Info
13.12.2023, 13:00 Uhr
Oleh Kozarew
Text & Debatte
images/lpbblogs/instblog/2023/klein/Kozarew-c-Mila-Pavan-170.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/instblog/2023/klein/Kozarew-c-Mila-Pavan-170.jpg?width=170&height=170
Oleh Kozarew © Mila Pavan

„Eine Brücke aus Papier“ zwischen ukrainischen und deutschen Autoren baut 2023 die ukrainische Stadt Uschhorod

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/instblog/2023/klein/Brucke-aus-Papier-Uschhorod-500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/instblog/2023/klein/Brucke-aus-Papier-Uschhorod-500.jpg?width=500&height=325
© Literaturportal Bayern

Vom 27. bis 29. September 2023 fand im ukrainischen Uschhorod das Literaturfestival „Eine Brücke aus Papier“ statt. Es handelt sich um eine seit 2015 jährlich veranstaltete deutsch-ukrainische intellektuelle und künstlerische Initiative, die von der Kuratorin Verena Nolte aus München organisiert wird. Das Festival gastierte im Laufe der Jahre in Lemberg, Charkiw, Mariupol, Weimar, München und anderen Städten. Eine Nachbetrachtung von Oleh Kozarew.

*

Ukrainische Autorinnen und Autoren in der „Atmosphäre des Krieges“

Der groß angelegte russische Überfall auf die Ukraine stellte auch „Eine Brücke aus Papier“ in Frage, weshalb sie im Jahr in Weimar stattfand. Die Kuratorin stellte dort die Literatur von ukrainischen Schriftstellerinnen in den Mittelpunkt, die aufgrund des Kriegs nach Deutschland gekommen waren. Nach einer vorläufigen Einschätzung der Lage schließlich in Weimar wurde beschlossen, mit der nächsten „Brücke“ nach Uschhorod zu gehen. Ein Mittelpunkt des Festivals sollten dort die ukrainischen Schriftsteller sein, die im Krieg respektive in der Armee sind. Im Programm gab es zudem natürlich Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die nicht in der Armee sind und weiterhin in der Ukraine leben.

Zum Auftakt der diesjährigen „Eine Brücke aus Papier“ wurde der Schriftstellerin Victoria Amelina gedacht, die dieses Jahr bei einem russischen Raketenangriff in Kramatorsk getötet wurde, sowie des Dichters Nasar Honchar, der 2009 auf tragische Weise in Uschhorod ums Leben kam. Auf dem Festival wurde aus dem Werk von Viktoria vorgetragen sowie weitere Texte gelesen, die ihr gewidmet oder mit Zitaten und Anspielungen auf sie versehen waren. Die Erinnerungen von Andriy Lyubka und Oleksandr Hawrosch an den letzten Tag im Leben von Nazar Honchar mündeten in Überlegungen zu einem Ort des Gedenkens an den Dichter, der in Uschhorod eingerichtet werden sollte.

Dieser eindrucksvolle Auftakt der „Brücke“ mit der Trauer um Viktoria Amelina und Nazar Honchar wurde Chrystyna Nazarkewytsch, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin, Witwe von Nazar Honchar und aktive Teilnehmerin des Festivals, moderiert.

In einem weiteren Festivalblock wurden Texte der Schriftsteller Artem Tschech und Artem Tschapaje gelesen, die in der Armee dienen und nicht nach Uschhorod kommen konnten. Ein Soldat und Schriftsteller konnte jedoch persönlich anwesend sein, Bohdan Kolomijtchuk. Er las aus seiner historischen Prosa und erzählte von seinen Kriegserlebnissen.

Es ist eigentlich nicht verwunderlich, dass die ukrainischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Festivals oft Essays, Tagebuchaufzeichnungen und andere Zeugnisse lasen und nicht etwa Lyrik oder Prosa. Erstaunlicherweise war gar nicht der Krieg, seine Beschreibung und Reflexion, das dominierende Thema, sondern eher die Atmosphäre, in der sich das alles abspielt.

Die schmerzhaften Tagebücher von Oksana Stomina, die die Belagerung und Erstürmung von Mariupol überlebte und deren Ehemann, ein Verteidiger der Stadt, sich bis jetzt in russischer Gefangenschaft befindet, waren sehr intensiv und berührten zutiefst. Die an das deutschsprachige Publikum gerichteten ungeschminkten Tagebucheinträge von Jurij Durkot sind voll bitterer Ironie – ebenso wie die Essays von Jurij Andruchowytsch (der außerdem ein Fragment aus seinem Roman Radionacht las) und wie der Text von Andrij Lyubka. Ihr gemeinsames Thema sind die ersten Tage des russischen Großangriffs sowie die Tage unmittelbar davor mit all den Plänen, Ängsten und dem Chaos.

Es gab aber auch Zeit für Poesie, für die metaphorischen Gedichte von Julia Stachiwska und die handlungsbetonte Lyrik von Hryhorij Sementschuk. Und für Prosa: Außer dem erwähnten Autor und Soldaten Bohdan Kolomijtschuk lasen Oleksandr Hawrosch, Uschhoroder und charismatischer Mythenschöpfer (un-)gewöhnlicher Abenteuer, und ebenfalls aus Uschhorod trug Bandy Sholtes seine humorvolle Prosa vor.

Die deutschen Teilnehmer hörten aufmerksam zu und waren begeistert. „Wenn meine Generation in der Geschichte dieses Jahrhunderts eine Rolle zu spielen hat, dann ist es die Rolle der Verbündeten“, sagte die Schriftstellerin und Performerin Ulrike Almuth Sandig. „Das Schriftstellertreffen Eine Brücke aus Papier war ein großes Geschenk für mich, denn es ermöglichte mir, die Arbeit meiner ukrainischen Kollegen kennen zu lernen. Leider werden in Deutschland zu wenige ukrainische Autoren veröffentlicht. Das muss sich ändern. Hier sehe ich uns, die deutschen Autorinnen und Autoren, in der Pflicht. Wir müssen von unseren Verlagen und Agenturen verlangen, dass die ukrainische Literatur endlich den Platz bekommt, der ihr zusteht. Sonst verlieren wir viel“, betont Sandig.

Diese Worte sind nicht etwa der Höflichkeit des Gastes geschuldet: Ulrike Almuth Sandig ist eine äußerst aktive Teilnehmerin des deutsch-ukrainischen Literaturdialogs. Sie hat die Formation „Landschaft“ in Kooperation mit Hryhorij Sementschuk (Poesie, elektronische Musik, Hip-Hop, Videopoesie) initiiert und auch deutsche Cover-Versionen ukrainischer Songs aus dem Musikprojekt „Foxtrott“ in ihren Performances.

Der deutsche Blick

„Eine Brücke aus Papier“ ist in erster Linie ein ukrainisch orientiertes Festival. Es wurde ins Leben gerufen, um ukrainische Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu unterstützen, Kontakte und gegenseitiges Verständnis zwischen dem ukrainischen und dem deutschen intellektuellen Raum zu fördern. In diesem Jahr war das Interesse an den deutschen Teilnehmern jedoch besonders groß. Die Tatsache, dass Menschen aus behaglichen Landstrichen sich nicht scheuten, unser klischeebehaftetes „Kriegsghetto“ zu besuchen (auch wenn es dessen ruhigerer Teil ist), erregte schon an sich Aufmerksamkeit. Die Eindrücke, die sie vor Ort sammelten, waren wichtig. Auch ihre literarischen Texte waren unerwartet oft mit dem russisch-ukrainischen Krieg und der Drohung einer weiteren, weiter westlich ausgerichteten Aggression seitens unserer wutschnaubenden Verwandten im Osten verbunden. Ich vermute, dass das Motiv des „Probealarms“ und der ernsten Gespräche mit Kindern darüber, „ob wir denn in Sicherheit seien“, in neueren deutschen Texten unverblümt den Status eines weit verbreiteten Motivs beanspruchen könnte. Die Lesungen deutschsprachiger Literatur (alle Lesungen des Festivals waren zweisprachig) haben uns aber letztlich zu den interkulturellen Verbindungen und rein literarischen Kontexten zurückgeführt, die auch in Zeiten von Krieg und Kriegsverbrechen weiterexistieren.

„Die Bedeutung der Brücke aus Papier ist nicht nur mit dem Krieg verknüpft“, sagt die Dichterin Julia Stachiwska während des Festivals: „Unabhängig vom Krieg ist das multiethnische Uschhorod ein geeigneter und würdiger Ort für interkulturelle Kontakte. Damit meine ich nicht nur, sagen wir, ethnographische Veranstaltungen, die sich auf die in Transkarpatien lebenden Ungarn, Rumänen oder Slowaken beziehen, sondern zum Beispiel auch die Verflechtungen der zeitgenössischen Literaturen. In diesen Tagen wird viel über die Wahlergebnisse in der Slowakei gesprochen. Doch was wissen wir über die slowakische Gegenwartsliteratur? Wie viele Namen kennen wir? Und jetzt kommen die Deutschen nach Uschhorod und präsentieren spannende Beispiele zeitgenössischer Lyrik, Prosa und Essayistik.“

Die Dichterin fügte noch hinzu, dass alle internationalen Literaturveranstaltungen mit ukrainischer Beteiligung nicht nur eine einseitige Kommunikation darstellen mit Fragen und Antworten über uns und unser Leben während des Krieges, sondern auch eine Annäherung an eine andere Literatur.

Marcel Beyer aus Dresden las einen Ausschnitt aus seinem Buch Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha. Diese detaillierte, psychologisch einfühlsame Erzählung zeigt den Krieg aus der Perspektive von Tieren, die unter den menschlichen Gräueltaten leiden. Eine Möwe, die quer durch die Filmaufnahme einer Raketenexplosion fliegt. Ein Hund, in dessen Schnauze die Besatzer den Buchstaben Z hineingeschnitten haben. Ein Hund, dem anscheinend Augen und Ohren von seinem Herrchen zugehalten werden, oder der ihn vielleicht auch nur streichelt, um ihn zu beruhigen ... Die Prosa von Dagmar Leupold aus München ist hell und mosaikartig, mit Zugang zum Raum des Absurden. Ein anderer Münchner Autor, Thomas Lang, konzentriert sich auf die Paradoxien eines sich verzweigenden, detaillierten Schreibens. Kerstin Preiwuß aus Leipzig präsentiert auto-analytische Prosa, kataloghaft und mit zahlreichen kulturellen Anspielungen vor dem Hintergrund des Grauens des Kriegs, zudem las sie aus ihren eher hermetischen Gedichten mit assoziativ komplexen Bildern und einem Spürsinn für Archetypen. Die in Berlin lebende Ulrike Almuth Sandig transformiert ihre spektakulären Gedichte begleitet von einer beeindruckenden Performance gerne in multimediale Dimensionen.

Erwähnenswert ist auch das Programm außerhalb der literarischen Lesungen. In erster Linie sind dies wissenschaftliche Präsentationen. Der Münchner Literaturwissenschaftler Alexander Kratochvil stellte das Thema Transkarpatien in der tschechischen Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre vor. [Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war die Region Teil der Tschechoslowakei, Anm. der Red.] Der Ethnologe Pavlo Leno (Uschhorod) präsentierte auf der Grundlage wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Materialien Stereotype über die Huzulen. Der Übersetzer und Essayist Jurko Prochasko (Lemberg) hielt einen Vortrag über die Schwierigkeiten der Wahrnehmung und Akzeptanz der kulturellen und politischen nationalen Tradition der Ukraine für die deutsche Bevölkerung. Außerdem gab es zwei Exkursionen, je mit Pavlo Chudisch und Lina Degtjareva durch Uschhorod und das „tschechoslowakische Uschhorod“ der Zwischenkriegszeit.

Fast das gesamte Festival (mit Ausnahme der großen Abschlusslesung im Puppentheater Bavka) fand in der ILKO-Galerie statt, die für solche Veranstaltungen ein äußerst geeigneter Ort ist. Die Hauptunterstützung für „Eine Brücke aus Papier“ kam im Jahr 2023 vom deutschen Außenministerium und dem Philanthropen Reinhard Gorenflos. Das Festival wurde zudem von deutschen Journalisten und der ehemaligen Europaabgeordneten Rebecca Harms sowie dem Diplomaten Peter Schmal besucht. Natalia Schimon und Iryna Rybko koordinierten die Organisation von ukrainischer Seite aus.

Natalia Schimon freut sich darüber, dass das Projekt in diesem Jahr (2023) dank der Hauptinitiatorin der „Brücke“, Verena Nolte, endlich wieder in der Ukraine stattfinden konnte, auch deshalb, weil es von Jahr zu Jahr schwieriger wird, Mittel für das Festival einzuwerben.

„Unserer Stadt fehlt es wirklich an solchen kulturellen Veranstaltungen. Das ist ein weiterer Grund und meine persönliche Motivation, das deutsch-ukrainische Schriftstellertreffen zu organisieren. Wir haben schon lange an Uschhorod gedacht, schon vor dem Krieg, und jetzt endlich ist „Eine Brücke aus Papier“ hierhergekommen. Einige der Deutschen sind zum ersten Mal in der Ukraine, was während des Krieges besondere Aufmerksamkeit verdient. Ich hoffe, dass es uns gelungen ist, eine Brücke des Verständnisses zu bauen, vor allem durch persönliche Kontakte und Erfahrungen, die sicherlich besser funktionieren als jedes Ministerium“, fügt Natalia hinzu.

(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)