Info
27.04.2023, 13:20 Uhr
Johanna Hadyk
Text & Debatte
images/lpbblogs/redaktion/2023/klein/mebrahtu_cover_164.jpeg
© Verlag Das Wunderhorn

Über den eindrucksvollen Gedichtband von Yirgalem Fisseha Mebrahtu

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/redaktion/2023/klein/Mebrahtu_Zapf_500.jpg
Yirgalem Fisseha Mebrahtu (l.) und Moderatorin Nora Zapf bei der Vorstellung des Gedichtbands "Ich bin am Leben" am 19. April 2023 im Lyrik Kabinett, München.

Yirgalem Fisseha Mebrahtu ist eine in Deutschland bisher weniger bekannte Autorin. Geboren 1981 in Eritrea, wurde sie 2009 als Mitarbeiterin eines privaten Radiosenders festgenommen und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren für sechs Jahre inhaftiert. Im Gefängnis musste sie wiederholt Folterungen ertragen. Nach einem ersten gescheiterten Versuch, Eritrea zu verlassen, konnte sie 2018 nach Uganda fliehen. Von 2018 bis 2021 war sie PEN-Stipendiatin des Writers-in-exile-Programms in München, wo sie heute noch lebt. Für ihre Arbeit als Essayistin und Dichterin ist sie bereits mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Freedom of Expression Prize.

Nun ist ihr Gedichtband Ich bin am Leben im Verlag Das Wunderhorn erschienen, übersetzt von Mekonnen Mesghena, Kokob Semere, Hans Thill und Miras Walid. Die Gedichte sind eine Auswahl aus einem Band, der zunächst 2019 im Emkulu Verlag – ein in Schweden angesiedelter Exil-Verlag – veröffentlicht wurde. Bei der Premieren-Lesung Mitte April im Münchner Lyrik Kabinett erzählte Hans Thill von dem komplizierten Übersetzungsprozess – sowohl was die Sprache angeht (was sich an der geringen Anzahl an Übersetzer*innen erkennen lässt) als auch die Form: Thills Ziel war es, die Gedichte so zu übersetzen, dass sie auch im Deutschen lyrischen Mustern folgen und man sie gerne liest.

Die Gedichte sind in fünf nicht weiter benannte Abschnitte unterteilt, dem Original in Tigrinisch steht jeweils die deutsche Übersetzung gegenüber. Zum besseren Verständnis sind die Gedichte teils auch mit Fußnoten versehen, die sprachliche und kulturelle Transfer-Lücken schließen: So werden tigrinische Wörter ohne passende deutsche Übersetzung erklärt (ein ‚Qnat‘ beispielsweise ist „ein schalartiges Tuch, manchmal auch nur ein Strick“; eritreischen Frauen verwenden es zum Transport von Holz oder Wasser) oder politisch-kulturelle Kontexte erläutert, mit denen sich ein deutsches Publikum vermutlich nicht auskennt. Im Gedicht „An Ciham“ etwa erfährt man über Ciham nur, dass sie ein Mädchen ist, das für etwas bestraft wurde; die Fußnote erklärt dann, dass es sich um Ciham Ali Abdu handelt, die Tochter des ehemaligen Informationsministers von Eritrea, die nach der Flucht ihres Vaters verhaftet wurde.

Lesung im Lyrik Kabinett am 19. April 2023

Der erste Abschnitt enthält hauptsächlich interpersonelle und optimistische Gedichte. Die tigrinische Sprache verfügt über viele Redewendungen, die Menschen mit Natur und Tieren in Verbindung bringen, und diese semantischen Felder werden in der Sammlung effektiv bedient: In „Zwei Sträucher“ vergleicht die Dichterin zwei Liebende mit einem Weinstock und seiner Weinrebe zwischen denen „kein Luftzug […] hindurch gehen“ soll, und in „Jugendfreunde“ werden ein Ochse und ein Pferd beschrieben, die sich auf einem Markt wiedertreffen – der Ochse soll verkauft werden und das Pferd den Wagen ziehen, auf dem er weggebracht wird. Auf die Bitte des Ochsen hin fliehen die beiden vor dem Besitzer, doch die letzte Strophe enttarnt das Geschehene als Fiktion: „Und derlei kommt niemals vor, / so mussten schon Tausende / ihr Leben lassen.“ Der eher dunkle Ton, der in den nächsten drei Teilen der Sammlung vorherrscht, deutet sich schon an.

Die heilende Kraft (menschlicher) Wärme

Bei einigen Gedichten aus Ich bin am Leben lohnt es sich, sie ein zweites Mal zu lesen. Die Autorin versteht es immer wieder, eine simple Prämisse im Laufe der Strophen geschickt zu entwickeln; so bei „Der Fahrer“: Zu Beginn wirkt es, als ob eine Busfahrt beschrieben würde, doch mit der Zeit wird klar, dass der inkompetente Busfahrer ein Politiker und der Bus ein Land ist. Wie „Der Fahrer“ beschäftigen sich viele Gedichte mit der Politik totalitärer Staaten allgemein und mit Eritrea im Besonderen sowie mit den Erfahrungen, die die Autorin in ihrer Heimat machen musste: Sie schreibt über ihre Haft, die Enge ihrer Zelle und die Wärme, die so spärlich ausgegeben wird „als wäre sie Medizin“. Die heilende Kraft (menschlicher) Wärme wird bereits im ersten Gedicht erwähnt und ist Teil einer weiterreichenden Symbolik körperlicher Materialität und Sensorik, die sich durch das Buch zieht – vom Salz der Tränen ist die Rede, von Blut und Schweiß und dem Verschließen der Ohren vor dem Leid anderer. Sie wirkt als erdender Gegenpol zu den eher abstrakteren Verweisen auf religiöse Symbole wie die Schlange oder der Apfel.    

Trotz der schlimmen Erlebnisse liebt Yirgalem Fisseha Mebrahtu ihre Heimat noch immer, und dieses komplizierte Verhältnis drückt sich oft in einer Personifizierung Eritreas aus, am eindrucksvollsten in dem längsten und hochemotionalen Gedicht „Ich gehe fort“: „So groß ist meine Liebe, aber ich bin am Ende / mit meiner Geduld. So sage ich dir: Ich muss dich verlassen, / ich gehe.“

Im fünften und letzten Abschnitt setzt sich die Autorin dann mit dem Schreiben selbst auseinander, und wie bei ihrem Heimatland umkreist sie auch hier ein ambivalentes Verhältnis. Ein Gedicht „bedrängt [sie], greift nach [ihr]“, und sie wiederum wehrt sich in „Ich bin keine Dichterin“ gegen die Zuschreibung dieses Titels, da sie in der Haft die Bedeutung ihrer Gedichte verleugnen musste, um weiterer Folter zu entgehen. Nichtsdestotrotz spricht sie sich für das Potenzial von Lyrik aus: „Und alles ist außer Rand und Band. / Auf dem Weg, plötzlich, verschließt du wie die Anderen / die Ohren mit Stöpseln, verlierst dich in Schmerzen / unter den Menschen. / Oder nimmst alles in Augenschein, um es festzuhalten?“

V.l.n.r.: Hans Thill, Yirgalem Fisseha Mebrathu und Nora Zapf

Und dass Yirgalem Fisseha Mebrathu in der Lage ist, dieses Potenzial zu entfalten, das stellt sie mit diesem Band eindrücklich zur Schau.

Noch ein Tipp: Bei der Lesung im Lyrik Kabinett erklärte die Autorin, dass es schriftliche Lyrik in Eritrea erst seit ca. einer Generation gibt, davor herrschte die Tradition der Oralpoesie vor. Es lohnt sich auf jeden Fall, die Gedichte im Original anzuhören, vorgelesen von der Dichterin selbst, z.B. auf dem YouTube-Kanal der Münchner Stadtbibliothek:

**

Alle Fotos (außer Buchcover) © Uli Neumann-Cosel / Lyrik Kabinett, entstanden bei der Buchpremiere im Lyrik Kabinett, April 2023; mit freundlicher Genehmigung.