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06.09.2022, 18:00 Uhr
Peter Czoik
Deutsch-jüdische Gespräche
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© C.H. Beck

Rückschau: Gespräch mit Ingvild Richardsen über Grete Weils Roman „Der Weg zur Grenze“

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Grete Weil © Privatbesitz Schenkirz

Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern – So könnte ein deutsch-jüdisches Gespräch aussehen, das es laut Gershom Scholem bislang noch gar nicht gibt: „Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern.“ (Scholem, Judaica)

Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch stehen. Wir laden ein zum Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Autorinnen und Autoren über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Eine historische Rückschau innerhalb dieser Reihe bildet das Interview von Peter Czoik über Grete Weils ersten Roman Der Weg zur Grenze mit der Herausgeberin Dr. Ingvild Richardsen:

1944/45 im holländischen Exil entstanden und zum ersten Mal bei C.H. Beck veröffentlicht, steht dieser Roman einzigartig in der deutschen Literatur dar. Er erzählt die Geschichte der Münchnerin Monika Merton, einer deutsch-jüdischen Frau in den Dreißigern, die von der Gestapo gesucht wird und versucht, die deutsche Grenze illegal nach Österreich zu überqueren. Ihr Mann und Cousin, den sie mit 16 Jahren bereits kennengelernt hat, wird von den Nationalsozialisten ins KZ gebracht und ermordet. Es gibt viele Parallelen zwischen Grete Weil und ihrer Protagonistin, auch sind historische Erfahrungen, die Machtergreifung der Nazis und der wachsende Antisemitismus in Deutschland, in den Roman eingewoben. Der literarische Ruhm kam für Grete Weil allerdings erst spät. Die Erstveröffentlichung des Romans versucht Grete Weil wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. 

*

PETER CZOIK: Liebe Ingvild, Du forschst seit 2005 zu Frauenbewegungen, feministischen Themen, Erinnerungskultur, Jewish Heritage, NS-Zeit und modernen Kunstbewegungen. Was hat Dich dazu bewogen, der Schriftstellerin Grete Weil nachzuspüren?

INGVILD RICHARDSEN: Also, das fing schon an, als Du und ich damals die Ausstellung „Trügerische Idylle“ der Monacensia am Tegernsee besuchten, dann parallel dazu, als wir und Klaus Wolf uns überlegten, welche Spaziergänge wir für das Literaturprojekt TELITO machen. Angesichts der Tatsache, dass Grete Weil in Rottach-Egern geboren ist, hier geheiratet hat und auch ihr Grab dort liegt, und auch ihr Geburtshaus und ihr Elternhaus hier noch stehen, habe ich den Bürgermeister von Rottach in einem Gespräch gefragt: Wieso ist Grete Weil hier eigentlich nicht präsent? Sie könnten doch aus Rottach einen Grete Weil-Ort machen. Damals wurde mir bewusst, wie sehr Grete Weil vergessen ist, und dachte, eigentlich eine Schande, dass so eine bedeutende Schriftstellerin vergessen ist. Hinzu kam, dass ich ja im Zuge der Ausstellung, die wir 2020 für das Museum Tegernseer Tal gemacht haben, auch Themenschwerpunkte überlegten. Ich nahm mir vor, den Grete Weil-Nachlass in der Monacensia durchzusehen. Es war gerade Corona-Lockdown. Ich habe mir alles angeschaut, was ich sehen wollte, vor allem die unveröffentlichten Sachen und die Fotokisten. Ich wusste, dass dieser unveröffentlichte Roman existiert, hatte gelesen, dass Grete Weil angeblich nicht wollte, dass er veröffentlicht wird. Ich habe gedacht, komisch, nirgendwo findet sich ein richtiger Inhalt über den Roman wiedergegeben, niemand hat das wirklich genau gelesen. Und dann habe ich da Stunden im Archiv gesessen und ihn gelesen. Auch weil ich so schockiert war über den Zustand des halb verblichenen, nur noch schwer lesbaren Typoskripts und von der Widmung auf der ersten Seite, wo stand „Vergib mir“, von Grete Weils Widmung an ihren Mann Edgar Weil, ermordet am 17. September 1941 im KZ Mauthausen, hat mich das so reingezogen. Nach der Lektüre war ich völlig erschüttert. Es war mir sofort klar, dass es sich hier um ein einzigartiges Werk handelt und fragte mich, warum ist das nicht veröffentlicht? Es ist ein absolut wichtiger Roman – für Deutschland, für die Niederlande, international, für Bayern.

CZOIK: Wie ging es danach weiter?

RICHARDSEN: Ich habe erst einmal vorsichtig nachgefragt, beim damaligen Archivar der Monacensia, Frank Schmitter. Ich kontaktierte daraufhin Waldemar Fromm, fragte, wieso der Roman nicht veröffentlicht sei und ob er nicht in den Monacensia-Jahrbüchern nachschauen könne, worauf er meinte, er findet nur Auszüge. Ich habe die Stieftochter von Grete Weil in Berlin angerufen und zu ihr gesagt, dass ich den Roman gerne veröffentlichen würde, wer denn die Rechte hätte? Sie meinte, sie hätte sie, und erzählte mir, wie schwierig alles mit den Verlagen sei, dass sie nie über den Stand der Dinge richtig informiert werde. Dann habe ich zuerst beim S. Fischer Verlag angefragt, weil ich da schon publiziert hatte. Der Verlag hatte mittlerweile eine neue Leitung. Und dann habe ich alles Martin Hielscher vom C.H. Beck Verlag erzählt. Ich musste ein Exposé anfertigen, das im Verlag vorgestellt wurde, wo man in den Sitzungen relativ schnell entschied, dass der Verlag das Buch machen wollte.

CZOIK: Für den Roman bist Du ja extra in die Niederlande gefahren. Was hast Du dort entdecken können?

RICHARDSEN: Im Rahmen meines Grete-Weil-Spaziergangs für das Tegernseer Literaturprojekt TELITO ist mir nochmal bewusst geworden, wie wenig Grete Weil bekannt ist. Ich bin 2020 und 2021 sehr oft nach Amsterdam gefahren, habe mir dort ein Netzwerk aufgebaut, um Genaueres in Erfahrung zu bringen und auch um zu forschen. Im dortigen Widerstandsmuseum habe ich zum Beispiel den ganzen Nachlass von Herbert Meyer-Ricard gefunden, bei dem Grete Weil seit Herbst 1943 untergetaucht war. Ich habe ganz viel gefunden, auch Theaterstücke. Aber auch im Münchner Nachlass habe ich (unter „Korrigierte Nachschrift der Gespräche mit Herbert Meyer-Ricard in Blaricum”) eine Zusammenfassung über die von ihr 1943 in Amsterdam mitgegründete Widerstandsgruppe entdeckt. Ich wusste sofort, das ist in den Niederlanden, kannte alle Zusammenhänge. Ich hatte praktisch die Bausteine aus München und aus Amsterdam, niemand außer mir wusste zum damaligen Zeitpunkt über diese Pendants Bescheid. Aber ich kannte alles, weil ich halt auch die relevanten Leute in Amsterdam kenne und die mir Informationen und Material lieferten. Und weil ich natürlich auch Grete Weils Lebenserinnerungen für den TELITO-Spaziergang gelesen hatte, kannte ich darüber hinaus die Situation, in der sie diesen Roman geschrieben hatte – in Amsterdam Ende 1944 auf einer Speichertreppe. Das Haus habe ich dann auch gesucht, immer wenn ich in Amsterdam war, und auch die Speichertreppe gefunden.

Links: Grete Weil mit Kirche von Rottach im Hintergrund. Rechts: Grete Weil auf Skiern. (c) Archiv Monacensia

CZOIK: Lass uns etwas mehr über die Entstehungsbedingungen des Romans sprechen. Als Grete Weil ihren Roman schreibt, befindet sie sich in Amsterdam im Exil und gehört der Keimzelle der von ihr mitgegründeten Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland“ an. Was war das für eine Situation, in der sie diesen Roman schrieb?

RICHARDSEN: Seit dem Sommer 1944 bahnte sich so langsam an, dass der Krieg sein Ende findet und Hitler besiegt wird, aber das zog sich noch ewig hin, und dann kam ein ganz schlimmer Winter. Es gab nichts mehr zu essen, man konnte nicht mehr heizen, das Licht fiel aus, sie [Grete, Herbert und seine Freundin Vera Olga, Anm. d. Red.] hatten gar nichts mehr. Sie stritten nur und diskutierten, wohin sie gehen könnten, wenn der Krieg zu Ende ist. Und zersägten Stühle und Türen, um überhaupt noch heizen zu können. Grete Weil hat dann irgendwann die Speichertreppe entdeckt und festgestellt, das ist der einzige Platz, wo sie allein sein kann, sie hatte ja kein eigenes Zimmer, wo sie schreiben konnte. Die Treppe war der einzige Ort, wo es hell war, da es ja kein Licht im Haus mehr gab. Da hat sie sich auf die Treppenstufen gesetzt und den ganzen kalten Winter lang mit Hunger im Bauch die Geschichte in Hefte geschrieben. Dann kam die Befreiung im Frühjahr 1945. Grete Weil dokumentiert, dass sie den Roman in Hefte schrieb, später hat sie ihn wohl auch dort im Haus getippt. Es ist überhaupt eine ganz besondere Situation, dass dieser Roman nicht verloren gegangen ist in all den Kriegswirren. Diese ganze Situation hat mich irgendwie an Anne Frank erinnert, Ende des Weltkriegs im Exil, auf der Speichertreppe, kein Essen mehr, Grete Weils Mann war bereits 1941 von Amsterdam ins KZ Mauthausen deportiert worden, sie wusste nicht, wie es weitergeht, und dann setzt sie sich auf die Treppe und schreibt alles nieder, was sie erlebt hat in Deutschland, in München, am Tegernsee, in Berlin, schreibt über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Weimarer Republik und der NS Zeit. Doch in ihren Roman fließt auch ihr Leben seit 1935 in den Niederlanden ein, die Deportation ihres Mannes ins KZ und ihr Wirken im Widerstand. Weil es mich so erschüttert hat, gerade auch was mit Edgar Weil passiert ist, wie er von der Gestapo in Amsterdam gefangen genommen wurde und ins KZ Mauthausen nach Österreich deportiert wurde – woraus Grete Weil in ihrem Roman „Dachau” macht –, aber auch, dass sie daran auch eine gewisse Schuld trägt, weil sie diejenige war, die ihn auf die Beethovenstraat geschickt hatte. Angestachelt durch den Anruf einer Freundin, die sagte, es gebe gleich eine Razzia, schickte sie ihn weg, und genau in dem Moment wurde er aufgegriffen unweit ihrer Wohnung an der Straßenecke. Da habe ich mir gedacht, was muss ein Mensch aushalten, um diese Erlebnisse nochmal aufzuschreiben; ich glaube, ich könnte mich dem nicht aussetzen, dieser emotionalen Qual, sich das alles nochmals selbst zu vergegenwärtigen. Das hat mich wirklich tief beeindruckt. Ich war aber auch von dem Roman selber fasziniert, als ich ihn las.

CZOIK: Was macht den Roman formal und inhaltlich so besonders für Dich?

RICHARDSEN: Besonders macht den Roman für mich die Sprache, sie erinnert an den Expressionismus, aber es ist eine andere Art des Wiederaufnehmens, ein unglaublich schöner, intensiver, mitreißender Sprachduktus, den Grete Weil da verwendet. Dann natürlich die Rahmenhandlung, die Binnenhandlung, wie sie das Ganze strukturiert hat: die Rahmenhandlung, die 1936 spielt, wo Klaus Merton (der Mann der Protagonistin Monika Merton) schon tot ist, in Dachau umgekommen. Und dann aber auch zu sehen, wie Grete Weil beide Handlungsstränge parallel gestaltet, wie sie aus dem Autobiografischen etwas Fiktives macht. Aus einem Erinnerungsmosaik entsteht etwas völlig Neues, so dass es übertragbar ist, allgemeine Relevanz für den Leser erhält. Man kann sich dem gar nicht entziehen. Automatisch musst Du Dich als Leser damit auseinandersetzen. Was haben die Deutschen da gemacht? Wieso haben sie nicht frühzeitig gehandelt? Wieso haben sie das nicht erkannt? Und dann stößt man im Roman auch auf eine ganz große Intellektuellenkritik, zum Beispiel dort, wo die Protagonistin, die Münchnerin Monika Merton, von dem Schriftsteller Andreas von Cornides begleitet wird im Zug. Letztendlich kapiert dieser Dichter überhaupt nicht, was vor sich geht, lebt völlig an der Realität vorbei, nimmt diese gar nicht richtig wahr, und das schildert Grete Weil in dem ganzen Roman, das Aufkommen des Nationalsozialismus, wie dieser so ganz langsam in der 1920er-, 1930er-Jahren hier in München und am Tegernsee entsteht. Sie ist ja selbst in Tegernsee geboren. Im Roman schildert sie, wie sie an den Tegernsee rausfährt, wo vor Ort ein Schild steht „Juden sind unerwünscht“, und wie sie dann letztlich nach ihren Erlebnissen mit Andreas von Cornides in einer Berghütte über die Tegernseer Berge mit den Skiern über die Grenze nach Österreich flieht. Aber es ist die ganze Art, wie Grete Weil schreibt, wie sie eine Art Odyssee durch die Weimarer Republik veranstaltet, man versteht dadurch, wie der Nationalsozialismus hochkommt in München und am Tegernsee. Es schockiert einen total, wenn man hier selbst schon lange lebt und die Gegend kennt, dies alles so mitzuerleben, vor Augen geführt zu bekommen. Aber es kommt nicht nur München, sondern auch Berlin vor. Auch wenn Monika Merton im Laufe der Geschehnisse immer wieder erfährt, wer von den Freunden schon alles umgekommen ist durch die Nazis, verkennt auch sie die Realität, nimmt die Geschehnisse nicht wirklich ernst, ihr Freund Klaus auch nicht. Grete Weil zeigt durchgängig, wie viele Menschen das einfach nicht wahrhaben wollten und stets hofften und dachten, ach, wird schon alles nicht so schlimm werden. Es wird aber schlimmer und schlimmer und sie beide, Monika und Klaus, verpassen den geeigneten Zeitpunkt wegzugehen aus Deutschland.

CZOIK: Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Romantitel Der Weg zur Grenze?

RICHARDSEN: Den Titel Der Weg zur Grenze kann man wörtlich verstehen als den realen Weg zur Grenze nach Österreich, aber auch metaphorisch als den Weg zur eigenen inneren Grenze, die Grete Weil ewig nicht überschreiten konnte. Wo es ihr aber am Schluss doch noch gelingt, das alles wahrzuhaben. Das ist ein sowohl innerer als auch äußerer Prozess, der im Roman geschildert wird.

Grete Weil in späten Jahren. (c) Privatbesitz Schenkirz

CZOIK: Wie hängen Rahmen- und Binnenhandlung inhaltlich zusammen?

RICHARDSEN: Die Rahmenhandlung spielt wie gesagt 1936, da ist Monikas Mann schon tot, sie selber wird von der Gestapo gesucht. Die Handlung beginnt damit, dass sie im Zug sitzt, eigentlich auf der Flucht nach Österreich ist und mit Skiern über die Tegernseer Berge will. Und da sitzt auch der junge Lyriker Andreas von Cornides, der sehr blauäugig ist. Der kriegt im Laufe der Zugfahrt und während er sie begleitet mit, dass da irgendwas nicht stimmt, was ganz klar wird, als sie beide in Tegernsee ankommen, wo ihnen das Schild „Juden unerwünscht“ entgegentritt, und wo er plötzlich realisiert, als hier Monikas Mutter ihr entgegenkommt, dass Monika Jüdin ist. Statt dass er mit seinen Freunden eine Skitour macht, schließt er sich ihr an, sie landen zwei Tage lang auf einer Berghütte, wo ihm Monika ihre ganze Geschichte erzählt, was sie erlebt hat. Die Liebesgeschichte von ihr und ihrem ermordeten Mann in Dachau, wie sie groß geworden ist in München, wie sie sich sechzehnjährig in ihren Cousin Klaus verliebt, der später Dramaturg an den Münchner Kammerspielen wird. Sie erzählt ihm alles, dem weltfremden, unbedarften Lyriker, der von nichts eine Ahnung hat und gar nicht erkennt, wie schlimm die Nazizeit ist. Erzählt alles, was und wie es abgelaufen ist aus ihrer Sicht und auch von der Ermordung ihres Mannes in Dachau. Und da erst begreift er. Sie macht das ganz gezielt, man kann Andreas von Cornides Synonym setzen für all die Leser oder Menschen, die genauso blauäugig waren und sind und nicht begreifen wollen. Sie entfaltet die Geschichte ganz langsam, lyrisch sehr schön, auf eine Weise, dass man von jeder weiteren Situation an immer schockierter wird. Das macht sie wirklich sehr geschickt.

CZOIK: Es heißt ja im Buch an einer Stelle: „Ein Mensch ohne Politik ist wie ein Schlafwandler – über kurz oder lang wird er von seinem Dach herunterfallen...“

RICHARDSEN: Ja, das ist ein absoluter Schlüsselsatz für mich, den habe ich auch in meinem Nachwort drinnen, weil sie selber sehr unpolitisch war, diese Monika Merton. Grete Weil will vermitteln, dass viele Intellektuelle, die alles Mögliche schreiben, mit ihren Werken an der Realität vorbeigehen. Das ist so, dass sie sagt, wer sich nicht mit Politik auseinandersetzt, die Augen aufmacht und realisiert, was wirklich Sache ist, der wird den Bach runtergehen, wird umkommen. Und sie schildert dann immer wieder Situationen: Ihr Freund wird ermordet, Hans Hauser, eine Freundin, von den Nazis in Berlin, und noch immer realisiert sie es nicht richtig, glaubt noch immer an höhere Ideale. Und wie sie auch schildert, wie die Ehe scheitert in Berlin, und einen Selbstmordversuch macht. Eine Situation nach der anderen hat man das Gefühl, man erlebt das wirklich mit, so schreibt Grete Weil. Das führt natürlich dazu, dass Du Dich als Leser komplett damit auseinandersetzst und fragst, ja, wie kommt das? Wieso reagieren die Leute so, wieso verhalten die sich so. Das war ja auch Grete Weils Ziel, die Deutschen in einen Dialog zu ziehen, damit sie sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen und mit dem Holocaust. Die späteren Romane handeln vor allem von der niederländischen Deportation. Aber dieser Roman ist der, der in München und Bayern spielt und wie der Nationalsozialismus dort hochkommt, also noch eine Vorstufe davon. Gleichzeitig fließt Grete Weils Wissen aus dem Widerstand mit ein und aus dem, was sie in Amsterdam erlebt hat. Das heißt, in diesem Roman ist einfach unglaublich viel verarbeitet, von den ganzen Umständen, die sie von Amsterdam her kannte. Wie sie das gemacht und konstruiert hat, dafür habe ich nur die höchste Bewunderung übrig.

CZOIK: Wieso hat Grete Weil den Roman trotzdem unter Verschluss gehalten?

RICHARDSEN: Das kann man so gar nicht sagen. Das wird behauptet von anderen Leuten, aber das stimmt nicht. Grete Weil hat auch selbst versucht ihren Roman zu veröffentlichen, hat nach 1945 dafür auch den Schriftsteller Bruno Frank um Hilfe gebeten. Außerdem habe ich dazu auch ihre Stieftochter befragt, die sofort der Veröffentlichung des Romans zustimmte. Grete Weil hat ja selber geschrieben, wie schwer das für sie war, nach Deutschland zurückzukommen und zu erleben, dass jahrzehntelang niemand in Deutschland ihre Romane wollte. Sie hat zuerst versucht, Ans Ende der Welt zu veröffentlichen, eine Deportationsgeschichte aus Amsterdam, die sie nicht in Westdeutschland hat unterbringen können, sondern nur in einem ostdeutschen Verlag. Irgendwann hat sie es dann geschafft, den Roman Tramhalte Beethovenstraat in Deutschland zu publizieren, 1963, aber es gab kein großes Interesse, niemand wollte das haben, die Deutschen wollten sich einfach nicht mit der NS-Zeit auseinandersetzen, haben wieder und weiter die Augen verschlossen. Erst 1980, ganz spät, ist sie mit Meine Schwester Antigone, den sie aus Enttäuschung über Deutschland in der Schweiz veröffentlichte, als sie schon 75 Jahre alt war, in Deutschland bekanntgeworden und hat etliche Preise bekommen. Sie hat auch in Interviews später oft gesagt, es sei ein Skandal, dass Deutschland jahrzehntelang nicht vorher ihre Romane wahrnehmen wollte. Vielleicht hat sie auch keine Kraft mehr gehabt, den Weg zur Grenze noch zu veröffentlichen. Wenn man die Fotos sieht, wo sie ganz alt ist, erkennt man schon, dass sie da sehr kraftlos war, da hat sie sich mit dem Alter auseinandergesetzt, auch in anderen Werken. Ich finde diesen Roman aber als einen der großartigsten von ihr. Dieser hat mich am meisten angesprochen, weil er, und das machen die anderen eben nicht, das ganze Aufkommen der NS-Zeit schildert und weil man es so miterlebt und plötzlich versteht, warum es passiert ist.

CZOIK: Vielen Dank für das Gespräch.