„Warten, dass Blut fließt“. Von Katharina Bauer

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Foto: Blagovesta Tsoneva

Katharina Bauer (*1991 in Regensburg) wuchs in der Nähe von Regensburg auf und studierte Germanistik sowie Medizin. 2017/18 war sie Teilnehmerin der Regensburger Schreibwerkstatt, 2019 der Bayerischen Akademie des Schreibens. 2020 war sie im Finale der PULS-Lesereihe, 2021 auf der Shortlist des Wortmeldungen-Förderpreises. Texte von ihr wurden u.a. in den Zeitschriften ... & Radieschen, Das Prinzip der sparsamsten Erklärung und Lautschrift veröffentlicht. Nach Tätigkeiten in der Rechtsmedizin und der Pathologie widmet sie sich aktuell wieder literarischen Projekten.

Mit ihrem unveröffentlichten Text Warten, dass Blut fließt beteiligt sich Katharina Bauer an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Die Toilette suchen. Sich bemühen, nicht verdächtig zu wirken. Die Tür zuziehen, abschließen, es riecht nach Urin und Metall. Hektisch legt sich der ICE in die Kurve. Spritze, Pulver, Lösungsmittel ablegen. Klodeckel hinunterklappen, daraufsetzen. Das Pulver auflösen, die Flüssigkeit in die Spritze ziehen. Was, wenn jemand klopft?  

Sie erinnert sich noch genau an das Datum des Erstgesprächs in der Kinderwunschpraxis vor knapp sechs Wochen: 20. Januar.

Sie hat keinen Kinderwunsch.

 

  1. Februar

„Der Homocysteinspiegel ist erhöht, ich verschreibe Ihnen Medyn forte.“

Die Ärztin tritt auf, wie Ärzte auftreten, wenn sie freundlich zeigen wollen, dass sie keine Zeit haben. Es ist der zweite Termin in der Praxis. Die Ärztin prüft ihr Blutbild, als wäre es eine Mathematikklausur, die es zu korrigieren gilt.

Beim Erstgespräch war sie freundlicher gewesen, hatte das Verfahren erklärt, Social Freezing? Eine gute Entscheidung, sie sei ja erst Anfang 30, das wäre perfekt. Sie hatte ihr zahlreiche Papierbögen gegeben, einen Ultraschall gemacht und ihr Blut abgenommen. Der Kostenvoranschlag belief sich auf knapp 5.900 Euro.

„ … die Werte deuten auf eine Thyreoiditis hin, das bitte abklären lassen, und die Vitamin-D-Tabletten, die nehmen Sie weiterhin, außerdem Folsäure und …“

Sie wird später googeln und erfahren, dass ihr Blut mehrere Mängel aufweist. Und dass sie vielleicht eine kranke Schilddrüse hat. „… das Siebzehn-Hydroxyprogesteron …“, murmelt die Ärztin. Gestern noch gesund und heute voller Fehler.

 

  1. Februar

Der Apotheker hatte gefragt: „Wollen Sie schwanger werden?“ Sie hatte den Kopf geschüttelt und wortlos 123,75 Euro für die Tabletten bezahlt. Er hatte ihr trotzdem zwei Femibion-Probepäckchen zu ihren Einkäufen gelegt. Nun soll sie darauf warten, dass Blut fließt.

 

  1. Februar

Männer, die Waffen tragen. Frauen, die Koffer schleppen. Kinder, die weinen. Sie erinnert sich, wie der Fernseher den Jugoslawienkrieg in ihr Gehirn presste. Die Bilder vermischten sich mit den Erzählungen ihrer Großmutter aus dem Zweiten Weltkrieg. Von den Granatsplittern, die sie sich aus der Wange pulte. Von dem verendeten Marder, den sie aus Hunger essen mussten. Von den Russen, die die Mädchen wie reife Äpfel aus dem Flüchtlingstreck pflückten. All diese Bilder und Nachrichten schloss sie, keine acht Jahre alt, in eine Schublade. Nun ist die Schublade wieder offen.

 

  1. Februar

Sie wartet darauf, dass Blut fließt. Bald muss es so weit sein.

 

  1. Februar

Das Blut fließt. Es tropft und klebt und färbt die Kleidung rot. 

198 Zivilisten und 3.500 russische Soldaten seien getötet worden, vermeldet die Ukraine. Die Nachrichten fühlen sich an wie die Schilderungen ihrer Großmutter. Sie wollte helfen, trösten, verhindern und war doch nur ein Kind und der Krieg damals Jahrzehnte vorbei. Nun ist sie erwachsen und der Krieg ist jetzt und dennoch macht sie nichts.

Das Blut fließt. Es wird immer fließen. Der Mensch gebärt, der Mensch zerstört. Aber hat er ein Recht darauf?

 

  1. März

Sie sitzt am Küchentisch, die Spritze vor sich. Sie soll sich die erste Dosis eines Mittels spritzen, das die Eibläschen heranreifen lässt. Die Nadel muss ihre Hautschichten zerschneiden und zwischen Fettzellen und Blutgefäßen ihren Inhalt ins Gewebe erbrechen.

Kann sie nicht eine normale Frau sein? Eine, die jetzt Kinder will. Eine, die glaubt, dass sich dann alles andere relativiert: Gleichberechtigung, Rente, Klimawandel, Krieg.

 

  1. März

Sie will ihren freien Tag nutzen, aber sie wird an ihrem Laptop sitzen und Nachrichten lesen. Wie kann man damit leben, dass man hier viel zu gut lebt, während anderswo Menschen Regen und Schnee trinken? Über 400 Kinder sollen in ukrainischen U-Bahn-Stationen zur Welt gekommen sein. Leihmütter-Babys warten auf ihre Abholung.

Nach dem Abschluss Karriere, dann Heirat, Haus, Kind. Was ihr wie eine To-do-Liste erscheint, ist für andere der Traum vom Glück. Dafür schämt sie sich. Und für den Luxus, später noch Optionen zu haben, die sie heute nicht sicher ausschließen will.

 

  1. März

Gestern ist sie mit dem ICE zu ihren Eltern nach Köln gefahren. Ihre Eierstöcke brauchen das Medikament immer zur gleichen Zeit, darum hat sie es sich auf der Zugtoilette gespritzt. Als sie auf ihren Platz zurückging, hätte sie am liebsten geweint.

„Hattest du eine angenehme Fahrt?“, fragte die Mama, die vielleicht niemals Oma sein wird. Sie nickte. Zwanzig Minuten Verspätung wegen Pass- und Zollkontrollen. Warum aufregen? Es war nicht ihr Pass, der kontrolliert wurde. Sie kann ohne Angst von einem Ende Deutschlands zum anderen fahren, obwohl sie den Krieg einen Krieg nennt.

 

  1. März

„Da sind Sie aber spät dran!“, hatte ihr Frauenarzt entsetzt gesagt, als sie ihn letztes Jahr auf Social Freezing angesprochen hatte. In Deutschland ist man immer zu spät dran für alles: Kinder kriegen, Krisen lösen, Krieg verhindern. Manchmal hat man den Eindruck, dass „zu spät dran sein“ ein guter Grund ist, es gleich bleiben zu lassen.

Abends braucht es nun eine zweite Spritze, die einen frühzeitigen Eisprung verhindern soll. Wieder sitzt sie auf einer Zugtoilette. Darf sie eigentlich Alkohol trinken? Zucker essen, ungesund leben? Pimp my eggs, schlägt Google vor.

 

  1. März

Im Wartezimmer drei Pärchen. Sie weiß nicht, was sie mehr anstrengt: zu schweigen und den Boden anzustarren. Oder das peinliche Bemühen ums Sprechen über Alltagsdinge: Klima, Corona, Krieg. Ein kleiner Junge quengelt. Sie spürt, dass sich die Wartenden nicht trauen, ihn zu lange anzusehen.

Sie braucht nun alle zwei Tage eine Ultraschalluntersuchung und eine Blutentnahme. Die Hormonwerte müssen kontrolliert werden, um eine Überstimulation zu vermeiden. Sonst könnte sich Wasser in ihrem Bauch oder ein Gerinnsel in ihren Blutgefäßen bilden.

Mit gespreizten Schenkeln sitzt sie auf dem Stuhl, äußere und innere Schamlippen aufgeblättert wie die Seiten eines Buches. Die Ärztin schiebt ihr routiniert die Ultraschallsonde in die Scheide. Vor jeder Benutzung ziehen die Arzthelferinnen eine Art Kondom darüber. Bei ihrem letzten Besuch haben sie vergessen, den Gummi der Vorgängerin abzustreifen. Blut und schleimige Fäden hingen daran.

 

  1. März

Diesmal ist das Wartezimmer leer. Sie fühlt sich wie eine Verräterin. Alle, die sonst hier sitzen, wollen ein Kind. Sie sitzt hier und will niemals bereuen müssen.

Die Ärztin erscheint.

„Aktuell ist kein Partner da?“

„Doch.“  

„Aber wir frieren unbefruchtete Eizellen ein?“

Die befruchteten seien resistenter. Was, wenn sie die Eizellen doch befruchten? Haben sie dann nicht schon ein Kind gezeugt? Eines, das zwar ohne Gebärmutter ein winziger Zellklumpen bleibt, aber zugleich doch etwas werden könnte, das ihr Zukunfts-Ich glücksgetränkt in den Armen hält?

Sie soll über das Wochenende weiterspritzen, am Montag wird die Entnahme sein. Sie darf keinen Sport mehr machen, es könnte zur Stieldrehung kommen. Dabei schnürt sich der Eierstock die eigene Blutversorgung ab. Sie verzichtet auf einen Sprint, der Bus fährt ihr vor der Nase davon.

Er schreibt: „Wie war dein Termin?“ Und dann: „Oh, dann musst du die Spannung länger aushalten …“ Und dann: „Du bist sicherlich nervös?“ Sie kann ihm dabei zusehen, wie er versucht, sich in sie einzufühlen. Aber er versteht sie nicht. Denn er sagt auch Dinge wie: „Warum stresst du dich so? Wir haben doch noch alle Zeit der Welt!“

Sie zieht die nächste Spritze auf. Auf ihrer Bauchdecke zwanzig kleine Blutergüsse. Der 21. entsteht rechts über dem Nabel.

In den Nachrichten sieht sie die Bilder von der zerstörten Geburtsklinik, den Trümmern, der Schwangeren. Wie würde sie dem ungezeugten Kind erklären, dass es in einer Welt voller Kriege aufwächst, aber selbst in Frieden und Reichtum lebt? Muss sie es dann mit den Worten betäuben, es sei zu klein und unbedeutend, um etwas zu verändern?

 

  1. März

Sie fühlt sich, als trüge sie unzählige Kugeln aus hauchdünnem Glas im Bauch. Ihr Profil im Spiegel wirkt aufgebläht. Was sie gegessen hat, will nicht weiterrutschen. Fühlt sich so Schwangersein an? Sie denkt an Montag, stellt sich vor, wie jemand ein bis zur Decke hin zugestelltes Kellerabteil freiräumt.

Gestern waren sie auf der Verlobungsfeier von Freunden gewesen. Ein Bekannter des Pärchens hatte erklärt, dass Frauen, die mit 30 ihr erstes Kind bekämen, eigentlich schon zu alt seien. Sein Bauch hatte im Takt des Kopfschüttelns mitgeschwabbelt. Sie musste dabei an den Vater ihrer besten Freundin denken: Ihm haben sie beim Röntgen einen Strahlenschutz über die Hoden gelegt. Er ist fast 80.

Nachdem Männer ihre Zeugungskraft wie eine Waffe eingesetzt haben, wollen die vergewaltigten Frauen nicht nach Polen flüchten. Dort können sie nicht abtreiben. Wieder bestimmen Männer über den Körper der Frauen. Frauen sind stets Spielzeug der Mächtigeren. Sie will nicht mit sich spielen lassen.

 

  1. März

Als sie an der Reihe ist, zieht sie ihren Slip aus und tapst in Nachthemd und Socken zum Eingriffsraum. „Bitte auf den Stuhl setzen und die Beine in die Stützen legen!“, sagt die Ärztin. Der Anästhesist spritzt ihr ein Medikament. Anderen werden bei vollem Bewusstsein die Beine von Bomben zerfetzt. Sie bekommt eine Narkose, um die dünne Nadel beim Punktieren der Eibläschen nicht zu spüren.

Die Zeiger der Uhr sind kaum eine viertel Stunde weitergewandert, als sie erwacht. Sie wirft ihre Beine aus dem Bett, rückt die Füße zurecht. Ihr schwindelt, als sie versucht, sich anzuziehen. An der Rezeption bekommt sie die erste Rechnung. 830 Euro. Unschlüssigkeit kostet.

„Du siehst aus, als würdest du gleich weinen“, sagt ihr Freund. „Das sind bestimmt die Hormone, du bist ja vollgepumpt mit dem Zeug.“ Er muss schnell zur Arbeit zurück. „Denk dran, heute gehen wir mit Jens und Maria zum Bouldern!“ Sie nickt und sagt Nein. Natürlich sind es die Hormone. Zu Hause muss sie sich hinlegen, weil ihre Knie noch immer zittrig sind. Die Luft steht in ihren Darmschlingen, sie muss sich auf den Rücken drehen, um ohne Schmerzen zu atmen.

All das für den Fall, dass ein Kinderwunsch kommt.

Sie hat keinen Kinderwunsch.

Aber was, wenn doch?