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Afraa Batous beim Internationalen Kulturfestival 'Acht Mal Ankommen'

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Afraa Batous © Verena Kathrein

Auf Betreiben einer Reihe von Münchner Kulturschaffenden werden unter dem Motto Meet your neighbours seit April 2016 einmal im Monat Menschen vorgestellt, die auf der Flucht nach München gekommen sind. Die Reihe ist unter dem Dach des Aktionsbündnisses Wir machen das entstanden. Ende Februar hat Meet your neighbours ein großes internationales Lese- und Kulturfestival in der Monacensia im Hildebrandhaus veranstaltet – mit Neuankömmlingen in Bayern aus 25 Jahren. Auch das Literaturportal Bayern war daran als Kooperationspartner beteiligt.

Silke Kleemann stellte an diesem Nachmittag die syrische Theaterregisseurin und Filmemacherin Afraa Batous vor. Sie wurde 1986 in Aleppo geboren und lebt seit August 2016 in Nürnberg. In Aleppo arbeitete sie nach Abschluss ihres Studiums fünf Jahre am Theater. Ihre experimentelle Theaterperformance Who Have Seen Is Not Like Who‘s Not wurde 2012 in Jordanien uraufgeführt, 2014 drehte sie einen ersten dokumentarischen Kurzfilm. Ihr Dokumentarfilm Skin, der zwei ihrer syrischen Freunde auf dem Weg ins Exil begleitet, gewann 2016 auf dem Malmö Arab Film Festival den Jury Award. Afraa Batous ist auch für das unabhängige syrische Dokumentarfilmportal Biddayat tätig. Den folgenden Text hat sie beim Festival in der Monacensia vorgetragen.

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My name is Afraa Batous, I am Syrian and I want to surrender myself

 

„Mein Name ist Afraa Batous, ich bin aus Syrien und ich möchte mich stellen.“

Diesen Satz, so sagte mir im August 2016 mein Cousin, der schon ein Jahr früher nach Deutschland gekommen war, solle ich sagen, sobald ich den „Surrendering Point“ am Asylbewerbercamp in Nürnberg erreiche. Zwei Tage lang wiederholte ich den Satz unbewusst immer wieder in meinem Herzen, bevor ich zu dem Camp ging, und es fühlte sich nach nichts an bis zu dem Moment, als ich an den Sicherheitseingang trat, wo man normalerweise seine Papiere zeigen muss, um ins Camp zu kommen und den Asyl-Vorgang in Gang zu bringen ...

Ich erinnere mich bis ins kleinste Detail an diesen Moment, an das Wetter und den kühlen Wind, an das Gesicht des Sicherheitsbeamten im Wachhäuschen, der der erste Mensch war, mit dem ich in diesem Camp Kontakt hatte, an das Geräusch des Schubfachs, in das ich meine Papiere legen musste, bevor ich hinein durfte, an den echoartigen Klang meiner Stimme und an die Stimme des Sicherheitsbeamten, der mich durch das Fenster des Wachhäuschens freundlich aufforderte, meine Papiere in das Schubfach zu legen und zu warten, an das Gesicht meines Cousins, der mir zum Abschied zuwinkte und mir Mut machte, alles wird gut, sagte er, während ich zögernd auf den so genannten „Surrendering Point“ zulief.

Während ich den Satz wiederholte oder überhaupt auf meiner ganzen Reise zum Asyl hatte ich ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, irgendeine heftige Reaktion zu zeigen, ich dachte, ich sei schon seit Jahren bereit zur Übersiedlung nach Europa. Doch als es wirklich passierte, wurde ich innerhalb weniger Minuten tausendfach zu allen kritischen Momenten zurückversetzt, die ich in meinem bisherigen Leben durchgemacht hatte.

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1990, Aleppo – Syrien. Ich bin fünf Jahre alt und stehe an der Eingangstür unserer Wohnung, klammere mich an das Kleid meiner Mutter und bettele, dass sie mich mit meinen älteren Schwestern zur Schule gehen lässt. Sie beugt sich zu mir runter und erklärt mir, dass ich noch ein Jahr brauche, bevor auch ich in die Schule gehen darf.

Ich erinnere mich, dass ich das ganze Jahr lang jeden Morgen weinte, während meine Schwestern eilig zur Schule liefen, und dass ich den ganzen Tag lang von unserem Balkon aus, der genau oberhalb der Schule war, auf den Schulhof starrte, bis meine Schwestern wieder nach Hause kamen.

Im nächsten Jahr war ich so weit und durfte in die Schule, und ich weinte das ganze Jahr lang in der Schule, weil ich wieder zurück nach Hause auf den Schoß meiner Mutter wollte.

 

Impressionen des Festivals von ©  Laura Velte

 

2009 Aleppo – Syrien. Ich stehe in der großen Halle der Universität, halte die Hand von meinem Freund Hosin und suche auf der Liste der Graduierten aufgeregt nach meinem Namen. Plötzlich schreit Hosin laut: „Du hast es geschafft, du hast bestanden!“ Ich starre auf meinen Namen, dann beginne ich zu weinen. Hosin lacht und fragt mich, „Warum weinst du? Vor zwei Minuten hast du noch gebetet, deinen Namen auf der Graduiertenliste zu sehen“. Ich antworte: „Ich weiß es nicht, ich gehöre hier nicht mehr hin, ich muss jeden einzelnen Moment und jede einzelne menschliche Erfahrung, die ich hier gemacht habe, zurücklassen und muss jetzt irgendwo anders hin.“

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2011 Aleppo – Syrien. Ich treffe mich mit Freunden, um dorthin zu gehen, wo die erste große Demonstration in Aleppo stattfinden soll. Mein Herz schlägt schnell und hart, die Augen sind weit auf, vor Angst kann keiner von uns ein Wort sagen. Wir sind in der schreckenerregendsten Stadt in der Geschichte der syrischen Revolution, und hier geht es um eine große Demonstration, die den ganzen zentralen Platz von Aleppo füllen soll, und das heißt, dass mit einer blutig-barbarischen Reaktion von Seiten des Regimes zu rechnen ist.

Einer meiner Freunde sagt, dass wir in ein nahe gelegenes Viertel gehen sollen, um andere Freunde abzuholen, bevor wir den Hauptplatz erreichen. Wir kommen immer näher an den Ort, wo wir die anderen Freunde treffen sollen, ich schaue beim Gehen auf den Boden, zähle wie üblich die Gehwegplatten, um den Stress zu vergessen ...

Wir kommen an eine Kreuzung, ich schaue auf und sehe von der linken Seite der Kreuzung meinen Vater kommen, und auf der rechten Seite der Kreuzung taucht mein Bruder auf – das also sind die erwarteten Freunde. Keiner von uns hat den anderen zuhause etwas davon gesagt, dass er an der Demonstration teilnehmen will, denn aus Sicherheitsgründen muss man diese Verabredungen geheim halten. Wir sehen einander ins Gesicht und lachen laut und ängstlich.

Ein Freund ruft an und sagt, wir sollen noch ein wenig warten, denn Gerüchten zufolge hat das Regime etwas von der Demonstration mitbekommen. Wir gehen alle zusammen in ein Café in der Nähe, wo wir sonst auch immer hingehen. Wir sitzen an einem großen Tisch und reden lustiges Zeug, um die Panik abzuschütteln.

Auf einmal ruft der Freund wieder an und sagt, wir sollen uns zum Ort der Demonstration bewegen. Mein Vater, der gleich neben mir sitzt, lehnt sich noch ein Stück näher, schaut mir direkt in die Augen und sagt: „Ich glaube, es ist besser, wenn du nicht mit uns gehst, es ist noch zu früh für dich, wir wissen nicht, wie sie dich benutzen werden, um uns zu schwächen“. Ich erinnere mich nicht, wie ich zustimmte, nicht mitzugehen; ich erinnere mich nur, dass ich auf dem Balkon des Cafés saß und die so genannten „Shabiha“ mit Messern und Schwertern wie Monster in Richtung des Platzes rennen sah, der nur 500 Meter von dem Café entfernt war.

Mein Vater kam eine Weile später zurück und erzählte mir mit Panik in den Augen, dass einige meiner Freunde und auch mein Freund verhaftet worden seien und mehrere Menschen mit Messern und Schwertern niedergemetzelt wurden.

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2012 Damaskus – Syrien. Ich stehe auf dem Dach des Gebäudes, wo meine Freunde leben, in einem der reichen Viertel von Damaskus, das von sehr Nahem einen Blick auf eins der armen Viertel von Damaskus bietet. Meine Freunde plaudern und lachen drinnen, während ich mit meinem belgischen Freund telefoniere, der zwei Monate zuvor von Belgien nach Jordanien gezogen ist, um so nah wie möglich an Syrien zu sein, nachdem er gehört hatte, dass ich in Damaskus verhaftet worden war.

Mitte 2012 war eine der ersten kritischen Phasen in der Geschichte der syrischen Revolution, es gab viele Mordanschläge und Explosionen, wir dachten alle, das Assad-Regime würde bald stürzen.

Am Telefon bittet mein Freund mich inständig, Syrien zu verlassen. „Ich möchte nicht, dass meine Freundin an diesem schrecklichen Ort ist, dieses Mal haben sie dich noch laufen gelassen, aber keiner weiß, was beim nächsten Mal ist“, sagt er. Ich höre ihm weiter wortlos zu und starre einem Hubschrauber hinterher, der über meinem Kopf auf das arme Viertel zuröhrt, er sinkt tiefer und tiefer Richtung Boden, es ist das erste Mal, dass ich einen Hubschrauber aus so großer Nähe und so laut erlebe. Der Hubschrauber hält sekundenlang inne, dann bombardiert er das arme Viertel mit irgendetwas.

Ich unterbreche meinen Freund am anderen Ende der Leitung und sage weinend: „Das Regime wird bald stürzen, ich will nicht weggehen, ich will hier sein und mit meinem Volk feiern, wenn es soweit ist.“

 

 

Kathrin Reikowski, Afraa Batous, Silke Kleemann (v.l.) © Verena Kathrein

 

2016 Beirut – Libanon. In Filmen oder Romanen habe ich oft gehört oder gelesen: „Er oder sie hatte keine Ahnung, dass dieser Tag sein oder ihr Leben für immer verändern würde“. Ich wusste nicht, dass genau das mir ein paar Stunden später passieren würde, nachdem ich eine der Botschaften aufgesucht hatte, um mein erstes Visum aller Zeiten für Europa zu bekommen. Es sollte eigentlich ein ganz normaler heißer libanesischer Sommertag sein, an dem ich zur Botschaft ging und entweder eine Ab- oder eine Zusage für einen kurzen Besuch in Europa bekommen würde, um dann wieder zu meinem normalen Alltag im Libanon zurückzukehren.

Ich erfuhr genau einen Tag vor meiner Reise nach Europa, dass ich das Visum bekomme. Ich nahm meinen Pass mit dem 5-Tage-Visum entgegen und ging nach Hause, um meinen Koffer zu packen und einen Flug zu buchen. Mein Freund war zu Hause, er steckte seit einem Jahr im Libanon fest, weil seine syrischen Papiere von der libanesischen Sicherheitspolizei weggenommen und bis zu diesem Zeitpunkt nicht zurückgegeben worden waren. Er war überglücklich, als er erfuhr, dass ich das Visum bekommen hatte, während ich völlig neutral war.

Meine Familie, die ich seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, rief an und beglückwünschte mich zu dem Visum. Sie baten, ich solle nie wieder in den Libanon zurückkehren, wenn ich einmal weg war. Ich antwortete: „Ich möchte dort nicht bleiben, es ist nur ein kurzer Besuch, und ich möchte zurückkommen zu meinem Leben hier und zu meinen Katzen“. Zum ersten Mal im Leben wurde mein Vater richtig wütend auf mich, er sagte: „Wenn du in den Libanon zurückkommst, rede ich nie wieder ein Wort mit dir, du hast eine Zukunft, der du hinterherrennen solltest, anstatt weiter hier herumzurennen, um immer wieder, seit du Syrien verlassen hast, deine Aufenthaltserlaubnis zu regeln“.

Mein Vater hatte noch nie mit mir über irgendeine Entscheidung meines Lebens diskutiert, trotzdem nahm ich seine Worte nicht ernst. Ich packte weiter ganz in Ruhe meine Sachen und dachte immer noch, dass es nur ein kleiner Besuch sein würde und er später verstehen würde, warum ich nicht in Europa bleiben wollte.

Um neun Uhr abends, nach diesem langen Tag voller Vorbereitungen, zog mein Freund mich neben sich und sagte, er wolle mit mir reden. Ich hatte das Gefühl, dass ich gleich einige der härtesten Worte meines Lebens hören würde.

Er hält meine Hand und sagt: „Was wirst du machen?“

Ich antworte: „Was meinst du damit, was machen?“

Er antwortet: „Komm nicht zurück, alle sagen, dass du dort bleiben sollst und dass du dumm bist, wenn du zurückkommst.“

Ich breche zusammen und sage unter Tränen: „Ich möchte dich nicht hier allein zurücklassen, ich möchte meine Katzen nicht verlassen, ich kann das nicht.“

Er lächelt, dann sagt er: „Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um die Katzen und werde sie zu dir schicken. Komm nicht zurück, wenigstens einer von uns muss überleben ...“

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Mein Name ist Afraa Batous, ich weiß nicht, wo ich herkomme, ich weiß nicht, wo ich hingehen werde. Und ich möchte diese Aussage im Wörterbuch der Menschheit aussterben sehen.

 

Übersetzung: Silke Kleemann

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Das Festival war eine gemeinsame Veranstaltung der Monacensia im Hildebrandhaus und WIR MACHEN DAS. In Zusammenarbeit mit der Allianz Kulturstiftung und der Stiftung :do. Mit Unterstützung durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München und das Literaturportal Bayern.