Info

#SiXHOURSLATER. Bericht aus Québec (6)

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2021/klein/1_Piscine_au_Saint-Charles_500.jpg
Schwimmbad am Saint-Charles. Alle Fotos © Bleier

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Die diesjährige Stipendiatin ist die aus Regensburg stammende Autorin Ulrike Anna Bleier. Im Literaturportal Bayern berichtet sie regelmäßig über ihren Aufenthalt. Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

*

Eine Leserin hat mir geschrieben, dass sie einen Ort nicht nur nicht nur über optische Eindrücke oder Ästhetik definiere, sondern gerade an diesen so bezeichneten „Nicht-Orten“, Gerüche und Temperatur, Menschenmassen oder Menschenleere wahrnehme.

Dadurch dass sie also Nicht-Orte mit Gerüchen verbinde, würden diese zu Orten. Sie schickte mir auf meine Bitte hin ein paar Beispiele, weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, welche Gerüche so eine Transformation auslösen könnten. Sie nannte beispielsweise den tropischen Duft eines Flughafens in Taiwan, den Popcorn-Duft eines Cineplex Centers und eine Brücke in Montreal, auf der es nach frischem Wasser rieche.

Chlorgeruch und Sommerferien

Als ich Wasser las, fiel mir dann doch noch der Chlorgeruch im Schwimmbad ein, mit dem ich sofort Sonne, Pommes, Ferien und die Clique mit meinen vielen Freund*innen assoziiere – dabei hatte ich gar keine Clique und war überhaupt als Kind nur viermal in einem Schwimmbad, einmal ging ich verloren und musste ausgerufen werden, was mir meine Eltern lange nicht verziehen haben, und ein anderes Mal wäre ich beinahe ertrunken, weil ich noch nicht gut schwimmen konnte (wie auch, wenn man nie ins Schwimmbad geht) und der Beckenrand von vielen rastenden Menschen bevölkert war und ich nicht wusste, wo ich mich festhalten sollte. Erst als Erwachsene habe ich im zarten Alter von 46 Jahren richtig schwimmen gelernt, aber nur, um Schwimmerbecken schreiben zu können.

Trotzdem denke ich bei Chlor an das Freibad, das für mich eine tolle Kindheitserinnerung hätte sein können und allein die Möglichkeit, die der Chlorgeruch beinhaltet, verwandelt diesen Nicht-Ort in einen richtigen Ort, der mit einer Geschichte und einer Erinnerung verknüpft ist. Das Freibad, das ich direkt am Saint-Charles-Fluss gesehen habe, ist so ein Ort. Ich bin mir sicher, alle Menschen hier lieben es (werde morgen gleich mal unter den Québecois rumfragen).

Dagegen weckt das Schwimmbad in meinem Appartement-Haus in Québec, das ich tatsächlich zum Schwimmen nutze, in mir keinerlei Gefühle. Dass es sich um einen klassischen Nicht-Ort handeln muss, erkenne ich daran, dass die Leute nicht grüßen – selbst, wenn man nur zu zweit oder zu dritt im Schwimmbad ist. Natürlich könnte ich zuerst grüßen, aber sie schauen sofort weg, wenn sie meine Absicht auch nur erraten, also schwimme ich meine Bahnen und denke mir Texte für den Blog aus.

Schwimmbad im Appartmenthaus

Momentan findet hier das Literatur-Festival Québec en lettres statt. Überall hängen Transparente und Poster, auf denen kurze Prosatexte stehen oder Gedichte, es ist ein Festival, das im öffentlichen Raum stattfindet – im Park, im Museum, im Literaturhaus, in der englischsprachigen Bibliothek, im Kino und auf der Straße – und während ich schwimme, träume ich von einem Literaturfestival im Einkaufszentrum. Ich würde an die Menschen Kopfhörer verteilen, und während sie einkaufen, können sie Geschichten hören und auf ihrem Einkaufsbon stehen unter den Zahlen Gedichte, und in den Geschäften können sie ihre Einkaufszettel gegen Prosatexte tauschen, und an den Springbrunnen sitzen Menschen und schreiben über Gerüche, die den Ort verändern.

Literaturfestival

Wer Lust hat, mit mir ein Literatur-Festival im Einkaufszentrum zu organisieren, bitte umgehend melden!

Danke an die Leserin, die die Düfte liebt, sie hat mir sehr geholfen. Und jetzt ein Gedicht über eine Treppe.

 

Über Treppen

Wie soll ich ein Gedicht
über Trep-
pen schreiben, wo ich
noch nie ein Gedicht
über Trep-
pen geschrieben habe,
und auch nicht über,
auf, unter oder neben Trep-
pen. Aber irgendwo
muss ich ja
anfangen mit dem Gedicht, um
auf die Gedicht-Trep-
pe zu gelangen, um
aber schon auf der ersten Stufe stehen

zu bleiben,
oder unter oder neben,

oder drüber, nur kann ich das an dieser Stelle schon gar nicht mehr darstellen, ohne wieder zurück-
zugehen
und
alles
zu
löschen
und ohne mich zu fragen
was ist das eigentlich,
auf, über,
unter und neben,
was ist das eigentlich,
eine Trep-
pe, verbindet sie
Anfang und Ende
oder ist sie einfach
nur das Minus
dazwischen.