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04.07.2025, 13:35 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

Über das Gehenlernen, ein Wegkreuz und eine Wegzehrung bei Harald Grill

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Foto: Erika Grill

Die 159. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Wege. Peter Czoik über den ostbayerischen Schriftsteller Harald Grill, der sich das Gehenlernen auf seine persönlichen wie dichterischen Fahnen geschrieben hat.

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Gehenlernen

Hochzeit im Dunkeln (1995) heißt eine Erzählung von Harald Grill, in der der 1951 im niederbayerischen Hengersberg geborene, seit 1978 in Wald bei Cham lebende Autor autobiografisch vom kriegsversehrten Vater und dessen Heimkehr, aber mehr noch von dessen schmerzvollem Ringen mit sich selbst erzählt. Da ist einer, der als Invalide durchs Leben humpelt, für den das Gehen weder Befreiung noch Erweiterung seiner Wahrnehmung ist, sondern lediglich Schmerz: »Und der Heimweg wollte nicht enden für ihn. Mit den Krücken kämpfend, versuchte er schneller zu gehen, versuchte richtige Schritte zu setzen, aber das wollte nicht hinhauen. Er kam ins Stolpern, ging wieder langsamer, murmelte Unverständliches vor sich hin.« gehen lernen. Roman in Geschichten (2010) ist denn auch nach zwei Fotowanderungen durch den Oberpfälzer bzw. Bayerischen Wald das Prosawerk betitelt, in dem Grill (s)eine Kindheit in den 1950er- und 1960er-Jahren erkundet, aber auch das Gehenlernen in der Sprache, sei es als Schriftsprache, Dialekt, Latein oder Englisch, thematisiert. Zwei gewaltige Wanderungen, einmal vom Nordkap nach Regensburg, ein andermal von Syrakus nach Regensburg, münden bereits 2000/01 in Grills Projekt Zweimal heimgehen – Gehenlernen in Form des Immer-wieder-Heimgehens. Und 2015 bricht der Autor erneut wandernd zu einer Balkanreise auf, um ein Vierteljahr lang dem Lauf der Donau durch Rumänien und Bulgarien bis nach Odessa zu folgen.

Wegkreuz

Anlässlich einer Wanderung mit seiner Frau Erika um den Bodensee zwischen Lindau und Friedrichshafen schreibt Harald Grill das Gedicht »Wegkreiz« (erschienen in: Bairische Gedichte, 2003). Das Wegkreuz erinnert ihn an die Wegkreuze seiner Heimatgegend nördlich der Donau im Vorwald und ruft in ihm den Drang hervor, die Erinnerung an den dort tödlich verunglückten 20-jährigen Bundeswehrsoldaten – anders als in den schnelllebigen Zeitungsmeldungen – dichterisch festzuhalten. Das Gedicht enthält nur drei Strophen und beginnt mit den Worten: »vor a poar joahr im mai / hat a se darennt / an dera stell«. Es benennt kein bestimmtes Subjekt, woran sich der Leser orientieren könnte, sondern abstrahiert von dem realen Autounfall (»hat a se darennt«). Dadurch gewinnt es an substanzieller Gültigkeit und lenkt den Blick auf Höherstehendes. Indem es die Bedeutung des Ortes hervorhebt (»an dera stell«), unterstreicht das Gedicht einerseits seinen Anlass (zu schnelles Fahren, dabei zu Tode kommen), andererseits wird mit der Überschrift »Wegkreiz« eine thematische Stoßrichtung vorgegeben, die darin besteht, dass der am Kreuz vorübergehende Wanderer seinen Schritt verlangsamen und für einen Moment innehalten soll.

»Viatorische Texte«, so Gerd Holzheimer in seiner 1999 erschienenen Dissertation Wanderer Mensch. Studien zu einer Poetik des Gehens in der Literatur, »stellen ein Material zur Verfügung, mit dem Wahrnehmung neu organisiert werden kann: im Versuch, aus kindlicher Perspektive eine Neugierde auf unverbildete Entdeckung offenzuhalten. Auf diese Weise können gleichzeitig Bindungen wiederentdeckt werden, die verloren schienen.« Eine solche unverbildete Entdeckung macht der Sprecher in der zweiten Strophe, wenn er nicht vorübergeht am Tod und Echte Schlüsselblumen entdeckt, die dem Toten zum Gedächtnis – aber auch den Lebenden zum Erschließen einer anderen Wirklichkeit – ans Kreuz gestellt werden: »und allerweil wieder / um de zeit / stehngan do im senfglasl / frische himmlschlüssal«.

Im Volksglauben galt die Schlüsselblume lange Zeit als Schutz- und Fruchtbarkeitsmittel; der Name »Himmel(s)schlüssel« verweist auf die Blume als Symbolpflanze für den Apostel Petrus, dem die Schlüssel des Himmelreichs von Jesus versprochen werden (Mt 16,19). In der ursprünglichen Fassung der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach (BWV 245, 1724) wird die Pflanze einmal religiös kontextualisiert: »Betrachte, meine Seel’, mit ängstlichem Vergnügen, / mit bittrer Lust und halb beklemmtem Herzen / dein höchstes Gut in Jesu Schmerzen, / wie dir auf Dornen, so ihn stechen, / die Himmelsschlüsselblumen blüh’n! / Du kannst viel süße Frucht / von seiner Wermut brechen, / drum sieh ohn’ Unterlass auf ihn!«

Bild von Alice Alphabet auf Pixabay

In Grills Gedicht spielt es keine Rolle, ob der Mensch religiös ist oder nicht. Wichtiger erscheint eine Sinngebung in der Welt wiederzuentdecken, die eine uralte ist, weil der Mensch in ihr umhergehen kann. Damit kehrt er zu seinem eigenen nomadischen Ursprung zurück, und es findet eine undogmatische »Resakralisierung« eben dieser Welt statt – »in einem scheinbar unbegrenzten Fortschreiten, das nirwanahafte Züge annehmen kann, in der Beschwörung eines Gehsegens«, so Holzheimer. Dieses Fortschreiten ist ein anderes als das, welches der verunglückte Autofahrer mit der Beschleunigung seines Schritttempos erfahren hat:

»aber eahm / hat da zündschlüssl glangt / zum aafsperrn vom himml«. Der Geschwindigkeitsrausch, der alles außen herum vergessen lässt, öffnet durchaus viele Türen, aber nicht solche zum hiesigen Leben. Das Leben in seiner richtigen Geschwindigkeit zu begreifen, darauf macht Grills Gedicht nicht zuletzt aufmerksam. In Die Pausen zwischen den Worten. Dichter über ihre Gedichte (1986) formuliert es der Autor so: »Sicherlich braucht das Gedicht ebenso wie das Wegkreuz den Menschen, der die Augen öffnet und sich Zeit nimmt fürs Leben und Schauen.« Und weiter:

»Wer in den Himmel will, fährt mit dem Auto hinein. Den Zündschlüssel haben wir jeden Tag in der Hand, das Leben auch.«

Wegzehrung

Gehenlernen bei Harald Grill bedeutet zudem, sich lohnende Ziele zu setzen, auch wenn der Weg dafür noch gar nicht geebnet worden ist. Der heutige Mensch tendiert jedoch dazu, es sich lieber erst bequem zu machen und den Weg als eigentliches Hindernis – und nicht als Bereicherung – im Leben zu begreifen. So verhält es sich jedenfalls, wenn man sein Gedicht »wegweiser« liest (erschienen in: wegzehrung. gedichte, 1988): »moore und sümpfe / legen wir trocken // erschlossen / werden unsere wege / bequem und bequemer // überall hin / trockenen fußes / und fast mühelos // wohin nur / lohnt es sich jetzt noch / zu gehen«.

»Überall hin« reicht die Richtungslosigkeit des Menschen, »überall hin« strebt er, weil ihm nichts verschlossen bleibt. Nur verliert er dabei das erstrebenswerte Ziel aus den Augen. Ein weiteres Gedicht ist mit dem ähnlich viatorischen Titel wanderung überschrieben. Darin gibt Grill eine Vorstellung von dem, was er »wegzehrung« nennt und wofür auch seine Gedichte des gleichnamigen Titelbandes stehen können: »der felsen / eine birne // eine kleine tote fichte / der stiel // das ist unsere / wegzehrung«. Hier wird das Ziel gleichsam wieder zurückgenommen, sofern man den Gipfel des Felsens als mögliche Zielmarke definiert. Denn satt vom dürren Stiel, um im Bild zu bleiben, wird man davon nicht, eher gerinnt einem der zu überwindende Felsen zur köstlich süßen Nahrung. Die Wegzehrung ist für Grill eben eine solche, die sich immer erst mit dem Gehen erschließen lässt: »Er [Grill] sucht das Neue, Andere, Weite, er braucht den Himmel. Und er mag die Überschaubarkeit, das einfache Wegzeichen auf der Strecke, damit es weitergehen kann.« (Werner Schrüfer)