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04.12.2025, 16:30 Uhr
Gunna Wendt
Text & Debatte

Zum 150. Geburtstag: Rainer Maria Rilke in München

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Rainer Maria Rilke im Jahr 1897

Rainer Maria Rilke (eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke; 1875-1926), österreichischer Dichter und Autor der literarischen Moderne, prägte mit seiner Lyrik und Prosa die Literatur des 20. Jahrhunderts maßgeblich. Seine Hauptwerke umfassen u.a. die Lyrikbände Das Stunden-Buch (1905), die Duineser Elegien und Die Sonette an Orpheus (beide 1923) sowie Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), seinen einzigen Roman. Heute, am 4. Dezember, wäre Rainer Maria Rilke 150 Jahre alt geworden. Über seine Zeit in und um München schreibt für uns die Münchner Autorin Gunna Wendt

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„Ich mag gar nicht mehr ausgehen“, schrieb Rainer Maria Rilke am Abend des 9. Juni 1897 an Lou Andreas-Salomé. „Ich will nicht zu den Menschen reden, damit ich den Nachklang Deiner Worte, der wie ein Schmelz über den meinen zittert und ihren Klang reich macht, nicht verschwende, und ich will nach der Abendsonne kein Licht mehr sehen um am Feuer Deiner Augen tausend leise Opfer zu entzünden.“ Da kannten sie sich noch keinen Monat, der 21-jährige Student aus Prag und die 36-jährige Autorin und Kosmopolitin aus St. Petersburg. René Maria Rilke war im September 1896 nach München gekommen, um dort sein Philosophiestudium fortzusetzen. Er wohnte in der Blütenstraße und gab die Literaturzeitschrift Wegwarten heraus, mit der er „dem Volke“ die „moderne Dichtung“ nahebringen wollte.

Lou Andreas-Salomé lebte damals mit ihrem Mann, dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war, in Schmargendorf bei Berlin. Im Frühjahr 1897 hatte sie, wie fast jedes Jahr um diese Zeit, ihre Mutter und ihre Brüder in ihrer Geburtsstadt St. Petersburg besucht. Anschließend reiste sie nach München und logierte, zusammen mit ihrer Freundin, der Afrikaforscherin Frieda Freiin von Bülow, in den „sogenannten Fürstenhäusern der Schellingstraße“.

„Anlässlich irgendeiner gemeinsamen Theaterverabredung brachte Jakob Wassermann an unsere Plätze einen Freund, den er wünschte vorzustellen: es war René Maria Rilke“ lautet der letzte Satz des Kapitels „Unter Menschen“ aus Lou Andreas-Salomés Lebensrückblick. In ihr Leben getreten war der junge Dichter schon vorher. Er hatte ihr, nachdem er erfahren hatte, dass sie sich in München aufhielt, einige Male Gedichte in die Pension Quistorp gesandt – anonym. Nachdem sie sich persönlich begegnet waren, schrieb er ihr umgehend einen Brief. Lou erkannte die Handschrift sofort wieder. Das Geheimnis des anonymen Poeten war gelüftet.

Ganz im Gegensatz zu dem drängenden Verlangen Rilkes, die Bekanntschaft weiter zu vertiefen, steht Lou Andreas-Salomés abwartende Gleichgültigkeit. Doch Rilke ließ weder sich noch seine Gefühle auf Distanz halten, sondern tat das, was ihm am nächsten lag und am meisten entsprach: Er schrieb ihr, und schon in die ersten Briefe mischten sich Gedichte hinein. In denen war er mutiger, direkter als in seinen an sie persönlich gerichteten Zeilen. Die anonyme, strenge poetische Form erlaubte emotionale Grenzüberschreitungen:

Ich weiß, dass Du aus Einsamkeiten
Dem großen Glücke entgegenschreiten
Und meine Hände finden wirst.

(31. Mai 1897, Montag früh)

Im Gedicht war er sicher, dass sie sich finden würden, im Leben hat er sie am selben Tag vergeblich gesucht. „Ich bin mit ein paar Rosen in der Hand in der Stadt und am Anfange des Englischen Gartens herumgewandert, um Ihnen die Rosen zuschenken. Ja, statt sie an der Tür mit dem goldenen Schlüssel abzugeben, trug ich sie mit mir herum, zitternd vor lauter Willen, Ihnen irgendwo zu begegnen.“

Eine gute Woche liegt zwischen diesem Brief, in dem Rilke seine erfolglosen Spaziergänge als Rosenbote durch München schildert, und dem hymnischen vom 9. Juni, in dem er sie beschwört: „Ich will aufgehen in Dir, wie das Kindergebet im lauten, jauchzenden Morgen, wie die Rakete bei den einsamen Sternen. Ich will keine Träume haben, die Dich nicht kennen, und keine Wünsche, die Du nicht erfüllen willst oder kannst.“ Der Ton hat sich radikal verändert: Aus dem suchenden, abwartenden, vorsichtigen, lässigen Flaneur ist ein drängender, schwärmender, wortgewaltiger Minnesänger geworden.

Was war in der Zwischenzeit geschehen? Das Werben des Dichters war plötzlich gewaltsam und unerwartet von außen gestört worden durch ein Schreiben der k.u.k Militärbehörde. Rilke erhielt den Befehl, sich umgehend in Böhmisch-Leipa bei Prag zur Musterung einzufinden, damit über seine Militärdiensttauglichkeit entschieden werden konnte. In diesem Moment gab Lou Andreas-Salomé ihre Zurückhaltung auf und eröffnete ihm die Möglichkeit einer gemeinsamen nahen Zukunft: Bevor er Richtung Prag aufbrach, fuhr sie mit ihm zwei Tage aufs Land, in die Umgebung des Starnberger Sees, um sich nach einer geeigneten Wohnung oder einem kleinen Haus umzusehen, in dem sie den Sommer verbringen würden, wenn Rilke nicht eingezogen werden sollte. Sie finden ein geeignetes Domizil in Wolfratshausen und nannten es „Loufried“.

Am 3. Juni reiste Rilke frühmorgens nach Prag, hinterließ ihr seine dortige Adresse und telegrafierte ihr am nächsten Tag, nachdem er aus gesundheitlichen Gründen für dienstuntauglich erklärt worden war: „Frei und bald auch froh.“ Zurück in München setzte er sein schwärmerisches Bemühen um die Zuneigung der angebeteten Frau fort, so als habe es keine Unterbrechung gegeben. In seinen vielsagenden poetischen Pfingstgrüßen heißt es: „Ich habs noch keinen Mai empfunden / Wie voll die Welt ertönen kann.“ Er nennt sie eine große Revolutionärin, erinnert in seinem nächsten Brief an den „Märchenmorgen“ vor einer Woche, spricht von den gemeinsamen Inselstunden. 

In Lous Andreas-Salomés Lebensrückblick klingen die Begebenheiten der ersten Junitage 1987 viel undramatischer, beinahe lakonisch: „Nun währte es gar nicht mehr lange, bis René Maria Rilke zum Rainer geworden war. Er und ich begaben uns auf die Suche nach etwas Gebirgsnahem draußen; wechselten, hinausziehend, in Wolfratshausen auch noch mal unser Häuschen.“ Mit Rilkes frühen Gedichten konnte sie wenig anfangen, doch sie erkannte schon ihre Entwicklungsmöglichkeiten, das ungeheure Potenzial, das in ihnen steckte. Noch war es zwar verdeckt von Pathos und „Gefühlsüberschuss“, doch sie war sicher, er würde sich davon befreien. Rilke war auf einem vielversprechenden Weg, auf einem eigenen, nicht an Vorbildern orientierten, sondern immer in sich selbst hineinhorchend. „Dem noch nicht Vollendbaren musste ‚Sentimentalität‘ aushelfen“, diagnostizierte sie in ihrem Lebensrückblick. Sie wertete diese Attitüde als reines Hilfsmittel und hatte Geduld: Über kurz oder lang würde er soweit sein, darauf verzichten zu können. Dabei würde sie ihm helfen.

Rilke verstand ihre Vorbehalte gegen seine Lyrik, fühlte sich dadurch nicht einmal angegriffen oder beleidigt, denn er wusste selbst, dass er noch nicht dort angekommen war, wo er hinwollte. Noch bevor er in seiner „Militär-Angelegenheit“ nach Prag reiste, am frühen Morgen des 3. Juni 1897, kündigt er ihr „Sehnsuchtslieder“ an. „Und die werden dann auch wie früher immer in meinen Briefen klingen, manchmal laut und manchmal heimlich, dass nur Du sie ahnen kannst … Sie werden jedenfalls aber anders sein – wie bisher, diese Lieder. Denn ich hab' der Sehnsucht neben mir in die Augen geschaut, und sie führt mich an sicherer Hand. Ich kann leiser werden in jedem Wort.“ Im selben Brief wechselt er vom vertrauten Du wieder zum distanzierteren Sie, als er ihr dafür dankt, ihm den Satz „Ich bin so einfach“ zur Verfügung gestellt zu haben. „Dieser Spruch soll der Schlüssel meiner Geheimschrift sein.“ Sie werde dann jeden flüchtigen Gedanken, jeden Wunsch, jeden Traum, der in seinen Worten verhüllt ist, erkennen.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie den Dichter erkennt – in all seinen Dimensionen. Im Nachtrag zu ihrem Lebensrückblick unter dem Titel „April, unser Monat, Rainer“ spricht sie Rilke direkt an und erinnert ihn daran, dass sie seiner frühen Lyrik „trotz ihrer Musikalität, kein Verständnis entgegenbrachte“. Nicht sie sprach ihm damals Trost zu, sondern er übernahm diese Rolle und versicherte ihr, er werde es einmal so einfach sagen, dass sie es verstehen würde. Und er sollte in allem, was seine Kunst betraf, Recht behalten. Sechs Jahre später, im November 1903, blickte er auf diese frühe Zeit mit Befriedigung zurück: „Die Welt verlor das Wolkige für mich, dieses fließende Sich-Formen und Sich-Aufgeben, das meiner ersten Verse Art und Armut war.“ Langsam und schwer habe er eine Einfachheit und eine Schlichtheit gelernt und sei daran gereift. „Reif von Schlichtem zu sagen“, sei von Anfang an sein Ziel gewesen, „der Überschwenglichkeit zu entstreben“.

Doch es gab bereits ein Gedicht, das anders war als alle anderen: einfach – direkt – ohne Umschreibungen, ohne Attribute, ohne Kulissen, ohne Statisterie. Pur – wie ein schnörkelloser Gesang. Seiner Wahrheit konnte die unbeeinflussbare Frau nicht widerstehen. Es habe eine einzige Ausnahme gegeben, gestand sie, „auch bei an mich gerichteter Lyrik – als Du das Blatt in mein Zimmer legtest. Da war es wieder der Fall, dass ich, freilich sonder Vers und Rhythmus, wiederum Dir das gleiche hätte sagen können. Und raunte es denn nicht in uns Beiden gemeinsam vom Unfassbaren, das wir bis in den Wurzelgrund der Leiblichkeit erlebt – ‚auf unserem Blute trugen‘, – bis in die geringsten, bis in die geweihtesten Augenblicke unseres Daseins?“

Das taten schon die ersten Zeilen: 

Lösch mir die Augen aus: ich kann Dich sehn
Wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören
Und ohne Fuß noch kann ich zu Dir gehn
Und ohne Mund noch kann ich Dich beschwören.

Lou Andreas-Salomé spürte, dass es sich bei diesem Gedicht, das sie eines Tages im Haus Loufried in ihrem Zimmer fand, um ein Kunstwerk handelte, das nicht ihr allein gehörte, auch wenn es nur durch die Liebe zu ihr entstehen konnte. „Auf meine Fürbitte hin hat diese Dichtung deshalb Raum gefunden im Jahre spätern Stundenbuch, erklärt sie in ihrem Lebensrückblick.