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07.08.2023, 18:00 Uhr
Redaktion
Gespräche
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Buchcover © Thelem Verlag

Interview zur Anthologie ukrainischer Literatur des Thelem-Verlags

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Mitherausgeberin Olena Novikova © privat

Der neue Sammelband Durch die Zeiten versammelt Texte ukrainischer Autorinnen und Autoren aus drei Jahrhunderten. Alle haben in ihren Texten ein Bild von Deutschland entworfen. Die Herausgeber Olena Novikova und Ulrich Schweier sowie Verleger Viktor Hoffmann äußern sich dazu im Interview mit dem Literaturportal Bayern. Das Gespräch führte Thomas Lang.

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Frau Novikova, im Thelem Verlag ist dieser Tage (Juli 2023) eine umfangreiche Anthologie mit belletristischen Texten ukrainischer Autorinnen und Autoren erschienen. Was ist das Besondere an dieser Anthologie?

Alles, das ganze Buch ist etwas Besonderes – wenn ich Ihre Frage etwas überschwänglich beantworten darf. Das fängt mit der Idee an, ukrainische Autorinnen und Autoren in einem Band zu versammeln, die in ihrem Leben – gewollt oder ungewollt – mal mit Deutschland in Berührung kamen, und endet bei dem zutiefst beindruckenden Cover und beim Design des Buches. Als wir 2020 mit dem Projekt anfingen, ahnten wir nicht, was für ein vielseitiges und abwechslungsreiches Repertoire die ukrainische Literatur vom 17. bis 21. Jahrhundert für uns und das deutsche Publikum bereithalten würde. Und das, obwohl die von uns ausgewählten Namen nur ein Bruchteil von allen darstellen, die infrage gekommen wären. Was die Anthologie u.a. noch auszeichnet, sind die eigens für diesen Band sorgfältig verfassten Biografien aller Autorinnen und Autoren. In Deutschland weiß man immer noch viel zu wenig über die Geschichte, die Sprache, Literatur und Kultur der Ukraine. Das wäre aber eine wichtige Voraussetzung, um einander besser zu verstehen.

Die Texte umspannen einen Zeitraum von 350 Jahren und wurden im Original – wenn nicht auf Deutsch – so auf Ukrainisch oder Russisch verfasst. Wie muss ich mir da die Übersetzungsarbeit vorstellen?

Die Anthologie hat 438 Seiten. Die meisten von uns aufgenommenen Werke wurden bereits auf Deutsch verfasst. Ukrainische Literatur wurde bis vor kurzem in Deutschland leider nur wenig übersetzt – Ausnahmen sind etwa auch in diesem Band vertretene Autoren wie Jurij Andruchovyč oder Serhij Žadan. Insofern war es für uns Herausgeber sehr spannend, als wir z.B. plötzlich in einer deutschen Zeitschrift, die 1900 in Dresden und Leipzig erschien, den Namen von Lesja Ukrajinka entdeckten, einer sehr berühmten, zum Kanon der ukrainischen Literatur zählenden Autorin. Einige Texte wurden auch für diesen Band erstmals ins Deutsche übersetzt, sodass wir dem deutschen Leser auch Erstveröffentlichungen bieten können. Das gilt etwa für die bekannte moderne Kinder- und Drehbuchautorin Natalija Guzjejeva. Insgesamt haben wir über drei Jahre in deutschen und ukrainischen Bibliotheken recherchiert, Bücher gesammelt und an Neuübersetzungen gearbeitet.

Herr Schweier, Sie habe lange das Institut für Slavistik an der LMU geleitet. Würden sie zustimmen, wenn ich sage, dass die Vermittlung ukrainischer Literatur im deutschen Sprachraum fast noch am Anfang steht? Gab es da ein Versäumnis und wenn ja, woher rührte dieses?

Ich habe das Institut für Slavische Philologie der LMU genau 25 Jahre geleitet. In der Tat steht die Vermittlung der ukrainischer Literatur – gravierender noch: des gesamten Spektrums der ukrainischen Kultur – so gut wie am Anfang. In den Zeiten der Sowjetunion lag es sicher hauptsächlich am deutschen Desinteresse bzw. an der mangelnden Fähigkeit und Bereitschaft, die Ukraine als eine eigenständige Größe und Kultur wahrzunehmen. Neben der Literatur galt das ganz besonders auch für die ukrainische Sprache, die in Deutschland teilweise bis heute als „irgendeine Art von Russisch“ betrachtet wird.

Deshalb ist es besonders wichtig, die Bemühungen der Ukrainer*innen um ihre Sprache und Kultur nach der Unabhängigkeit zu unterstützen und sich auch von den historischen und aktuellen Repressalien Russlands bzw. vieler Russen nicht beirren zu lassen. Die Ukraine hat ein ungeheures kulturelles Potential, das gerade auch mit Publikationen wie unserer weiter bekannt gemacht und verbreitet werden muss. Eine ganz wesentliche Rolle spielt dabei die Aufgabe, die Eigenständigkeit und Spezifik der ukrainischen Kultur (Sprache, Literatur, Musik, Theater etc.) zu betonen und damit der (intuitiven) Verwechslung bzw. Gleichsetzung mit der russischen Kultur vorzubeugen.

Übrigens könnten auch die slavischen Institute der deutschen Universitäten noch mehr tun, um das Ukrainische zu fördern und das Interesse der nicht-ukrainischen Studierenden daran zu erhöhen.

Herr Hoffmann, was reizt Sie als Verleger an so einem Projekt?

Zunächst natürlich der Neuigkeitswert der Sammlung und die Texte selbst: Man ist ja immer auch Leser der eigenen Bücher. Mit ukrainischer Literatur kenne ich mich bedauerlich wenig aus, immerhin ist Lesja Ukrajinka auch in Übersetzung bei uns erschienen, so dass ich nicht ganz unbedarft war, aber es gab hier auch einfach unheimlich viel zu entdecken.

Dann ist es natürlich reizvoll, einem solchen Projekt einige Züge der eigenen Handschrift geben zu dürfen: Wir sind ein mittlerer Verlag und das macht uns beweglich und gibt uns die Möglichkeit auf Anfragen wie jene zu diesem Band individuell zu reagieren. Hier waren von Beginn an die Koordinaten bekannt und auch die Gestaltungsspielräume, aus denen wir ein ansprechendes und ansehnlich ausgestattetes Buch ermöglichen konnten. Wenn das gelingt, dann ist es jedes Mal ein schöner Erfolg und ein stolzes Ergebnis für mich und mein Verlagsteam.

Thelem-Verleger Viktor Hoffmann (l.) und Mitherausgeber Ulrich Schweier © privat

Wie vermitteln Sie es dem interessierten Publikum?

Wir versuchen in engem Kontakt mit unseren Autoren und Herausgebern zu erforschen, welche Vernetzungen und Wege der Rezeption es auf den jeweiligen Feldern gibt und gehen ihnen nach. Man stößt dann meist auf ein viel enger geflochtenes Netz, als man zunächst zu hoffen vermag: Vereine, Institute, interessierte Einzelpersonen und Forscher, da tut sich ein Horizont auf. Nicht selten entdeckt man auch Motive, Bilder und Konfigurationen aus anderen Werken wieder, die einen Vermittlungspunkt für ein potenzielles Publikum darstellen. Natürlich spielt der Hinweis in Zeitungen und vor allem Fachzeitschriften weiterhin eine große Rolle, aber gerade ein jüngeres Publikum muss man für gewöhnlich dort abholen, wo es steht und daher bewerben wir unsere Bände und inbesondere auch diesen Band auch online etwa via Instagram, um zu zeigen, dass hier etwas geschieht, das beachtenswert ist. Sodann sind Lesungen ein wichtiges Instrument und wenn uns mit einigen der enthaltenen Autor*innen hier etwas gelingen würde, dann wäre das hervorragend!

Gibt es Texte in der Anthologie, die Ihnen persönlich besonders am Herzen liegen, oder eine Epoche der ukrainischen Literatur?

Die Ukrajinka-Texte waren mir schon bekannt und die Relektüre macht immer wieder Freude, auch in anderer Übersetzung. Dann bin ich in der Arbeit am Buch immer wieder an den beiden enthaltenen Texten von Ihor Katschurowskyj hängengeblieben, er hat einen so eigenen, entrückten Drive und einen so schreitenden Ton, wie man ihn gerade in der deutschen Lyrik des letzten Jahrhunderts lange suchen muss. Bei Katschurowskyj sprechen drängende Ideen eher aus den Versen als Stilexperimente und das hat seine eigene Spannung für mich.

Frau Novikova, in der Anthologie gibt es außer den Texten eine Reihe von Bildern, die der in München lebende Autor und Künstler Olexandr Milstein angefertigt hat. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und was bedeuten Ihnen diese Bilder?

Diese Bekanntschaft geht in das – aus heutiger Sicht – ruhige Jahr 2015 zurück, als Verena Nolte bei uns am Institut für Slavische Philologie der LMU für Studierende, Lehrende und ein breites Münchner Publikum ihr nach dem Euro-Majdan 2013/14 in der Ukraine sehr wichtiges und zu jener Zeit dringliches Literatur- und Kunstprojekt „Eine Brücke aus Papier – Міст з паперу“ präsentierte. An dieser Veranstaltung nahm Olexandr mit einer Lesung teil. In diesem Rahmen zeigte er auch seine Bilder: Jedes davon war etwas Besonderes. Und als wir die Idee für diese Anthologie hatten, stand für uns außer Frage, dass seine Bilder eine ideale Begleitung dieser Reise durch die Welt der ukrainischen Literatur wären. Wir sind Olexandr für seine Bilder sehr dankbar und freuen uns, sie dem deutschen Leser in diesem Band erstmalig zu präsentieren. Für mich persönlich hat sein Bild An der Schwelle auf der Titelseite hohe Symbolkraft für die Ukraine heute – sowohl was die Darstellung als auch den Titel betrifft.

Was wünschen Sie sich für die Anthologie? Wie werden Sie bei der Vermittlung ukrainischer Literatur an das deutschsprachige Publikum fortfahren?

V. H.: Wir wünschen uns selbstverständlich eine breite Leserschaft und ein angemessenes Interesse für den Band, der ja eine Einladung sein soll, die Ukraine dort zu entdecken, wo schon Verbindungen zu Deutschland vorgezeichnet sind. Vor allem sollen die Texte ihrer Qualität wegen angenommen werden. Mit der kleinen slavischen Bibliothek liegt bei uns schon manches vor, das ein Interesse für den Raum der Ukraine bezeugt.

U. S.: Dass deutsche Leser die Ukraine und die Ukrainer*innen viel besser verstehen und schätzen lernen.

O. N.: Ich wünsche mir sehr, dass das Buch tatsächlich zu einer „Brücke aus Papier – Міст з паперу“ wird und neue Verbindungen entstehen, die dazu beitragen, dass die Ukraine in Deutschland besser verstanden wird. Und der Anthologie selbst wünsche ich viel Erfolg!

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Durch die Zeiten. Ukrainische Schriftsteller und ›ihr‹ Deutschland. Herausgegeben von Olena Novikova und Ulrich Schweier. Thelem 2023, Softcover, 438 S., ISBN: 978-3-95908-295-2, € 29,80