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Kinder im Lyrik Kabinett

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6. Klasse des Gymnasiums Traunreut im Lyrik Kabinett, 2016 (©Teresia Bauer)

Die 139. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema In Worten wohnen. Christine Knödler berichtet darin über Workshops für Kinder und Jugendliche im Lyrik Kabinett München.

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Können Worte die Welt verändern? Unbedingt. Das zeigen die Workshops für Schüler*innen im Lyrik Kabinett München, die ich seit nunmehr fünf Jahren leiten darf. »Wort vor Ort« heißen sie, weil das Lyrik Kabinett eine wesentliche Rolle spielt. Hier ist nicht Schule. Hier ist die Kreativität zu Hause, wie es einmal ein Kind so treffend formuliert hat. Fotos von Dichter*innen, Zeichnungen, Gemälde hängen an den Wänden. Bücher in Lehm getaucht, sind Kunst, die meisten stehen in Regalen. Einige sind vergittert und mit Vorhängeschlössern gesichert. »Warum sind die Bücher eingesperrt?«, fragen die Kinder. Schon sind wir mittendrin – denn darüber lassen sich Gedichte schreiben: über Wörter hinter Gittern. Oder über Menschen, die nicht frei sind?

Es sind Anfänge von Geschichten. Ideen sind überall, sie liegen in der Luft. Man muss nur die Augen offen halten: Den Boxsack gleich neben der Bühne hat Ursula Haeusgen, die vor über 30 Jahren das Lyrik Kabinett ins Leben gerufen hat, selbst benutzt. »Dürfen wir draufhauen?«, fragen die Kinder und natürlich besonders die Jungs. »Nein, das dürft ihr nicht. Aber ihr dürft darüber schreiben.« Und das tun sie dann auch. Der Boxsack wurde Ausgangspunkt eines Gedichtes über ein Gefühl, das niemand haben will. Johann, 14 Jahre, schrieb: »Die Fäuste meiner Ängste // schlagen durch den Regen.«

Wie er darauf gekommen ist? Ich weiß es nicht. Aber ich staune jedes Mal aufs Neue, wie die Schüler*innen zu den Gegenständen und Bildern eigene Sprach-Bilder erfinden, wie sie sich inspirieren lassen, mit Silben jonglieren, mit der Sprache spielen, mit Tempo, Klang, Rhythmus, Reim. Und wie sie sich wundern, wenn sie wahrnehmen, dass es manchmal nur wenige Buchstaben braucht, um woanders zu landen als da, von wo man ausgegangen ist. Dann ergeben Wörter einen anderen Sinn. Oder Unsinn. Oder Tiefsinn. Wahnsinn!

Es sind Sprungbretter. Flügel. Fallschirme. Netze. Sicherheitsnetze. Sie nehmen kein Ende, die Assoziations- und Wortketten, die so kostbar sind, nicht zuletzt, weil sie vormachen, wie vielschichtig, präzise, leichtfüßig, wie frei Sprache sein kann. Und damit: unser Denken. Und dass das alles ein großes Vergnügen ist. Und ganz nebenbei erfahren die Kinder, dass Sprache auch ein Material ist und Sprachbeherrschung ein Handwerk. Das kann man üben!

Gedanken verschenken

In den drei Stunden, die die Workshops dauern und an denen inzwischen knapp siebzig Klassen von der Hauptschule bis zum Gymnasium teilgenommen haben, lernen die Schüler*innen das Lyrik Kabinett und die Lyrik kennen. Wir lesen Gereimtes und Ungereimtes aus allen Epochen. Wir sprechen darüber, wie man Gedichte schreiben, vortragen, verstehen kann – nämlich jede und jeder auf seine Weise. Wir machen uns warm fürs Dichten, sammeln beispielsweise Reimwörter, springen zusammen von Wort zu Wort, als hüpften wir auf Kieselsteinen durch einen Fluss. Wir balancieren. Wir ringen auch miteinander. Wir lachen viel. Wir hangeln uns an Stilmitteln und Reimformen entlang: an Assonanzen, Alliterationen, Kreuz- und Paarreimen.

Doch darauf kommt es nicht an. Die Schüler*innen dürfen unbekümmert losschreiben über das, was sie beschäftigt: Fußball, Computerspiele, Familie, Freundschaft, Liebe, Wind, Wetter, Wut. Alles hat Platz. Alles kommt vor.

Besonders mag ich die Momente, wenn die Kinder auf ihren Gedanken rumkauen wie auf Stiften, um ihre Gedichte zu Papier zu bringen. Die Köpfe rauchen. Zeit wird's für eine Pause! Doch zuweilen kehren sie von weit her zurück, manchmal fragen sie: Dürfen wir auch weiterschreiben?

Dürfen. Wir. Weiter. Schreiben. Im Ernst? Ja! Und das, obwohl an den Workshops nicht nur Kinder teilnehmen, die gerne schreiben. Für viele ist es eine Zumutung. Umso bewundernswerter ist ihr Mut, mit dem sie sich zu erkennen und immer wieder auch preisgeben. Selbst dann, wenn Ideen sich zunächst verstecken. Wie kürzlich, als ein Junge sagte: »Ich habe keine Fantasie!« – »Wer hat dir denn das eingeredet?«, wollte ich wissen und schlug ihm vor, genau das zum Thema seines Gedichts zu machen. Das ging am Ende so:

»Ich habe keine Fantasie. // Aber ich habe Beine und Knie. // Habe Augen und Ohren // und Haut mit Poren. // Ich kann mich bücken // hab einen Rücken. // Und einen Bauch // hab ich auch. // Mein Kopf ist rund, wie gemacht zum Denken. // Dann kann ich meine Gedanken verschenken // und die Fantasielosigkeit versenken.«

So sind sie, die Kinder: Sie lassen sich ein mit Haut und Haaren. Sie schreiben sich von der Seele, schreiben sich frei. Froh und stolz betreten sie im Anschluss die Bühne und lesen ihre Gedichte vor. Die anderen hören zu, wir besprechen die Texte. Das ist lustig, traurig, berührend. Manchmal wird es ganz still. Vor lauter Sprachspiel und Sprachgewalt kann es einem die Sprache verschlagen.

Denn das ist, was Lyrik vermag. »Wort vor Ort« macht es unmittelbar erfahrbar: Gedichte haben immer auch mit uns zu tun. Sie schärfen die Sinne, die Worte, die Gedanken. Sie lassen Raum für eigene Gefühle und Erfahrungen. So etwas vergisst man nicht. Darauf kommt es an.

Warum das so ist? Vielleicht, weil man in Worten wohnen kann. Weil ein Wort das andere gibt und sich so der eigene Horizont wie von selbst erweitert. Dann lässt man sich nicht mehr so leicht ein X für ein U vormachen. Dass daran über die Jahre um die 1.800 Schüler*innen teilhaben konnten, ist ein Glück. Und es ist wichtig – nicht nur für die Welt der Bücher.

»Wort vor Ort«, ein Modul des pädagogischen Projektverbunds »Lust auf Lyrik«, wird vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und von der Waldemar Bonsels Stiftung gefördert. Christine Knödler ist Journalistin, Kritikerin und Herausgeberin mehrfach ausgezeichneter Gedicht-Anthologien, etwa Mal deine Wünsche in den Himmel (Prestel 2012).