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Bayerisch-tschechisches Netzwerktreffen 2022: „Spukhafte Fernwirkung“. Von Markus Ostermair

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© Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg

Unter dem Motto „Grenzen, Nachbarschaften, neue Stimmen“ setzte sich im Juni 2022 der Austausch zwischen tschechischen und bayerischen Autorinnen und Autoren fort, der 2011 auf gemeinsame Initiative des Literaturhauses Oberpfalz und des Prager Literaturhauses begann und sich Themen wie „Heimat“ und „Gewalt und Gedächtnis“ widmete. Das Treffen fand erstmals als Kooperationsveranstaltung des Adalbert Stifter Vereins (München), des Ceské Literarní Centrum (CLC) / Tschechischen Literaturzentrums (Prag) und des Literaturhauses Oberpfalz statt. In Sulzbach-Rosenberg trafen sich Ulrike Anna Bleier, Dora Kaprálová, Sophia Klink, Markus Ostermair, Markéta Pilátová, Jan Štifter und Jonáš Zbořil, unterstützt von den Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen Julia Miesenböck und Lenka Hošová.

Im Zentrum des dreitägigen Treffens standen Gespräche über aktuelle Schreibprojekte und Veröffentlichungen. Markus Ostermair, dessen Debütroman Der Sandler (2020. Osburg Verlag) im Münchner Obdachlosen-Milieu spielt, las eine Passage aus einem neuen Romanprojekt, das dem Bauernhof-Sterben und dem wenig beachteten Thema der Selbstmorde bei Landwirten nachgeht. Wir veröffentlichen im Folgenden seinen Bericht über das Treffen.

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Spukhafte Fernwirkung

Wir verstehen uns nicht. Eigentlich. Eigentlich verstehen nur wir sie nicht. Wir, das sind deutsche Autor*innen, die dankenswerterweise vom Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e.V., Adalbert Stifter Verein und Tschechischen Literaturzentrum in das Literaturhaus Oberpfalz eingeladen waren. Sie, das sind ebenfalls dorthin eingeladene Autor*innen aus der Tschechischen Republik, die mit einer Ausnahme alle Deutsch verstehen und sprechen. Das Austauschtreffen hatte also von Anbeginn an eine Schräglage, die wir mit Entschuldigungen für unsere Ignoranz versuchten wettzumachen – ich zumindest, und ich glaube, die anderen dieses partiellen Wirs auch. Rituale, Höflichkeiten, Beteuerungen. Freilich, das verstanden alle, es gibt Gründe, die jenseits individueller Versäumnisse oder Meriten liegen: historische – etwa rund um die Sprachinsel von Budweis und Umgebung, die bis ca. 1890 überwiegend deutschsprachig war, und natürlich das Zwangsprotektorat während der NS-Diktatur – und systemische, will sagen, die Dynamiken, die meist zwischen dem größeren und dem kleineren Land bestehen.

Also ging es los, auf Bierbänken im Freien, von ein paar Katzen umstreift, auf Deutsch und Englisch und Tschechisch, und zwischen uns saßen Dolmetscherinnen (Julia Miesenböck und Lenka Hošová), die überhaupt ­alles – wie Übersetzer*innen generell! – am Laufen hielten, und die für alle den Weg nach Sulzbach-Rosenberg zu einem lohnenswerten machten. Danke dafür! Wir verstanden uns, kann ich jetzt im Rückblick sagen, als wir nach und nach begannen, über unser Schreiben zu sprechen, über das Geschriebene und das noch zu Schreibende, obwohl unsere Stoffe und Themen, ja auch die Textgattungen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich waren. Es war zu viel, um es hier en Detail wiederzugeben, aber da war das Interesse eines Jan Štifters für die Schicksale der Menschen, die in Vertriebenenlagern oder auch in Mischehen lebten und stigmatisiert wurden. Und er erzählte von den Kaffeehäusern in Budweis Anfang des letztens Jahrhunderts, die eigentlich Bordelle waren, und von der Doppelmoral des Patriarchats mit den Vorstellungen von der keuschen, unwissenden Braut und dem Mann, der schon vor der Ehe Erfahrungen sammeln musste und wollte und konnte und durfte.

Da war das mal in Form von Gedichten, mal in Prosa gehaltene Nachdenken über das Leben an sich und dessen Grundlagen von der Biologin und Autorin Sophia Klink, die ihre Forschung in ihr von ecological grief getriebenes Nature Writing einfließen lässt. Da war die Offenbarung von Markéta Pilátová, die jahrelang in Südamerika gelebt hatte, dass dort wohl die Menschen aus Tschechien als das „atheistischste Volk“ in Europa gelten und dafür bedauert werden. Und da war ihr auch ins Deutsche übersetzter Roman Die dunkle Seite, der in der Tradition des magischen Realismus steht und dessen Sujet zwar stark magisch anmutet, aber doch tief in der historischen Realität verankert ist – mehr als man denkt. Denn nicht nur gab es die Hexenprozesse im Altvatergebirge – und nicht nur dort – Ende des 17. Jahrhunderts, sondern während des Kalten Krieges gab es auch die Institute zur Erforschung paranormaler Erscheinungen tatsächlich, und zwar sowohl in der Sowjetunion als auch in den USA. Und auch heute gibt es die Heiler- und Esoteriker*innen, die sich über mangelnden Zulauf nicht beklagen können. Und da waren die Erzählungen von Dora Kaprálová, die sich mit feinem Witz und Takt der Inselhaftigkeit der menschlichen Seele als z.B. jeweils individuellen „Inseln der begrenzten Hoffnung“ widmet und die von Heike Birke, ihrer Verlegerin aus dem BALAENA Verlag, begleitet wurde, sodass wir auch Einblicke in die im positivsten Sinne grenzüberschreitenden Tätigkeiten eines Verlags bekamen, der sich um tschechisch-deutschen Austausch bemüht.

Und schließlich war da der spukhafteste Moment von allen, als sich herausstellte, dass Ulrike Anna Bleier und Jonáš Zbořil sich exakt für dasselbe Phänomen interessieren, und zwar für die sogenannten Nicht-Orte, die meist nur eine festgelegte Funktion erfüllen und dem Menschen oft nur zum kurzfristigen Aufenthalt oder zum Transit dienen wie Bahnhöfe, Flughäfen, Passagen oder Unterführungen. Spukhaft deshalb, weil Bleiers nächster Roman Spukhafte Fernwirkung heißen wird und sich ebenfalls mit der Inselhaftigkeit der menschlichen Seele befasst, die ja dennoch auch und vielleicht gerade deshalb an Nicht-Orten in Wechselwirkungen zu anderen tritt. Dieser Begriff entstammt Albert Einsteins Resignation, weil er sich die quantenmechanische komplementäre Verschränktheit zweier Teilchen nicht erklären konnte, die zwar anfangs direkt miteinander wechselwirkten, dies aber auch noch tun, wenn sie sich weit voneinander entfernt haben. Als Ulrike ihr Projekt vorstellte und alles nach und nach ins Tschechische übersetzt wurde, fiel Jonáš ihr freudestrahlend ins Wort, weil er, der in seinem letzten Gedichtband nová divočina (The New Wilderness) ebenfalls seiner Faszination für Natur und seinem persönlichen ecological grief Ausdruck verliehen hatte, diese spukhaften Verschränkungen kaum fassen konnte. Stand ihr Projekt kurz vor dem Abschluss, so befand sich er noch ziemlich am Anfang, beim Sich-die-Sprache-Erschreiben, wie man diesen Nicht-Orten und dem, was sie mit den Menschen machen, auf die Spur kommen könnte. Und so erzählte ich ihm von meinem Debüt, das Straßenobdachlose ins Zentrum der Romanhandlung stellte, für die eben solche Orte des Transits zu Orten des Aufenthalts werden, gezwungenermaßen, was in den Seelen nicht ohne Spuren bleibt.

So weit entfernt wir auch voneinander wohnen und arbeiten, so unverständlich unsere Sprachen den anderen – und manchmal sogar uns selbst – auch vorkommen mögen, so sehr treiben uns doch die gleichen Fragen und Phänomene um in unserem Schreiben.

Eine wohltuende Erkenntnis in diesen seltsamen Zeiten des Nichtverstehens!

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