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16.06.2023, 08:59 Uhr
Thomas Lang
Text & Debatte

Betrachtungen zum Krieg gegen die Ukraine

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Buchcover © Suhrkamp

In der im Frühjahr 2023 bei Suhrkamp erschienenen Anthologie Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine berichten siebzehn meist jüngere Autorinnen und Autoren von ihren Erfahrungen mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und versuchen, sich in einer veränderten Welt zu orientieren. Besprechung von Thomas Lang.

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Carl von Clausewitz war ein preußischer General und Militärtheoretiker des 19. Jahrhunderts, der in den napoleonischen Kriegen kämpfte, später in russischen Diensten stand und schließlich im Krieg der Polen um ihre Unabhängigkeit von 1830/31, in dem Preußen Russland unterstützte, das „preußische Observationskorps“ (lt. Wikipedia) zeitweise befehligte. Warum ein Zitat dieses Mannes, dessen Lehren über die Kriegskunst offenbar bis heute Verwendung finden, die vorliegende Anthologie Aus den Nebeln des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine (so der Untertitel) gibt, bleibt vor diesem Hintergrund unverständlich. Doch ein kurzer Blick in die online verfügbaren Informationen zu Clausewitz reicht aus, um die Unverzichtbarkeit einer Auseinandersetzung Europas mit seiner Geschichte auch vor dem Ersten oder gar Zweiten Weltkrieg zu erkennen. Die fast ein halbes Jahrhundert lang festgefrorene Karte des Kontinents, ist erneut in Bewegung geraten, und das geschah nicht von selbst. Russland betreibt unter Putin eine brutale imperiale Politik, die mit dem Überfall auf die gesamte Ukraine vom Februar 2022 nun eine Reaktion der europäischen Mächte erzwingt.

Davon handelt in gewisser Weise das vorliegende Buch. Es ist in zwei Teile unterschieden. Der erste beschäftigt sich mit der „Erfahrung der Destruktion“. Betroffene Ukrainer berichten von ihren Erfahrungen mit der unbekannten Situation des Kriegs, den Schocks und Schrecken eines jäh aufgezwungenen Lebens und Sterbens im Zeichen rücksichtsloser Gewalt. Die Mitherausgeberin des Bandes, Kateryna Mishchenko, führt an erster Stelle für die Absicht und das Vorgehen des russischen Regimes bereits den Begriff des Genozids ein. Anschaulich zählt sie auf, was fortan ihr inneres Leben bestimmt: „Trauer, Tod, Unfreiheit, Verletzung, Hunger, Verlust“. Gleichzeitig bringt sie Hoffnung zum Ausdruck: „Eine Gesellschaft von Menschen [d.i. die ukrainische] kämpft für sich selbst … Die Allgemeingültigkeit von Würde und Menschlichkeit und die entschlossene Selbstorganisation kompensieren oftmals institutionelle Mängel, fehlenden Wohlstand und politische Bildung.“

Das Gefühl, vom Krieg vergiftet zu sein, thematisiert auch Oksana Karpovych, ebenso wie die herrschende Angst und den Wunsch nach einem Seelenzustand vor der Gewalterfahrung: „Ich möchte zu dem Moment zurückkehren, als ich noch keinen Krieg kannte.“ Der schon ältere Volodymyr Rafeyenko, aus Donezk kommend und russischsprachig, schreibt über die Erfahrungen mit der zynischerweise „Russischer Frühling“ genannten Invasion Russlands in die Ostukraine von 2014. Er verließ damals seine Heimat. Die propagandistische Parole vom „Schutz der russischsprachigen Bevölkerung“, mit der Russland seinerzeit operierte, kommentiert er lapidar: „Ich wollte nie geschützt werden.“ Rafeyenko lernte Ukrainisch und so gut, dass er einen Roman in dieser Sprache schreiben konnte.

Artem Chapeye dagegen entschloss sich zu kämpfen. Er, der Schriften Gandhis ins Ukrainische übersetzt hat, verwirft die pazifistische Literatur, die er einst gelesen hat: „wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt, hat das alles keine Relevanz mehr.“ Nicht nur das Bedürfnis, sein privates Umfeld zu schützen, hat den Schriftsteller und Übersetzer bewegt, Soldat zu werden. Es geht auch um eine Art zu leben: „Wir dürfen nicht kapitulieren, das würde den Vormarsch der Dunkelheit bedeuten.“ Das führt zu einer der zentralen Fragen des Buches. Chapeye erinnert an Hemingway, der (wie viele andere Intellektuelle) in den 1930er-Jahren in den Spanischen Bürgerkrieg zog, um den Faschismus zu bekämpfen. Wenn wir den Gedanken akzeptieren, dass in der Ukraine auch unsere Demokratie und damit unsere Freiheit verteidigt werden – müssten wir da nicht mitkämpfen?

Es gibt im gegenwärtigen Krieg auch viele kämpfende Frauen. Oksana Dutchak richtet den Blick in ihrem Beitrag jedoch auf die Millionen von Müttern, die ihre Kinder nun allein aufziehen müssen. In Deutschland erhielten Kinder häufig monatelang keinen Deutschunterricht. Begründet werde dies mit dem Hinweis, dass sie ja bald wieder weg seien. Indirekt rührt ihr Beitrag an die Frage des Gesellschaftsvertrags zwischen den Geschlechtern. Wenn Männer auch Kinder aufziehen können (und sich sogar in Gefechtspausen per Zoom an der Erziehung ihrer Söhne und Töchter beteiligen), so sind es doch nach wie vor Frauen, die Kinder gebären. Endet hier die Gleichberechtigung? Auch die Beziehung der Geschlechter muss unter den Bedingungen des Krieges neu geregelt werden, der westliche Feminismus, von dem weiter hinten in der Anthologie noch mehr die Rede ist, ist gefordert, neue, auch für Menschen mit postsowjetischer Sozialisation geltende Antworten zu finden.

Von alten und neue Zeiten

Der anschließende dritte Teil des Buches (der 2. zeigt uns sechzehn Fotos als seltsam kraftlosen Kommentar zum Geschehen) versucht eine Orientierung oder besser gesagt Sondierungen, die von der konkreten Erfahrung wegführen und eine erste diskursive Einordnung versuchen. Yuriy Hrytsyna schreibt über den Krieg der Bilder. Die sozialen Medien hätten dazu geführt, dass man schon vor 24.2.22 habe zusehen können, wie der Krieg herannahte. Andererseits habe die Zerstörung der Kommunikationsanlagen während der Schlacht um Mariupol zu einem „Bildervakuum“ geführt, indem sich der Krieg dann unbeobachtet habe fortsetzen lassen. In der Ästhetik folgten die Bilder vom Krieg der etablierten Filmsprache Hollywoods, während die russische Propaganda die Bildästhetik des Großen Vaterländischen Krieges remixe.

Svitlana Matviyenko wirft unter Rückbezug auf Philosophen wie Foucault, Sloterdijk oder Mbembe, einen Blick darauf, wie durch Kontrolle von Informationsumgebungen seitens der russischen Aggressoren Wirklichkeiten geschaffen werden, die dem Einzelnen die Urteilsfähigkeit entziehen. In so genannten Filtrationslagern internierte Menschen würden anhand von digitalen, aber auch Körper-Daten auf ihre potenzielle Russlandfeindlichkeit hin beurteilt. Indem man sie systematisch desinformiere und verängstige, ließen sie sich schließlich zwingen, in den russischen Staatsmedien und entsprechenden Online-Channels falsche Aussagen zu treffen, die der russischen Propaganda dienten.

Höchst interessant ist der Beitrag von Stanislaw Assejew über „Meine Idee von Gerechtigkeit“. Der Journalist war zwei Jahre lang in einem Donezker Gefängnis inhaftiert und wurde das Opfer von Folterungen. Mithilfe eines Recherchenetzwerks versucht er nun, Menschen wie den ehemaligen Kommandanten dieses Lagers ausfindig zu machen und vor Gericht zu bringen. Die Täter auf diese Weise zum Sprechen zu bringen, ist für ihn Trauma-Bewältigung. Gefühle hätten dabei nichts verloren, da man in Konflikten verliere, wenn man sie zeige. Assejew attackiert den Westen, der am liebsten alles vergessen oder sogar verzeihen würde. Verzeihen sei aber nur möglich, wenn Gerechtigkeit walte. Empathie sei der falsche Weg, weil sie einem angesichts des Grauens den Verstand raube. „Krieg und Leiden“, schreibt Assejew, „[müssen] mit der Zeit alltäglich werden, damit man sie besiegen kann.“

Irina Zherebkina greift die pazifistischen Positionen von Leuten wie Chomsky, Habermas oder Judith Butler an, die aus ihrer Sicht auf die Wirklichkeit des Krieges nicht passen, und konstatiert ein geradezu verbohrtes Festhalten an „westlichen“ Positionen von „Gender und Feminismus“, das sie für verständlich, aber falsch hält. Tatsächlich wirken in dem vorgetragenen Artikel Positionen vor allem linker Intellektueller unter den Vorzeichen der „Zeitenwende“ wie die dreihundertste Aufführung eines Stücks, das nichts mehr über die Gegenwart zu sagen hat. Folgerichtig fordert die Literaturwissenschaftlerin Susanne Strätling in ihrem Beitrag ein systematisches Verlernen alter Positionen und Verlassen gewohnter Denkräume: „Zeitenwenden eröffnen Zwischenwelten, die von Brüchen geprägt sind, in denen Abschiede abrupt vollzogen und Zugehörigkeiten neu ausgehandelt werden.“

Tamara Hundorova parallelisiert den Prozess (und im Hinblick auf die westlichen Länder entwickelten Begriff) der Dekolonialisierung und dekonstruiert den postsowjetischen Raum insbesondere der drei „Schwestervölker“ Russland, Ukraine und Belarus. Die Idee der Dekolonisierung sei „in den Bereich des kulturellen und intellektuellen Widerstands vorgedrungen. Da geht es in der Ukraine sehr stark um die Verwendung des Russischen als Literatursprache. Hundorova nennt drei Beispiele von Autoren mit unterschiedlichen Strategien von völliger Ablehnung der russischen Muttersprache bis zur bewussten Weiterverwendung, um dem Informationsmonopol der russischen Propaganda etwas entgegenzusetzen.

Karl Schlögel findet klare Worte der Kritik an den billigen westlichen Standpunkten eines „postnationalen und postheroischen Zeitalters“ sowie am westlichen Feminismus. Er verurteilt außerdem einen „germanozentrischen Provinzialismus“, der sich moralisch aufschwinge, aber keine deutschen Panzer liefern wolle – eine Position, die unterdessen in der deutschen Regierung obsolet geworden ist. Er nennt das Regime Putins russofaschistisch und fordert dessen Ende, auch wenn das Opfer bedeute.

Aleida Assmann schließlich analysiert die Begrifflichkeiten von „Imperium“ versus „Nation“. Sie zeigt, wie Putin sich auf den Zaren des 18. Jahrhunderts, Peter den Großen, bezieht, um seine imperiale Politik, „'zurückzuholen und zu befestigen', was russisch kontrolliert gewesen sei“, zu begründen. In Hinsicht auf Putins historische Perspektive schreibt sie: „Geschichte ist für Putin keine Verkettung von Ursachen und Wirkungen ..., sondern eine Glaskugel für Visionen, in die der 'auto-kratisch', wörtlich: nur von sich selbst gesteuerte Machtpolitiker schaut, um sich Inspiration für seine Ansprüche und Legitimation für sein Handeln zu holen.“ Demgegenüber setzt Assmann ihre Hoffnung in die Europäische Union und einen Umbau der europäischen Nationen in Richtung „Friedfertigkeit, wirtschaftliche Kooperationsbereitschaft und transnationale Solidarität“.

Am Ende erscheint der Krieg gegen die Ukraine in dem Sammelband keineswegs in Nebel gehüllt. Vielmehr wird sehr klar, was dort geschieht: eine (sich selbst so verstehende) imperiale Macht „arbeitet“ an der Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs und opfert dafür hunderttausende Menschen. Das ist nicht neu, das ist banal. Es ist bloß überraschend, es widerspricht den westlichen Diskursen seit dem Zweiten Weltkrieg. Neben der schmerzlichen Frage, warum „wir Westler“ außer Waffen zu liefern und zu reden kaum solidarisch handeln, ist das größte Verdienst des Buches, deutlich zu machen, dass wir mit unserem Nachkriegsdenken, jenen Mustern, denen die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs noch zugrunde liegen, nicht mehr die Realität reflektieren können. Es geht nun darum, von der Ukraine, von den Menschen, die gegenwärtig in ihr leben, aus ihr fliehen müssen, und in großen Zahlen im dortigen Krieg sterben, zu lernen. Lesen, was vor allem die Ukrainer uns zu sagen haben, wäre ein Anfang.

 

Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine. Herausgegeben von Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko. Klappenbroschur, Suhrkamp Verlag, 1. Aufl. Berlin 2023, 288 S., ISBN 978-3-518-02982-4, € 20,00

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