.

Antisemitismus ist ein zutiefst erschütterndes gesellschaftliches Phänomen. Der Antisemitismus-Verdacht wiederum ein Schlagwort, das weh tut bzw. tat. Inzwischen sieht es leider so aus, dass der Antisemitismus immer „salonfähiger“ wird. Woran liegt das? Ist die Welt, ist Deutschland wieder antisemitischer geworden oder kommt einem das in der aufgeheizten Lage jetzt nur so vor? 

Antisemitismus ist ein Phänomen, das aus der Mitte der Gesellschaft kommt, von rechts wie von links. Der Antisemitismus war nie verschwunden, er zeigt sich jetzt wieder unverstellter. Die Grenze dessen, was gesagt werden kann, ohne auf Widerstand zu stoßen, hat sich in den letzten Jahren immer weiter verschoben. Antisemitismus zielt auf die Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Das zeigt die deutsche Geschichte: Wir leben in einem Land, das sich bemühte, alles jüdische Leben zu vernichten. Daher muss man antisemitische Äußerungen unbedingt ernst nehmen. Es ist wichtig - nicht nur für den Literaturbetrieb - Haltung zu zeigen und diese Haltung in die Öffentlichkeit zu tragen.

Kann man es sich als Künstlerin und Künstler heutzutage noch leisten unpolitisch zu sein?

Als Künstler oder Künstlerin? Natürlich, alles andere wäre nicht gut.

Was könnte im Umgang mit Antisemitismus die besondere Rolle und die Aufgabe von Literatur, von Kunst sein, da wo die Politik scheitert?

Wenn sich Literatur politisch verortet, kann sie mit ihren eigenen Mitteln politische und gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen, beschreiben, sie angreifen. In einem Gedicht kann es zum Beispiel gelingen, das Nicht-Sagbare zur Sprache zu bringen. Das gelingt in der Politik nicht. Aus guten Gründen haben wir allerdings auch kein Gedicht geschrieben, sondern einen offenen Brief formuliert.

Nun haben inzwischen über 1350 Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Deutschland euren Aufruf unterschrieben. Welche Reaktionen auf euer Engagement gab es bislang außerdem?

Über den Offenen Brief wurde überregional in Zeitungen und im Radio in Deutschland, Österreich und der Schweiz berichtet. Uns haben viele Nachrichten von jüdischen Autorinnen und Autoren erreicht, die schrieben, sie würden sich nun weniger allein fühlen. Schon deswegen ist dieser Brief wichtig.

Welche Frage würdet ihr euch abschließend wünschen? (Und wie sähe eine Antwort darauf aus?)

Wir bemühen uns derzeit, eine größere Solidaritätsveranstaltung zu organisieren. Das können alle tun – eigenständig, in der eigenen Stadt, im Landkreis. Findet andere Autoren und Autorinnen und organisiert Lesungen und Veranstaltungen. Sucht eine Öffentlichkeit, zeigt Haltung und bleibt stehen: gegen Antisemitismus, für Israel.

Vielen Dank für eure Antworten!

Verfasst von: Redaktion

Externe Links:

Björn Kuhligk

Marcus Roloff