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07.10.2025, 12:48 Uhr
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12. Ichenhausener Synagogengespräch: Klaus Wolf spricht mit Ludwig Spaenle

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Dr. Ludwig Spaenle (l.) und Prof. Klaus Wolf im Gespräch. Foto: Klaus Wolf

Seit 2022 finden in der ehemaligen Synagoge in Ichenhausen, heute ein Museum und Haus der Begegnung, die Ichenhausener Synagogengespräche statt. Die Gespräche haben, ähnlich wie die Reihe der deutsch-jüdischen Gespräche des Literaturportal Bayerns, das Ziel, „von jüdischen Werten ausgehend aktuelle Debatten mit Strahlkraft in die Gesellschaft [zu] tragen, nicht zuletzt angesichts eines immer lauter werdenden Antisemitismus“. Angestoßen wurden sie von dem Schriftsteller, Journalisten, Politologen und Historiker Dr. Rafael Seligmann gemeinsam mit Prof. Dr. Klaus Wolf, Germanist und Lehrprofessor für bayerische Literatur an der Universität Augsburg sowie Vorsitzender der Stiftung zum Erhalt der einstigen Synagoge. Die Gespräche finden vierteljährlich mit prominenten Gästen statt. 

Das zwölfte Gespräch führte Klaus Wolf am 26. Juni 2025 mit Dr. Ludwig Spaenle, dem Beauftragten der bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. 

*

KLAUS WOLF: Herr Spaenle, lassen Sie uns mit Ihrem Familiennamen beginnen. Dürfen sich die Ichenhausener freuen, dass Sie herkunftsmäßig eigentlich ein Schwabe sind? Aber geboren sind Sie ja in München... 

LUDWIG SPAENLE: Ja, das stimmt. Geografisch ist es hoffentlich nicht zu nah bei den Ichenhausenern, weil väterlicherseits meine Familie aus der Umgebung von Gundelfingen an der Donau stammt. Das ist die klassische Arbeitsmigration im späten 19. Jahrhundert, die dann meinen Urgroßvater nach München gebracht hat. 

WOLF: Vielen Dank, das wussten die meisten nicht, glaube ich. Ja, und Sie haben ja auch [neben Geschichte] katholische Theologie studiert, das verbindet uns beide im Übrigen. Inwiefern hilft Ihnen das Theologiestudium in Ihrer jetzigen Tätigkeit? 

SPAENLE: Vielleicht insofern, dass ich dadurch Dinge etwas tiefer erschlossen habe, als man es sonst getan hätte. Es war eine Fächerkombination, die an der Uni München eigentlich gar nicht zulässig war, die nur mit einer Sondergenehmigung einherging. Es war dieses „Abstützen“; Theologie war vor allem keine Geschichte. Und ich habe damals begonnen, Hebräisch zu lernen, konnte es auch lesen. Was mich wirklich ärgert – dass ich in der Zwischenzeit sogar das Lesen verlernt habe. Aber durch häufige Israelaufenthalte beginnt es wieder zurückzukommen. 

WOLF: Ja, promoviert haben Sie aber, wenn ich es recht sehe, in Bayerischer Landesgeschichte. In Ihrer Arbeit geht es um das historische Verhältnis von Bayern zu Griechenland. Das ist ja auch das Thema der aktuellen Landesausstellung in Regensburg [„Ludwig I. – Bayerns größter König?“; Ergänzungen in eckigen Klammern, auch im Folgenden: Anm. d. Red.], bei deren Eröffnung wir uns Anfang Mai auch begegnet sind. Damit sind wir jetzt schon bei meiner konkreten Frage: Wie beurteilen Sie als Fachmann König Ludwig I. in seinem Verhältnis zur griechischen Kultur und zum Judentum? 

SPAENLE: Haben Sie Zeit? 

WOLF: Ja. Deswegen sind wir da. (lacht)

SPAENLE: Also Ludwig I. ist sicher, wie die Frage ja in Regensburg lautet, der größte bayerische König. Er hat letztlich das, was sein Vater und Graf Montgelas geschaffen haben, zusammengeführt. Er hat eine geschichtspolitische Strategie gehabt und genau gewusst, dass Heimat, dass das Wissen, woher man kommt, eine enorme Kraft besitzt. Wenn Sie in den bayerischen, oder auch fränkischen, schwäbischen Metropolen unterwegs sind, werden Sie überall z.B. Statuen von wichtigen Menschen, historischen Persönlichkeiten aus der jeweiligen Gegend sehen, die alle von Ludwig I. gestiftet wurden, um diese Identität in der neuen Staatlichkeit Bayerns und diese regionale Beheimatung im neuen Staatswesen zu unterstützen. 

Griechenland ist ein Faible von ihm gewesen. Er hat sich da wirklich ins Geschichtsbuch eingetragen, und Bayern überhaupt, was viel zu wenig wahrgenommen wird. Das nennt man heutzutage „Nation Building“. Dieses junge Griechenland hat ja nicht existiert. Es war 500 Jahre lang Teil des Osmanischen Reiches und hat sich dann freigekämpft. Und es waren bayerische Beamte, Montgelassche Beamte, die dann begonnen haben, in Griechenland „Staat zu machen“, im wahrsten Sinne des Wortes. Kürzlich habe ich eine Anzeige entdeckt, worin ein junger Braumeister gesucht wurde, der „zum Erhalt der Kampfkraft unserer Truppen“ mit nach Griechenland gehen sollte – den kennen Sie wahrscheinlich, wenn Sie Griechenland kennen. Dieser junge Braumeister wurde schließlich gefunden, er hieß [Johann Karl] „Fix“. Der hat dann eine Griechin geheiratet, eine Brauerei gegründet, die erste Großbrauerei Griechenlands, die Brauerei Fix. Und das gibt es jetzt wieder, das Fix-Bier. Das ist der nachhaltigste Beitrag Bayerns zur griechischen Staatlichkeit und zur griechischen Wirklichkeit, wenn ich das so sagen darf. 

Das Verhältnis zum Judentum war eher freundlich distanziert. Ludwig hat die Judenpolitik seines Vaters, wenn man so will, fortgeführt. Das Bayerische Judenedikt von 1813 – die entscheidende Neugestaltung der rechtlichen Lebenssituation für die Juden in Bayern, die jüdischen Familien – hat er fortgeführt, aber nicht weiterentwickelt. Er hat auch die jüdischen Matrikeln nicht aufgehoben: diese ganz schwierige Situation, dass für jeden Ort in Bayern festgelegt worden war, wieviel jüdische Familien dort leben durften. Auf der einen Seite also ein wirklicher Schritt nach vorne, was die Partizipation für Jüdinnen und Juden angeht, ein Schritt zur nicht vollständigen, staatsbürgerlichen Teilhabe. Auf der anderen Seite hat er das Judenedikt nicht verändert. Es war ihm sicher geistig-intellektuell nahe, aber kein Schwerpunkt seiner politischen Arbeit. 

WOLF: Habe ich Sie richtig verstanden, Sie würden das Fragezeichen der Landesausstellung streichen? Er war Bayerns größter König...

SPAENLE: Ja, eindeutig. Ludwig ist angetreten mit dem, was man einen Generalplan nennt. In Kultur, in Geschichte, in Kunst, aber was viel zu wenig wahrgenommen wird, auch in Wirtschaft und Infrastruktur. Wenn Sie heute durch die Landschaft fahren, dann sehen Sie viele Bahnhöfe, wenn sie nicht abgerissen worden sind, die im klassischen Stil entwickelt wurden. Das modernste Verkehrsmittel wurde eingesetzt. Ludwig ist mit einem ganzheitlichen Plan für sein Land angetreten, war persönlich wohl eher unangenehm, aber das ist bei Großen manchmal so. 

WOLF: Gut, vielen Dank. Neben Ihrer Prägung als Theologe und Landeshistoriker, waren Sie auch als Journalist tätig. Und wenn ich es richtig gelesen habe, arbeiteten Sie als DJ bei Radio Charivari. Später waren Sie auch beim Bayerischen Rundfunk tätig. Wäre der Journalismus neben der Politik auch eine Berufsperspektive für Sie gewesen? 

SPAENLE: Nun, was macht man als Geisteswissenschaftler? Ich hatte wirklich das Glück gehabt, zum Bayerischen Rundfunk zu kommen. Ich war in der Kirchenredaktion, wo ich als junger Redakteur schon mit dem jüdischen Kosmos beauftragt wurde, also jüdische Themen zu machen. Und das wäre sicher der Weg gewesen, klar. Aber dann, wie es halt so kommt, wurden die Weichen anders gestellt…

WOLF: Ihre Homepage beim Bayerischen Landtag nennt eine mehrjährige Tätigkeit als Arbeiter bei der Deutschen Bahn. Haben Sie im wahrsten Sinne des Wortes Weichen gestellt? 

SPAENLE: Geschmiert, nicht gestellt. Das stimmt. Das war von 1978 bis zu meiner Festanstellung beim Bayerischen Rundfunk. Arbeit bei der Deutschen Bundesbahn am Münchner Ostbahnhof am Autoreisezug. Erstens hieß es, Geld zu verdienen. Zweitens war es eine interessante Erfahrung, das dürfen Sie mir glauben. Wenn Sie Ihr Geld mit Ihrer Hände Arbeit verdienen und sehen, was das für ein harter Job ist für junge Menschen, die das hauptberuflich machen. Das war eine interessante und wichtige Zeit. 

WOLF: Welche Politikerinnen und Politiker haben Sie besonders beeindruckt oder waren Ihre Vorbilder? 

SPAENLE: Wer mich natürlich nachhaltig beeindruckt hat, war Franz Josef Strauß, ganz dramatisch. Auch Helmut Kohl, Vater der Deutschen Einheit, mit allen Stärken und Schwächen. Hans-Jochen Vogel, in seinen späten Tagen hatte ich ein sehr persönliches Verhältnis zu ihm entwickelt. Auch Willi Brandt, die großen Kanzler... Ich will aber eine weitere Persönlichkeit nennen, die ich in diese Reihe stelle. Das ist Fritz Bauer, der Generalstaatsanwalt in Frankfurt, der den Auschwitz-Prozess ins Werk gesetzt hat. Gegen alle Widerstände. Er war Sozialdemokrat, Jude, homosexuell. Bauer konnte fliehen, kam nach dem Zweiten Weltkrieg zurück und durchbrach gegen alle Widerstände diese „Omerta“, dieses kollektive Wegschweigen der Verantwortung, eben mit dem großen Auschwitz-Prozess Anfang der 60er-Jahre. Ich habe ihn deshalb auch für die Aufnahme in die Walhalla vorgeschlagen. Bauer halte ich für eine der Persönlichkeiten, die in diese Reihe der ganz Großen dieser frühen Republik gehören. 

WOLF: Hier in Schwaben ist es für Sie vielleicht eine pikante Frage, aber ich stelle sie trotzdem und Sie müssen auch nicht antworten: Sehen Sie sich als „Stoiberianer“ oder „Waigelianer“? 

SPAENLE: Das ist eigentlich kein Gegensatz. Klingt irgendwie komisch, aber ist so. Also ich bin Stoiberianer natürlich. Wir sind die Generation Stoiber, das heißt wir, die Gruppe, die 1994 in den Landtag gekommen ist. Der Ministerpräsident, der jetzige an der Spitze, Ilse Aigner, viele andere. Aber natürlich ist Theo Waigel mit seiner intellektuellen Brillanz, auch mit seinem Elefanten-Gedächtnis, schon eine Persönlichkeit, die vor allem in der Wendezeit der Bundesrepublik Enormes geleistet hat. 

WOLF: Vielen Dank. Als langjähriger Staatsminister waren Sie einerseits für Unterricht und Kultus sowie andererseits für Wissenschaft und Kunst zuständig. Welches der beiden Ressorts oder Teilressorts hat Ihnen mehr Freude gemacht? 

SPAENLE: Erfüllend waren beide. Die große Herausforderung ist natürlich immer Schulpolitik, aber wissenschaftliches Gestalten, das Privileg, ein bisschen auch Kunstpolitik zu machen, war ein besonderes Privileg. Das ist eine Gnade, dass man an diesem Momentum in einem solchen Land wie dem Freistaat Bayern ein Stück weit mitgestalten konnte. Der Föderalismus als das System, der humansten Form, um Politik zu gestalten, weil er nah am Menschen ist, weil die Menschen mit Identitäten unterwegs sind. Deswegen ist es auch falsch zu sagen, die Ossis sind nicht so wie die Wessis. Das würden wir in Bayern uns nicht gefallen lassen, auch die Schwaben nicht, dass sie so sein wollen wie die Münchner. Das ist einer der schweren Fehler nach der Deutschen Einheit gewesen. Aber dass diese politische Handlungsfähigkeit der Regionen und der Länder so da ist und auch von Bayern natürlich stark genutzt wird, das ist etwas, was für dieses Land schon ein Segen ist. 

WOLF: Als „homo politicus“ sind Sie auch als Staatsminister a.D. noch heute in der Münchener Stadtpolitik, aber auch in der gesamtbayerischen Politik überaus aktiv. Da ich Sie auf Facebook und Instagram intensiv verfolge und am meisten like, fallen mir immer wieder Ihre pointierten und prägnanten Stellungnahmen gerade zur Tagespolitik auf. Sind Sie ein Politikjunkie?

SPAENLE: Ja, wahrscheinlich. Alles hat seine Zeit. Und das ist gut, wenn man das dann auch wahrnimmt.

WOLF: Eine gute Überleitung zu einer nächsten und nachdenklichen Frage. Das Ende Ihrer Karriere als Staatsminister hat mich persönlich überrascht bis geschockt. Fasziniert hat mich aber, wie Sie in Ihrer neuen Funktion nicht nur bayernweit, sondern mittlerweile bundesweit die Rolle des Antisemitismusbeauftragten und des Beauftragten für Jüdisches Leben in einem ganz weiten Sinne mit Leben und Kraft erfüllt haben. In den USA würde man Persönlichkeiten wie Sie als comeback kid bezeichnen. Woher nehmen Sie persönlich die Kraft und die Motivation für Ihren fulminanten Neustart?

SPAENLE: Das sollen andere beurteilen. Wir stehen in Verantwortung. Im deutschen Namen ist eines der schlimmsten Weltverbrechen begangen worden. Das ist die eine Seite des „Nie wieder!“, also dafür Sorge zu tragen, dass so etwas nie wieder geschehen kann. Das andere ist aber, die Konsequenz daraus zu ziehen, was war, und es übrigens auch nicht zu beschweigen. Und da sind wir beim „Nie wieder!“ nach vorne.

Dieses kollektive Wegschweigen nach dem 8. Mai 1945 ist eine der Belastungen der jungen Bundesrepublik. Es haben alle gewusst, dass jüdische Menschen im NS-Verbrecherstaat Übelstes geschieht, vielleicht nicht die Dimension des industriellen Massenmords in Fabrikanlagen, aber es haben alle gewusst, weil die Juden und Jüdinnen bei helllichtem Tag durch die Städte zu den Bahnhöfen getrieben wurden. Das haben auch alle mitgemacht. Meine Mutter – sie wäre heuer 100 Jahre alt geworden – war eine junge Krankenschwester in Garmisch, in ihrer Nähe wohnte eine Frau Silbertau. Und Frau Silbertau – so hat es dann meine Mutter mir und meinem Bruder erzählt – war dann plötzlich weg und es hieß, sie sei in den Osten gegangen. Das Komische war nur, dass die Frau Silbertau alles dagelassen hatte. Das wurde dann verkauft und die Wohnungen neu belegt. Diesen Vorgang nennt man „Arisierung“. Daran hat sich ein verbrecherischer Staat beliebig bedient, die Finanzämter haben diesen Raub an Gut, an Immobilen, an mobilen Dingen, neben dem Weg in die Gaskammern, der dieses Menschheitsverbrechen darstellt, organisiert. Und es haben Millionen in deutschen Familien davon profitiert. Ich möchte nicht wissen, in wie vielen Geschirrschränken oder Schmuckschatullen heute noch solche Dinge liegen. Es war natürlich auch ein strategisch übler Ansatz des Regimes, dass man Millionen von Deutschen so zu Mittätern gemacht hat. Und das ist der Punkt, diese Verantwortung der jungen Bundesrepublik, dieses Wegschweigen.

Und das Zweite ist die Kontinuität der Karrieren. An der Shoah waren 500.000 Menschen beteiligt, als Täter, als Mörderinnen und Mörder. Nicht nur Deutsche, auch das gehört zur Wahrheit, aber eben der ganz große Teil von ihnen. Es wurden natürlich Prozesse geführt, zuerst von den Siegermächten, dann auch durch die bundesdeutsche Justiz. Mehrere 10.000 wurden verurteilt; auch wieder ein Trauerspiel, wie diese Urteile dann umgesetzt wurden. Das heißt aber eben in der Folge, dass 100.000 Mörderinnen und Mörder waren – ich rede jetzt nicht von 8,5 Mio. Parteimitgliedern der NSDAP, Mitläufern oder Nichtmitläufern. Dass die in dieser jungen Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzen konnten, und zwar bis in die höchsten Ämter. Hier im Schwäbischen muss man den Namen nicht erklären: Hans Filbinger, früherer baden-württembergischer Ministerpräsident, musste zurücktreten, weil er als Marinerichter Justizmord begangen hatte. Mein Vater, unionsnah, regte sein Rücktritt fürchterlich auf, auch ich habe das damals völlig falsch beurteilt. Und so können Sie durch alle Bereiche des Lebens nach 1945 gehen.

Ich sage es nochmal, es geht nicht darum, ein ganzes Volk oder auch 8,5 Mio. Menschen im Bausch und Bogen zu verdammen. Aber es geht um Mörder. Und das ist etwas, wofür wir Verantwortung tragen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, dass wir zum einen jüdischen Menschen in diesem Land das Leben so ermöglichen, wie wir es alle möchten, nämlich ihre Freizügigkeit ausüben zu können. Das Andere ist aber, wo wir heute stehen mit diesem Geschenk des „jüdischen Kosmos“ in unseren Postleitzahlen. Die älteste jüdische Gemeinde, die man bis heute kennt, ist 981 in Regensburg. Rolf Kießling, Landeshistoriker, leider verstorben, hat ein Buch über die „Jüdische Geschichte in Bayern“ vor ein paar Jahren geschrieben. In diesem Buch ist der Weg der jüdischen Menschen mit der Mehrheitsgesellschaft durch die Geschichte von 981 bis heute dargestellt. Aber es liegt eben auch eine zweite Folie darüber. Das ist die Welle der Pogrome durch die Geschichte. Es waren Nachbarn, es waren Freunde, es waren Menschen, die es bis in die Mitte ihres Ortes geschafft hatten. Unternehmer, die sich dort engagierten. Menschen, die in der Feuerwehr waren, in den Vereinen. Und plötzlich, ab 1938 wurden aus Nachbarn plötzlich Feinde. Dem müssen wir uns stellen und dafür Sorge tragen, dass dieser wunderbare Teil des jüdischen Kosmos – Teil unserer Kultur, unserer Identität, auch das Erinnern daran – nie wieder verloren geht.

WOLF: Vor einigen Jahren war der Bundesbeauftragte Felix Klein schon bei uns hier in Ichenhausen. Den hessischen Beauftragten Uwe Becker kenne ich noch persönlich als sehr engagierten Bundesvorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Wie arbeiten Sie konkret mit diesen beiden, in meinen Augen sehr engagierten, Antisemitismusbeauftragten zusammen?

SPAENLE: In Deutschland ist ja alles organisiert. Es gibt eine Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten seit 2019. Das ist die formale Plattform. Genauso wie die Kultusministerkonferenz oder Innenministerkonferenz. Als genuiner Bestandteil wirkt da auch Felix Klein mit. Ich halte die beiden Genannten für ganz herausragende Persönlichkeiten. Gerade auch Uwe Becker, der sich für das jüdische Leben, seine Bedrohtheit, aber auch für den Staat Israel einsetzt. Wenn wir mehr solche Menschen hätten, dann wäre das kein Fehler.

WOLF: Schon Ihr Titel als Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe und Ihre zugehörige Stellenbeschreibung beinhalten ja nicht nur die reine Antisemitismusbekämpfung, sondern mit der Erinnerungskultur auch Gedenkstätten wie etwa das KZ-Außenlager Kaufering oder hier in Schwaben etwa das Waldwerk Kuno. Auch unsere Synagogenstiftung in Ichenhausen hier fällt in Ihren Tätigkeitsbereich. Was würden Sie sich von der Synagogenstiftung Ichenhausen als Unterstützung für Ihr Wirken wünschen?

Ehem. Synagoge Ichenhausen, Innenraum, mit Blick auf Bühne. © Literaturportal Bayern

SPAENLE: Ich wünsche mir gar nichts für mich. Es geht darum, dass dieses jüdische Erbe in der Mitte eines solchen Ortes gepflegt und gewahrt wird, und zwar nicht nur aus historischem Verständnis. Wir haben morgen in Nürnberg eine Landesversammlung von Menschen, die sich ehrenamtlich in diesem Bereich engagieren. Bei einer der ersten dieser Versammlungen hat der Vorsitzende der Nürnberger Gemeinde, Herr Hamburger, gesagt: Das ist ja alles schön, was ihr macht, aber redet nicht nur über die toten Juden, redet mit den lebenden! Genau darum geht es: auf der einen Seite diesen enormen Beitrag der jüdischen Gemeinschaft zu unserer Geschichte und Kultur zu pflegen und zu wahren. Da sind wir auf einem sehr, sehr guten Weg. Wir werden morgen die „Vernetzung zwischen Repression und Kulturarbeit“ vorstellen. Der wehrhafte Rechtsstaat ist ein Teil einer solchen Strategie. Die Demokratie muss sich wehren, wenn Menschen in ihrer Mitte nur aufgrund der Tatsache, dass sie einer bestimmten Glaubensgemeinschaft angehören, im Kern verfolgt werden. Das ist Selbstschutz des Rechtsstaates.

Und auf der anderen Seite geht es darum, Wissen zu vermitteln. Die Vermittlung des Wissens, was jüdische Menschen, Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, aus ihrem religiösen, kulturellen Verständnis hier geleistet haben. An diesem Ort [Ichenhausen] ist es idealtypisch: Es wird bewahrt. Es ist entwickelt worden. Der frühere Bezirkstagspräsident von Schwaben Dr. Georg Simnacher, der auch unter seinem Spitznamen „Schwabenherzog“ bekannt war, hat sich hier sehr verdient gemacht. Viele andere, die das getragen haben, tun das noch heute. Aber es geschieht mehr als das. Hier wird eben mit dem „Lernzirkel Judentum“ etwas gemacht, was landesweit vorbildhaft ist: Natürlich wird auch über Geschichte gesprochen, aber eben auch über das, was das Judentum im Innersten zusammenhält – es wird auch über Israel gesprochen. Deswegen hat es mich fasziniert, dass über 27.000 junge Menschen, Kinder der 4. Schulklassen, mit diesen Inhalten hier „konfrontiert“ worden sind, im besten Sinne des Wortes. Deswegen haben wir auch aus den Erfahrungen, die hier gemacht worden sind, mit dem Dossenberger-Gymnasium Günzburg, eine kleine Handreichung entwickelt, die wir jetzt landesweit verbreiten. Weil es an vielen Orten so etwas gibt wie hier. Wir haben das Erbe des Landjudentums. Wir haben für ganz Bayern diese Möglichkeit, auch mit Ehrenamtlichen – es sind wahrscheinlich tausende, die sich da engagieren – eben diese Dinge in dieser Gesamtverantwortung zu sehen. Insofern kann man hier nur „Danke“ sagen. 

WOLF: Wie viele Kilometer legen Sie im Jahr als Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung zurück? 

SPAENLE: 60 bis 70.000. Ohne Flugkilometer. 

WOLF: Arbeiten Sie auch mit den an Bayern grenzenden Staaten Österreich und Tschechien zusammen? 

SPAENLE: Ja, das fußt noch auf meiner früheren Tätigkeit als Kultusminister – das jährt sich heuer [und 2026] zum zehnten Mal, dass wir am Sudetendeutschen Tag den damaligen Kulturminister der Tschechischen Republik [Daniel Herman] treffen konnten, um dieses erste Kulturabkommen zwischen Tschechien und Bayern abzuschließen. Ein Höhepunkt war dann die gemeinsame Landesausstellung [2023/24], die die Ministerpräsidenten bei dem historischen Besuch des tschechischen Ministerpräsidenten [Petr Fiala] in München beschlossen haben. Mit Österreich sind wir ganz eng in der Abstimmung – was interessant ist, da jetzt auch in der Schweiz begonnen wird, über solche Netzwerkstrukturen nachzudenken. Es gibt aber auch weiter gefasste Dinge. In meiner früheren Funktion mit dem Europaabgeordneten, dem früheren Präsidenten der Paneuropa-Union, Bernd Posselt, konnten wir ein Abkommen zwischen dem Freistaat Bayern und dem Europäischen Parlament abschließen, das den Schüler- und Kulturaustausch privilegiert vorantreibt. Im Elsass kann man wie nirgendwo sonst, wie in einem Brennglas, die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in ihrem Guten und in ihrem Schlechten sehen. Es gab ein KZ in den Vogesen, es gibt Museen, die die gemeinsame Geschichte von 1870/71 bis heute aufrollen. Das sind Akzente, die auch Internationalität bedeuten. Und es hat natürlich mit Israel zu tun, mit Yad Vashem. Wir haben vor einigen Jahren schon ein Abkommen geschlossen, das die direkte Zusammenarbeit mit dem Freistaat Bayern verstärkt. Also die internationale Dimension ist gegeben. Und es geht auch nicht ohne – insbesondere mit Israel ist es wichtig, dass man zusammenarbeitet.

WOLF: Als Wissenschaftsminister waren Sie viele Jahre für die Universitäten im Freistaat Bayern zuständig. Was ist Ihre Beobachtung bezüglich der Antisemitismusproblematik an bayerischen Hochschulen im Vergleich etwa zu Berlin? Und haben die neuen Bundesländer zumindest an den Universitäten ein größeres Antisemitismusproblem?

SPAENLE: Wir müssen die Welt in die Zeit vor dem 7. Oktober 2023 und in den terminus postquam eng unterscheiden. Das Leben für jüdische Menschen in diesem Land hat sich nach dem 7. Oktober dramatisch geändert. In diesem Land werden wieder Juden verfolgt. Über die Situation, die Regierung in Israel, das Verhalten der israelischen Armee in Gaza, können wir vielleicht noch sprechen. Es geht mir aber im Kern um Folgendes: Man kann Israel kritisieren, darf und kann man. Was aber nicht geht – und dieser Rubikon ist überschritten und macht mir Sorge –, dass Antisemitismus inzwischen von der Mitte der Gesellschaft ausgeht. Es gab schon immer die Rechten, es gab die Linken, es gab die Verschwörungstheorien, es gab die Islamisten. Jetzt aber werden deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens, wenn sie als solche identifiziert werden, in politische Geiselhaft genommen und angegriffen: „Ihr Juden, Ihr Judenschweine seid schuld an den Kindermorden in Gaza.“ Und das geht nicht. Das haben wir 1933-1945 gehabt. Und das ist neu, in dieser Qualität. Das macht mir wirklich Sorge. Da werden Menschen in ihrem Privatleben angegriffen, Bekanntschaften gekappt, sie werden in ihren Berufen behindert, auch an Hochschulen, sie werden isoliert, noch stärker, angegriffen. Und man traut sich wieder zu sagen: „Wir haben es ja gewusst, dass es der Jude ist!“ Das ist die Formulierung, auf die wir seit dem 7. Oktober und den sich beschleunigenden, schwierigen und schrecklichen Ereignissen im Nahen Osten blicken. 

Eine besondere Rolle dabei spielen die Universitäten. In München war es ein Camp, das ging zunächst auch in Ordnung. Es gibt diesen Spruch von „Free Palestine“: „From the River to the Sea“. Diese Formel wird inzwischen in Bayern strafrechtlich verfolgt, weil damit die Vernichtung des Staates Israel ausgedrückt wird; die ersten Gerichte sind dem auch schon gefolgt. Wie sich dieses Camp da allerdings etabliert hat vor der Münchner Universität, sind plötzlich Aufkleber bzw. Flugblätter aufgetaucht mit „Free Palestine“ – nicht „From the River to the Sea“, sondern „From Columbia to Munich“! Also von einer der großen liberalen Universitäten der amerikanischen Ostküste, mit denen sich auch deutsche Hochschulen sehr stark identifizieren, ihre Teilhabe, ihre intellektuellen Potenziale damit auch in Verbindung gewusst haben. Und von diesen Hochschulen geht das mit ganz wesentlich aus, dass jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende, angegriffen und attackiert werden, weil sie Juden sind. Egal, ob es amerikanische Staatsbürger, israelische oder deutsche sind.

WOLF: Also mein Eindruck ist schon, dass das in Ostdeutschland gravierender ist als bei uns in Bayern... 

SPAENLE: Also wir haben es auch in Bayern, und ich bin sehr dankbar, dass die bayerischen Universitäten und alle Hochschulen sich diesem Thema stellen mit Beauftragten. Es ist Gott sei Dank anders, nicht so wie in Berlin oder an anderen Orten, aber wachsam bleiben muss man trotzdem. Weil an den Universitäten Meinungsbilder entstanden sind, die eher ausgehen von den Geisteswissenschaften, die ich so nicht mehr erwartet hätte. 

WOLF: Vielleicht ein kleines Fünkchen der Hoffnung: Wir haben in Augsburg das Zertifikat „Jüdische Studien“. Das machen vor allem Lehramtsstudierende. Und wir haben eigentlich auch am 7. Oktober nicht gemerkt, dass das zurückgeht, im Gegenteil. Es gibt sehr viele junge Leute, die da bewusst einsteigen und das Zertifikat erwerben. Das gibt mir eigentlich schon Hoffnung. 

SPAENLE: Das will ich ausdrücklich unterstreichen. Es gibt so etwas Vergleichbares an der Uni Würzburg. Und ähnliche Dinge: Menschen, die hier Verantwortung übernehmen und das auch im Bereich der Akademie tun, das erkennen und sich da mit Gesicht zeigen.

WOLF: Den 7. Oktober haben Sie schon genannt und Sie sprechen ja viel mit den Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Sitzen Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober wieder mehr auf gepackten Koffern? 

SPAENLE: Das ist im freien Fall. Wir haben 13 Millionen Einwohner in Bayern, etwa 15.000 bis 18.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger, 13 jüdische Gemeinden, zwei liberale. Für die ist nix mehr wie vorher. Für die ist es die Hölle. Es geht den Gemeinden, den Einzelnen, den Sportvereinen so, überall. Es gehen welche, andere sind gekommen, weil sie aus Israel nach dem 7. Oktober raus wollten. Die sind zum Teil wieder zurück, weil sie diese Veränderung hier, diesen offen vorgetragenen Judenhass, nicht mehr ertragen. Ich sage es nochmal, das hat nichts damit zu tun, dass man das, was in Israel geschieht – politisch, militärisch – nicht kritisieren soll, kann und darf. Diese Täter-Opfer-Umkehr nennt man sekundären Antisemitismus, nach dem Motto: „Man darf in Deutschland seine Meinung nicht sagen, über diesen Verbrecher Netanjahu, weil wir müssen ja die Klappe halten wegen der Shoah.“ Man kann, muss und soll Israel kritisieren. Und es wird wahrscheinlich so sein, dass Kriegsverbrechen begangen werden. Ich halte auch diese Regierung – nicht das Kriegskabinett –, sondern die sehr rechts-außen-orientierte Regierung, mit politischen Extremisten bestückt, für ein Unglück für Israel. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich plötzlich sage, Israel ist in seiner Staatlichkeit nicht existent. „Die Israelis begehen Genozid“ – ich glaub, ich spinne! Der frühere Landesbischof dieses Landes, Heinrich Bedford-Strohm, hat einen Beschluss des Ökumenischen Weltkongresses mitgetragen, der Israel als „Apartheidstaat“ qualifiziert. Ich war dreimal in Israel seit dem 7. Oktober und habe zwei Kibbuzim um dieses Gelände, wo mehrere hundert junge Menschen abgeschlachtet worden sind, besucht. Und wenn Sie das hören, was da war, dieser totale Terror. Entfesselte Gewalt, sexualisierte Gewalt gegen Frauen! Ich habe Menschen getroffen, die Menschen gerettet haben. Das ist der Urgrund dessen, was passiert. Und da muss sich Israel wehren! Dass diese Regierung möglicherweise damit politische Ziele verbindet, die wir nicht teilen können, ist die andere Seite. Aber diese Kritik, die über ein bestimmtes, auch noch so hartes Maß hinausgeht, ist Judenhass pur. Und das ist der Punkt, von dem wir auch die Menschen bei uns warnen müssen. Man kann sagen: „Netanjahu ist aus meiner Sicht ein politischer Verbrecher.“ Aber wenn man sagt: „Diese Juden sind jetzt wieder so weit, wie damals die Nazis in Auschwitz.“ Dann ist das ein Teil dieser Strategie, diese tödlich-giftige Mixtur, was das Ganze so gefährlich macht.

WOLF: In Ihrem Alltag sind Sie ja auch viel mit Hass, Hetze, antisemitischen Schmierereien und völkischer Propaganda konfrontiert. Das stelle ich mir als dauerhaften Input doch sehr belastend vor. Wie werden Sie, aber auch Ihre Frau, die ja häufig mit Ihnen unterwegs ist, mit dieser Welle des Negativen fertig?

SPAENLE: Das gehört dazu. Das ist auch völlig wurscht, wie wir damit fertig werden. Es geht darum, wie die jüdischen Menschen in diesem Land damit umgehen. Es begegnen hier zwei Phänomene. Es kommen Menschen auf Dich zu, nicht nur auf Veranstaltungen, sondern wo halt man gerade erkannt wird, die sagen, die Arbeit, die ich da mache, ist sehr wichtig usw. Also sehr positiv. Und dann passiert das Gegenteil: Es gibt Menschen, die haben eine Logorrhö zu erklären, warum ich das überhaupt mache, und fragen: „Spaenle, bist Du jetzt ein Judenknecht?“ Dann kommt diese ganze Litanei: Völkermord, Genozid, Apartheid. Es ist spannend, dass es Menschen gibt, die das Bedürfnis haben, das loszuwerden. Und zwar nicht nur Menschen wie Du und ich. Es gibt keinen Bereich unseres Landes, in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, wo diese zweite Gruppe nicht auch aktiv unterwegs ist. Und das ist etwas, das hat mich doch sehr überrascht. 

WOLF: Über den Landesverein für Heimatpflege wollen Sie jüdische Erinnerungsorte in Bayern sinnvollerweise zu einer koordinierten Zusammenarbeit motivieren. Das scheint mir auch für unsere Synagogenstiftung hier in Ichenhausen sinnvoll. Was sind Ihre konkreten Pläne?

SPAENLE: Da sind wir Gott sei Dank schon relativ weit. Ein Ergebnis ist morgen das fünfte Treffen landesweit für Menschen, die sich sehr stark lokal engagieren, so wie hier, was ich nicht weiter erklären muss. Nicht nur auf jüdische Themen konzentriert, sondern unter diesem Dach wird ja breiteste Kulturarbeit geleistet, um diese Menschen zu unterstützen. Es muss auch nicht zwischen Hof und Lindau alles neu erfunden werden. Das Weitere ist natürlich, diesen Austausch zu pflegen. Das ist der starke Eigenwert, dass man sich um jüdische Kultur, Tradition, Erbe kümmert – um solche Orte, um Inhalte, wie Sie das hier ja vorbildhaft tun. Diese Vernetzung ist wichtig, dass man diesen Menschen auch den Rücken stärkt. Weil es lange Zeit auch anders war, als man sagte: „Lasst uns mit dem Judenscheiß in Ruh‘.“ So und so viele Synagogen haben den Krieg überstanden, sind zu Garagen gemacht oder abgerissen worden, Judenfriedhöfe haben wir, lasst uns in Ruh‘ mit dem Blödsinn. Da drehe ich die Hand zwischen meiner Partei und anderen nicht um. Auch in der Kommunalpolitik – nur Vergessen und Verdrängen. Die Schwaben waren die Ersten, die das geändert haben. Der damalige Bezirkstagspräsident Dr. Georg Simnacher und auch viele Landräte, bis in die Orte hinein, die begonnen haben umzudenken: „Das ist Teil unseres Erbes, das ist Teil unserer Geschichte.“ Nicht die Juden – und wir. Und das ist eigentlich der positivste Umschwung, den es gibt, dieses „Wieder-Hereinnehmen“ dieses Teils der gemeinsamen Vergangenheit und damit auch der Verantwortung. 

Darüber hinaus gibt es handwerkliche Dinge, von Beratungsfragen angefangen. Der Bayerische Landtag hat eben eine erhebliche Summe zur Verfügung gestellt, dass wir fünf Jahre eine solche Netzwerkarbeit mit einer Profikraft machen können. Und diese Geschäftsstelle mit der Kollegin, die früher bei mir war, ist angesiedelt beim Heimatverein für Landespflege. Der Landesverein ist zu einem engagierten Mitstreiter geworden – mehr noch: Der Landesverein hat einen Gedanken, den nicht ich erfunden habe, aber den ich für Bayern und auch auf Bundesebene öffentlich mit vorantreibe, nämlich ein Staatsziel „Schutz jüdischen Lebens und Bekämpfung von Antisemitismus oder Rassismus“ in die Verfassung aufzunehmen. Das hat sich der Landesverein zu eigen gemacht, was mich wirklich überrascht hat. Ein hohes Ziel in Bayern, zumal eine Verfassungsänderung nicht nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Landtag verbunden ist, sondern eben auch mit einer Volksabstimmung. Also da haben sich zwei gefunden, wenn man so will. 

WOLF: Da wünsche ich viel Erfolg für diese Initiative, die ich persönlich auch unterstützen würde. – Herr Dr. Josef Schuster war 2023 hier auf Ihrem Platz zu Gast bei Dr. Rafael Seligmann für ein sehr gutes Gespräch. Wie oft telefonieren Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit mit Herrn Dr. Schuster? 

SPAENLE: Das ist ereignisabhängig. Mal länger, mal nicht. Also man läuft sich ja ständig über den Weg. Es geht Gott sei Dank alles sehr schnell. 

WOLF: Also eine enge Beziehung? 

SPAENLE: Würde ich schon sagen. Von meiner Seite, ja. Aber das gilt für Frau Charlotte Knobloch ebenfalls wie für München. Wir haben ja 13 jüdische Gemeinden. Und ich bin eigentlich nur auf Tour. Ich versuche, jede Gemeinde einmal im Jahr zu besuchen. Das klingt jetzt wenig, aber man muss das auch alles leisten können. Jede Gemeinde ist anders, hat andere Situationen. Diese Ombudsmann-Funktion ist eigentlich die Hauptaufgabe, dass man für jüdische Menschen, für jeden, aber eben auch für die jüdischen Gemeinden, ansprechbar ist. Da geht es um ganz banale Dinge, wie Zuschüsse für die Sanierung von irgendetwas, aber auch natürlich die Sicherheitsanforderungen, einfach die Angst der Menschen. Sie müssen wissen, 90 Prozent dessen, was das Judentum in Deutschland ausmacht, ist nach 1990 aus den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion zu uns gekommen. Die ältere Generation kennt das doch, in einer so bedrängten Situation zu leben. Und wenn Sie dann das erste Gespräch führen: „Wie geht es Ihnen?“, kommt als Antwort: „Wunderbar, alles gut.“ Also dieses Vorschieben. Dann musst Du Dir die Zeit nehmen, das aufzubrechen.

WOLF: Die AfD ist trotz anderslautender Lippenbekenntnisse eine antisemitische Partei, würde man sagen. Wie stehen Sie zum Parteiverbot der AfD? 

SPAENLE: Das halte ich für völlig sinnlos. Die Hürden sind enorm hoch. Es sind in der Bundesrepublik nur zwei Parteien verboten worden. Die eine war eine unmittelbare Nachfolgeorganisation der NSDAP, die „Sozialistische Reichspartei“, und die andere war die alte KPD. Ich halte ein Verbot für falsch. Wir haben drei Gewalten (vier, wenn wir die Medien dazunehmen), und mit einer Gewalt wird dann in eine andere hineinregiert. Natürlich muss Verfassungsgerichtssprechung auch Politik korrigieren können, aber es geht ja in der öffentlichen Wahrnehmung nicht so einher, dass man sagt, diese Partei ist so oder so. Ich glaube nicht, dass man die Frage, ob ein Teil unserer Bevölkerung sich mit diesem demokratischen System nicht mehr einverstanden erklärt und extrem gefährliche Meinungen zu den ihren macht, dass man dieses politische Denken damit beseitigen kann, wenn man die Organisation verbietet. Umgekehrt: Die AfD ist eine undemokratische, das liberale, demokratische, repräsentative System im Kern abschaffen wollende, radikale, inhumane, antisemitische Partei. Also das heißt, eine Ansammlung von inhumanen Gedanken, wenn man sie mal so nennen will, die das Wertegefüge unserer zweiten Demokratie zerstören will, die wir uns selber nicht erkämpft haben und die mit Millionen Leben alliierter Soldaten bezahlt worden ist, übrigens auch aus der Sowjetunion. Und diese zweite Chance haben wir gut genutzt. Aber es geht im Kern um die Verteidigung dieser zweiten Demokratie im Innersten. Deswegen ist die politische Abrechnung dieser Kraft so enorm wichtig.

WOLF: Noch eine politische Frage. Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in der Knesset von der „Sicherheit des Staates Israel als deutscher Staatsraison“. Wie ist dieser Satz heute im Angesicht der Bedrohung Israels durch den Iran konkret auszulegen?

SPAENLE: Da habe ich natürlich das Glück, dass ich kein Jurist bin. Ich glaube, dass viele diesen Satz aufgegriffen und im besten Sinne weitergetragen haben. Man muss sich dessen klar sein, was er bedeutet: Schaffen von Sicherheit nach innen und nach außen. Und deswegen ist das Einstehen der Bundesrepublik Deutschland für den Staat Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, auch weit über die historische Dimension der gemeinsamen Geschichte und Verantwortung hinaus etwas, was zum Elementaren für dieses Land gehört. Das heißt aber nach innen wie nach außen: Sicherheit herstellen, Sicherheit geben. Es bedeutet nicht kritiklos sein. Das ist der entscheidende Punkt. Also wenn man z.B. auf die Idee kommen will, Waffenlieferungen an Israel auszusetzen. Soweit ich weiß, haben wir in der Luftabwehr außer Pfeil und Bogen im Moment wenig. Wir haben für einen enormen Milliardenbetrag hochfunktionstüchtige Luftabwehrsysteme in Israel begonnen zu kaufen. Wenn die Israelis das aussetzen, was machen wir dann? Deswegen ist es so wichtig, dass wir da genau hinschauen.

Es gehört zu unserer politischen Kernagenda, dass diese Solidarität mit Israel besteht. Dass die – wo auch immer möglich – geübt wird. Das ist ein sehr schwieriger Grad. Das sehen wir jetzt auch in der neuen Bundesregierung. Bei mancher Formulierung. Beim Abstimmungsverhalten der UNO und bei ähnlichen Fragen. Zum Beispiel ist heute vom Bundeskanzler verhindert worden, dass im Europäischen Rat eine bestimmte Beurteilung Israels mehrheitsfähig wurde. Auf der anderen Seite, ich sage es nochmal, hat es nichts damit zu tun, dass man kritiklos gegenüber der israelischen Regierung sein muss. Sie ist demokratisch gewählt. Übrigens wird die härteste Kritik auf den Straßen Israels an dieser Regierung geübt. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Manchmal wird das vergessen oder bewusst beiseitegelegt. 

WOLF: Nach diesen eher schwergewichtigen Themen zum Schluss noch einige Fragen, die uns vielleicht den Menschen Ludwig Spaenle noch näherbringen. Welche Pläne haben Sie für Ihren Ruhestand?

SPAENLE: Schaun wir mal. 

WOLF: Was machen Sie in Ihrer Freizeit, wenn Sie nicht bayernweit als Beauftragter unterwegs sind oder sich demnächst wieder im Münchner Kommunalwahlkampf engagieren?

SPAENLE: Das letztere ist Gott sei Dank durch. Ich habe vierzig Jahre lang plakatiert, das können jetzt Jüngere machen. Meine Frau und ich sind große Fans der Alten Musik und sind da europaweit enorm unterwegs. Das ist ganz wichtig. Dann die Geschichte. Also da fügt sich etwas schön zusammen.

WOLF: Was ist Ihre Lieblingslektüre in der bayerischen Literaturgeschichte? Diese Frage stelle ich deshalb, weil ich eine Bayerische Literaturgeschichte im Verlag C.H. Beck geschrieben habe. Das war jetzt der Werbeblock. (lacht)

SPAENLE: Die hinten auf den Tischen liegt… (lacht) – Es sind drei Sachen. Wenn man Bayern verstehen will, dann muss man den Erfolg von Lion Feuchtwanger lesen. Nach wie vor, das ist ein Schlüsselroman. Die „Bewohner der bayerischen Hochebene“, der Ur-Bayer, ist sagenhaft. Das zweite ist eine bayerische Geschichte von Carl Amery [Leb wohl, geliebtes Volk der Bayern]. Ein wortgewaltiger, von heiligem Zorn erfüllter Autor zu Bavarica, die vieles kritisch einordnen. Und das dritte: Ich bin ein Fan historischer Romane, die sind manchmal gut, manchmal schlecht, da gibt es viele auch mit Bayernbezug. Darunter sind einfach spannende Geschichten. So ein Anfang eines historischen Romans über Bayern und Griechenland liegt bei mir schon seit Jahrzehnten in der Schublade, ich komme aber nicht recht vorwärts. Das sind so die drei Sachen.

WOLF: Aber das ist auch eine Perspektive.

SPAENLE: Ja, genau.

 

Peter Czoik transkribierte das Gespräch für das Literaturportal Bayern.