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07.01.2022, 13:26 Uhr
Nathalie Frank
Comic & Graphic Novel
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Foto: Mithila Borkar

„Rückkehr nach Nürnberg“. Ein Comicprojekt von Nathalie Frank (1)

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(c) Nathalie Frank

Nathalie Frank (*1984) studierte Politikwissenschaften in Frankreich, wo sie auch aufgewachsen ist. Seit 2011 lebt sie in Berlin und arbeitet als Comic-Autorin sowie als Kulturreporterin (arte Journal). Ihr aktuelles Comicbuchprojekt Rückkehr nach Nürnberg handelt davon, wie ihr diese Reise, die "Rückkehr" nach Nürnberg den Weg dafür bereitete, sich mit ihrer deutsch-jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. 

Das Literaturportal Bayern begleitet den Entstehungsprozess dieses Projekts in Form einer Vorabpublikation mit freundlicher Genehmigung der Autorin – Folge 1.

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Lange war unsere deutsche Geschichte kein Thema, in der französischen Familie, in die ich geboren bin. Meine Großeltern väterlicherseits, die Franks, wohnten in Paris und sprachen nur Französisch – obwohl sie beide in Deutschland aufgewachsen waren, vor der Flucht ihrer jeweiligen Familien in den 1930er-Jahren.

Kein Wunder, dass mir die Verbindung unbewusst war, als ich 2011 nach Berlin umgezogen bin. Und dass ich nicht erwartet habe, dass ein paar Jahre später ein Besuch in Nürnberg, der Heimatstadt meines Großvaters, mich emotional so aufwühlen würde. Da ist etwas, das bisher in der Familie verdrängt worden war: die Trauer um die Heimat Deutschland.

Das Buch erzählt diese späte transgenerationelle Aufarbeitung, die zu einem unumkehrbaren Perspektivwechsel führt: vom fremden Land zum Herkunftsland Deutschland, auf dem Weg zur neuen Selbstbehauptung.

Die Aufarbeitung dieses unbequemen Erbes eröffnet neue Perspektiven zur Frage von Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühlen. Dies erscheint mir umso wichtiger in einer Zeit, in der nationalistische Diskurse und menschenfeindliche Bewegungen in ganz Europa zunehmen. Wie können wir dagegen handeln, wenn wir noch vom 2. Weltkrieg traumatisiert sind?

In den Comics drückt sich meine Perspektive auch durch das Zeichnen aus. Nürnberger Straßen werden zuerst leer dargestellt – von mir als leer empfundene Orte, seitdem meine Familie weg musste. Langsam füllen sich die Straße mit Menschen aus der Gegenwart. Die Erzählung mischt Spaziergänge in der Stadt mit abstrakten Gedanken, fantasievollen Rekonstruktionen und Archivdokumenten.

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„Was war Deutschland für Dich, vorher?“ fragte mich meine deutsche Freundin S., als ich verzweifelt von meiner ersten Reise nach Nürnberg zurückkehrte.

- Ein fremdes Land, in dem ich wohne. Ich bin ja Französin.
- Und was ist es jetzt? Die Frage hat den richtigen Punkt getroffen, ich musste weinen.
- Es ist mein Herkunftsland, das mich nicht will. Ich will sofort meinen Namen wechseln!!!
- Warte mal ab, was es mit dir in den nächsten Monaten macht, bevor du das tust, riet mir S. Und so begann ich, dieses Buch zu schreiben.

Ich heiße Frank und habe 35 Jahre gebraucht, um wahrzunehmen, dass mein Name für „Franken“ steht, dieses deutsche Gebiet, wo mein jüdischer Großvater geboren ist, und um mich für einen Ausflug dorthin zu entscheiden. Doch angesichts des emotionalen Tornados, den ich auf dieser ersten Reise erlebt habe, verstehe ich heute, dass ich „nicht in Eile war“ und unbewusst auf die Bremse trat, um mich nicht zu überfordern.

Das Buch erzählt von diesem Tornado, der sich um zwei Reisen nach Nürnberg dreht, ungefähr ein Jahr voneinander entfernt – ein Jahr, um die Verlegung von Stolpersteinen für die Familie zu organisieren. Ein Jahr, um zu verstehen, zurück in meiner Wahlheimat Berlin, dass es sich um einen Trauerprozess handelt, der bis jetzt in der Familie verdrängt worden war: die Trauer um die Heimat Deutschland.

Hier kommen das Schreiben und das Zeichnen ins Spiel: Das Buch entsteht aus einem starken persönlichen Bedürfnis, diesem Prozess eine künstlerische Form zu geben, die wiederum neue Perspektiven eröffnet. Mit dem Erzählen werden die festen Selbstbilder aufgelöst und in Bewegung gesetzt.

Die Struktur des Buches orientiert sich lose an die vier Phasen von Trauer, die die Psychologin Verena Kast identifiziert hat: Nicht-Wahrhaben-Wollen, Aufbrechende Emotionen, Suchen/finden/sich trennen, und Neuer Selbst- und Weltbezug. Wie ist es, wenn der Verlust nicht eine Person ist, sondern eine Heimat? Es ist auch zu beachten, dass dieser besondere Trauerfall auch kollektive, politische und traumatische Dimensionen hat.

Jeder Phase entspricht ein Kapitel, das von einer „Postkarte aus Nürnberg“ eingeleitet wird. In den jeweiligen Kapiteln mischen sich mit der Haupterzählung Rückblenden aus der Familiengeschichte, fantasievolle Rekonstruktionen und abstrakte Gedanken.
Die Trauer wird erst nach und nach als solche interpretiert: Am Anfang herrscht Verwirrung und Ratlosigkeit.

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Prolog: Auf der Suche nach dem alten jüdischen Friedhof

Wir – meine Eltern und ich – suchen den alten jüdischen Friedhof, wir haben die Adresse. Wir sind auf der richtigen Straße, doch es ist nichts zu sehen, was an einen Friedhof erinnern konnte. Wir fragen eine, zwei, drei Personen. Die vierte Person ist ein älterer Mann, der weiß es: Wir müssen auf die andere Seite, einmal um die Häusersiedlung, da ist rechts ein Parkplatz, von dort aus sollten wir schon Gräber sehen, ein Stück der Mauer ist niedriger... Das stimmt. Wir klettern drüber und spazieren zwischen den Gräbern – mehrere tragen meinen Namen: „Frank“.

Das ist der Auslöser. Also hier komme ich her. Ich komme von irgendwo her. Und diese Welt – die meiner Vorfahren – gibt es nicht mehr. Sogar der alte Friedhof ist ohne Hinweis hinter einem Parkplatz versteckt.

Hier fängt die Transformation der Wahrnehmung an: Die Herkunft war bislang ein vages Wissen, jetzt wird sie hautnah erlebt.

 

Die hier gezeigten Seiten wurden von Amcha Deutschland e.V. im Rahmen des Projektes „Hakara – transgenerationalem Trauma begegnen“ finanziert.

Dank an das Stadtarchiv Nürnberg für die freundliche Genehmigung zur Nutzung der Archivbilder.