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17.08.2023, 18:12 Uhr
Beate Tröger
Text & Debatte

Laudatio auf Nico Bleutge zur Verleihung des Jean-Paul-Preises 2023

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Nico Bleutge © Christian P. Schmieder

In diesem Jahr wurde der Schriftsteller Nico Bleutge mit dem Jean-Paul-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Bleutge wuchs in Pfaffenhofen an der Ilm auf. Er studierte von 1993 bis 1998 Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen, heute lebt er in Berlin. Nico Bleutge wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Erich Fried-Preis (2012), dem Alfred-Kerr-Preis (2016) und dem Kranichsteiner Literaturpreis (2017). Unter den deutschsprachigen Dichterinnen und Dichtern der Gegenwart sei er eine souveräne, gänzlich solitäre Stimme, so die Jury. Nicht nur als Kritiker und Essayist, auch in seinen eigenen Gedichten sei er in einem ständigen Gespräch mit Dichterinnen und Dichtern verschiedener Sprachen und Zeiten.

Der Jean-Paul-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre, in diesem Jahr zum 21. Mal, verliehen. Der Freistaat würdigt damit das literarische Gesamtwerk einer deutschsprachigen Schriftstellerin bzw. eines deutschsprachigen Schriftstellers. Die Laudatio zum Preis hielt die Literaturkritikerin, Moderatorin und Herausgeberin Beate Tröger, die wir mit freundlicher Genehmigung hier abdrucken.

*

Begrüßung

(1) Im Möglichkeitsgelände des Gedichts

Jean-Paul-Stube (c) Rollwenzelei

Gedichte führen aus dem Alltag und dem Begrifflichen in Gebiete, die wir zu kennen scheinen, die uns aber nicht selten neu erscheinen, fremd werden. Was ein Gedicht jenseits formaler Aspekte ist oder sein kann, welchen Möglichkeitsraum es eröffnet, dafür liefert das folgende Zitat eine Definition:

Anschauung, Erinnerung und Gedanke schießen zu einem Moment hoher Intensität zusammen, in dem etwas noch Unbekanntes aufscheint – eine Erkenntnis, die über die Möglichkeiten, wie sie in den Wissenschaften zu finden sind, hinausgeht. Was genau das Unbekannte ist, eine Verbindung, die plötzlich neu entsteht, oder ein Muster, pendelt sich in jedem Gedicht neu aus. Zweifellos hat es damit zu tun, daß die gewohnten Kategorien des Denkens und Wahrnehmens außer Kraft gesetzt werden, ja, daß schon Trennungen wie jene in Anschauung und Verstand oder Empfindung und Vernunft fraglich werden. Die Sensibilität eines Gedankens, das Spüren historischer Schichtungen, die Reflexion der Gegenwart, ein Wort, das plötzlich in der Landschaft steht, Gerüche, die von Ängsten umstellt sind, oder die Erfahrung, daß ein Gefühl ganz und gar von Denken durchsträhnt sein kann – all das ist im Gedicht möglich.[1]

Diese Definition, meine Damen und Herren, ist dem Vorwort zu dem Band Drei Fliegen. Über Gedichte entnommen, den der heute mit dem Jean Paul-Preis zu würdigende Nico Bleutge im Jahr 2020 veröffentlicht hat. Er, der Lyriker, Essayist und Kritiker, als der er seit rund zwei Jahrzehnten, seit seinem ersten Gedichtband klare konturen, gleichermaßen eindrucksvoll dichtet, schreibt und spricht, notiert diese Sätze, die den Band mit Essays und Kritiken einleiten, mit Blick auf die amerikanische Dichterin Rae Armantrout. Er tut es in dem Wissen, dass sie auch auf Gedichte anderer Autorinnen und Autoren zutreffen, über die er in Drei Fliegen nachdenkt.

Sie treffen auch auf seine eigenen zu. Und so leihe ich mir dieses Zitat von Nico Bleutge, der in den Drei Fliegen als hellwacher versierter Kenner der abendländischen europäischen Dichtungstradition in Erscheinung tritt, um über seine Gedichte zu sprechen – und damit über Gebilde, in denen im vermeintlich allfällig bekannten Medium der Sprache „etwas noch Unbekanntes aufscheint“. Es gilt, dieses Aufscheinen des Unbekannten einzukreisen, und es dabei nicht seines Zaubers zu berauben. Denn die Gedichte Nico Bleutges führen mit sich ein besonderes Vermögen zur Be- und Verzauberung der Welt in einer Weise, die immer wieder aufs Neue erstaunt.

Ich kehre zum eben Zitierten zurück: „Anschauung“, also das sinnlich Wahrgenommene; „Erinnerung“, also das Vergangene, das sich mit der gegenwärtigen Wahrnehmung verbindet, durch sie aktualisiert wird; und „Gedanke“, also das, was in der Verbindung aus dem gegenwärtig Wahrgenommenen und dem, was erinnert ist, zum Begriff, zur Idee verbunden und sprachlich gefasst wird – sie „schießen zu einem Moment hoher Intensität zusammen“.

Tatsächlich hilft diese Beschreibung dabei, der Poetologie Nico Bleutges auf die Spur zu kommen: Stellen wir uns vor, die drei Begriffe „Anschauung“, „Erinnerung“ und „Gedanke“ markierten in jedem seiner Gedichte die Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks. Im gearbeiteten Zustand könnten wir uns jedes als perfekt balancierte, dreieckige Gebilde denken, die ein Gelände definieren, auf dem man sich zwischen diesen Eckpunkten bewegt, sich mal mehr der Anschauung, mal mehr der Erinnerung, mal dem Gedanken anzunähern versuchen könnte. Doch die Ecken sind für Leserinnen und Leser nicht sichtbar beschriftet. Indem man sich also lesend durch das Dreieck bewegt, bleibt zu fragen, welchem der Eckpunkte man sich gerade annähert, wohin das Bewusstsein gelenkt wird, sich hinführen lässt. Die Gedichte bleiben in gewisser Weise immer auch ein wenig verdecktes gelände, wie der dritte Gedichtband von Nico Bleutge nach dem Debüt klare konturen und dem zweiten Band fallstreifen heißt. Sie wahren etwas von ihrem Geheimnis.

Im Übrigen stelle ich mir das Dreieck eines Bleutgeschen Gedichts unbedingt mit Bleistift geschrieben vor. Auf dessen Spitze hält es der Dichter balanciert. Es ist so fein austariert, dass es in keine Richtung kippt. Er selbst könnte dessen Eckpunkte am besten beschriften. Aber muss es ein Bleistift sein? Bleutges Gedichte, so werden Sie einwenden, entstehen doch sicherlich an Computern, Bleistifte sind für Hinterwäldler und Hängengebliebene. Nun, das mag so sein, aber das Entrückte und Entrückende dieser Gedichte passt in meiner Vorstellung, wie diese Gedichte entstehen, am besten zu einem Bleistift, dessen graue Mine sich in der Schreib- und Denkbewegung unter sanftem Druck mit dem Papier verbindet und die Buchstaben hervorbringt.

Nico Bleutge, so denke ich, braucht Ruhe, braucht Raum, damit Möglichkeitsräume entstehen. In einem Gasthaus wie der Rollwenzelei, in der Jean Paul so gern schrieb, kann man ihn sich wahrlich nicht vorstellen. Bleutge bevorzugt die Klause, womöglich sogar manchmal einen Elfenbeinturm. Dazu passt eben der Bleistift. Man könnte diese Vermutung, verzeihen Sie den Kalauer, weiter erhärten durch die vielen Schattierungen von Grau, die Töne und Schiefer, den Sand und den Stein, die das lyrische Werk Nico Bleutges motivisch durchziehen.

Mit dem Bleistift im Blick noch einmal zum Eingangszitat: Darin fällt das Wort „Verwandlung“, das den erstaunlichen Prozess der Weltaneignung, das Zusammenspiel von Anschauung, Erinnerung und Gedanke in Sprache beschreibt, der auch in Nico Bleutges Dichterwerkstatt vonstattengeht. Es sind einzelne Dinge in ihrer „stummen Vielwissenheit“, wie Heimito von Doderer das so treffend genannt hat. Es sind oft auch Wörter, an die sich die Aufmerksamkeit heftet; Wörter, die man einer Erinnerung oder einer Person zuordnet. Und wer Nico Bleutges Dichtung kennt, wird vielleicht eine folgende Behauptung nicht mehr ganz so kühn finden. Sie lautet: Ich hätte das Zitat zu Rae Armantrout vielleicht auch in anonymisierter Form diesem Dichter zuordnen können, aufgrund eines einzigen Wortes im folgenden Satz: „[...] die Erfahrung, daß ein Gefühl ganz und gar von Denken durchsträhnt sein kann – all das ist im Gedicht möglich.“[2]

Es ist dieses Partizip „durchsträhnt“, das mir ein Bleutge’sches Wort zu sein scheint, ein Partizip, mit dem ich mir das Gefühl wie einen dunklen Pferdeschweif vorstelle, der von der Helligkeit der Gedanken, ja eben „durchsträhnt“ ist. Der genaue Beobachter kleidet seine Überlegungen zur Verbindung von Gefühl und Gedanke in ein lebendiges und plastisches Bild.

Nico Bleutge ist nicht nur ein genauer Denker, Beobachter, Erinnerungskünstler, er ist eben auch ein brillanter Stilist, dessen Umgang mit Worten, seine Wortfindungslust beeindrucken und zu Substantiven wie „Schleichwaren“, „Nachtkürze“, „Hundeton“ führen, zu Verben wie „drippeln“, „pollern“, zum „einrasten der pupillen“ oder zu Adjektiven wie „quappig“, „hasig“, oder eben zu Partizipien wie „durchsträhnt“ oder „entleuchtet“.

 

(2) Die Welt umpflügen

Bild von Chiemsee2016 auf Pixabay

Wenn ich das bildhafte Wort „durchsträhnt“ noch einen Moment im Blick behalte, dann nicht nur deshalb, weil auch eines der Gedichte aus klare konturen „strähnen“ heißt, diesmal als Substantiv gebraucht, sondern auch deshalb, weil Bleutges visuelle Kraft, wie sie in diesem Wort zum Ausdruck kommt, eine so außerordentliche ist. Man sieht, das ist immer wieder auch in Rezensionen hervorgehoben worden, mit diesen, durch diese, häufig stark visuell orientierten Gedichte schärfer und nuancierter. Dann wiederum scheinen sich die klaren Konturen aufzulösen bzw. werden überlagert, eben durchsträhnt von anderen Sinneswahrnehmungen, gleiten vom Zustand der Anschauung in die Erinnerung, in den Traum.

Hören wir ein frühes Gedicht aus klare konturen, das vom Visuellen ausgeht und eine Bewegung von der Anschauung in die Erinnerung durch Gedanken vollführt:

dann löste sich die hitze langsam
vom balkon und der blick wurde leichter

von den häusern abgelenkt. die weißen
parabolantennen an den fenstern

fingen schon die ersten lichter an
zu glühen blau und grün verkapselt.

als die augen zwischen den reklametafeln
streunen wollten war es eine rote

plastiktüte in der luft weit oben leuchtend
glitt sie vorbei und gab dem blick nach

und nach halt bis er weich und ruhig
hinter den lidern saß[3]

Haben Sie mitverfolgt, wie hier der Blick des Sprechers von den Häusern zu den Parabolantennen gleitet? Wie er die aufflackernden künstlichen Lichter wahrzunehmen beginnt, sich dann eine rote Plastiktüte ins Sichtfeld schiebt, mit der man sich aber – als überlagern sich bereits Anschauung und Erinnerung – vielleicht an William Carlos Williams' Gedicht Die rote Schubkarre erinnern kann?[4]

Es ist eine erstaunliche Volte, in der auch für einen Moment changiert, ob nun der Blick der Plastiktüte nachgibt oder, seltsam, aber im Gedicht jederzeit möglich, die Plastiktüte dem Blick.

Immer wieder ist bei Nico Bleutges Gedichten auch zu fragen: Wie kommt die Erinnerung ins Spiel? Wie schiebt sie sich in die Gegenwart. In den zehn Gedichten des titelgebenden Zyklus nachts leuchten die schiffe fächert sich über die Betrachtung vorbeifahrender Schiffe – es handelt sich aus biografischer Sicht um Schiffe, die Nico Bleutge während eines Stipendienaufenthaltes an der Kulturakademie Tarabya vorbeifahren sah, die ihn wiederum an die Rheinschiffe erinnerten, welche er in seiner Kindheit bei Aufenthalten bei den in Mainz lebenden Großeltern sah – ein historisches, literarisches, in seiner von der gegenwärtigen Wahrnehmung stimulierten Bilderflut extrem genaues Assoziationspanorama auf, das von repetierten Motiven und Formulierungen immer wieder in sein Fahrwasser zurückfindet und zugleich immer weiter reicht: wie ein Schiff, das hinausfährt aufs Meer, durch die Zeiten. Die Handelsfahrten vorwiegend von Containerschiffen auf dem Bosporus und dem Rhein verwandeln sich in diesem Zyklus in abenteuerliche Expeditionsfahrten auf den Weltmeeren, in eine kindliche Phantasie, Kapitän zu sein. Man kann an diesem Zyklus gut beobachten, wie sich aus der Gegenwart heraus eine Art Überzeitlichkeit herstellt, wie sich aus der konkreten historischen Erfahrung des Sprechers eine Bewegung ins Typische einer Erfahrung vollzieht.

Und eine weitere Erinnerungsbewegung wird an diesem Zyklus sichtbar: die Bewegung einer Durchdringung, einer Erinnerung und der produktiven Wendung von Lektüren. „Hintergrundstimmen“ nennt der Autor diese Bezugnahmen auf fremdes literarisches Material, das er in seinen Bänden oft auch nachweist. Im virtuosen Umgang mit diesem Material erweist er sich als diskreter Poeta doctus. Diskret, weil das Material in den Gedichten so selbstverständlich die eigenen Verse durchsträhnt. Diskret ist aber auch, wie Bleutge den Lesenden eine Handreichung anbietet, fremde Texte weiterzulesen.

Weil die Erinnerungsbewegung nicht nur im Gedicht gespeichert ist, sondern sich auch auf die Lesenden überträgt, möchte ich anhand von nachts leuchten die schiffe noch auf eine weitere Dimension des Erinnerns zu sprechen kommen. Für mich sind die ersten Verse dieses Zyklus zu einer Art Lesemantra geworden, an das ich mich immer wieder erinnere, wenn ich Gedichte von Nico Bleutge lese:

versenk dich in die bewegung des wassers
mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung
ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen
ein zwischending aus gas und flüssigkeit
das die welt umpflügte.[5]

Ersetzte man spielerisch das Substantiv „Wasser“ durch das Substantiv „Sprache“, gelangt man durch diesen Imperativ in einen Zustand, der von Bleutges Gedichten befördert und verstärkt wird:

versenk dich in die bewegung [der sprache]
mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung
ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen
ein zwischending aus gas und flüssigkeit
das die welt umpflügte.

Nico Bleutges Gedichte pflügen Wahrnehmung, Erinnerung, Denken um. Und wenngleich etwas Heftiges im Verb „pflügen“ mitschwingt, so soll es stehen bleiben. Man muss den Boden eben hin und wieder pflügen, wenn etwas Neues wachsen soll.

 

Den ganzen Text der Laudatio können Sie hier nachlesen.

 

[1] Nico Bleutge: Drei Fliegen. Über Gedichte. München: C. H. Beck 2020, S. 5.
[2] Ebd.
[3] Nico Bleutge: klare konturen. gedichte. München: C. H. Beck 2006, S. 11.
[4] „so viel hängt ab / von einer roten Schubkarre / glänzend von Regenwasser / bei den weißen Hühnern“. (Aus: William Carlos Williams: Gedichte. Ausgewählt von Raoul Schrott, Siegfried Völlger und Michael Krüger. Hanser, München 1999.)
[5] Nico Bleutge: nachts leuchten die schiffe. Gedichte. München: C. H. Beck 2017, S. 7.